Was meine ich mit Zeit?

«Wieder ein neues Jahr, wie die Zeit doch vergeht», hört man sich oder andere das Klischee sagen. Grund und Anlass, sich erneut zu fragen, was Zeit eigentlich ist.


Uhr an der Außenwand der Heilig-Geist-Kirche, Tallinn. (Quelle: Pk2000/Wikimedia Commons.)

Wie in fast allen Büchern über Zeit und Zeitlichkeit lohnt es sich, mit Augustinus zu beginnen. Mit seinen Bekenntnissen, diesem ersten Zeugnis einer Lebensrückschau, eines zeitlichen Zugriffs auf das eigene Leben. «Quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio», schreibt er darin. Was die Zeit sei, wisse man nur, solange man nicht über sie nachdenke. Sobald man über Zeit nachsinnt, wird sie zum Rätsel. So ist das Vergangene nicht mehr, das Kommende noch nicht und die Gegenwart ist bloß ein Moment, ein Punkt ohne Ausdehnung. Ist Zeit also nichts? Dem entgegnet Augustinus, dass es mit jeder Erinnerung die Gegenwart des Vergangenen und mit jeder Hoffnung, jeder Sorge die Gegenwart des Zukünftigen gebe. Mit dem eigentlichen Jetzt kommen so drei Gegenwarten zustande. Zeit, das sei das Maß der Veränderung, erklärt Aristoteles. Deshalb beschleunigt sich die Zeit, wenn die Natur ein Stück Land ergreift, erst ein, dann zwei, dann vier und acht Sprosse. Das gilt auch in der Technik, wenn ein neuer und wieder ein neuer Speicherchip entwickelt wird. Natur und Technik lassen die Zeit galoppieren, während die Seele erwacht und reift, wenn die Zeit im Tritt innehält – nach der Blattentwicklung die Pflanze den Sprung zur Blüte macht. Wo also die Seele sich entfaltet, antwortet die Zeit mit Langsamkeit, wo es das Leben ist, da gewinnt sie Fahrt. Und für das Ich? Man wird zum Fisch, der aus dem Wasser zu springen vermag.

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare