Warum ich nicht fortziehe

Clement Vincent arbeitet seit 30 Jahren mit der Landbevölkerung Südindiens zusammen, als Gründer von Muhil – Bewegung für allgemeine Gesundheitsintegration und Befreiung. Er ist katholischer Priester und Verantwortlicher der biodynamischen Assoziation in Indien.


Spiritualität erinnert uns an Kirche und Gott, doch wenn wir jenseits dieser Bilder schauen, dann ist sie eine globale Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die mich mein ganzes Leben begleitet. Als katholischer Priester teile ich nur mit drei Prozent der indischen Bevölkerung den Glauben, doch in allen Kulturen, geht es doch um den Umgang mit den Elementen der Erde, vom Boden bis zum Feuer, und all diese Elemente haben eine kosmische Seite. Der Physiker Stephen Hawking fragt in seinem Buch ‹The Grand Design› nach dem Willen im Kosmos. Im Kosmos gibt es dabei zwei Prinzipien: Eines ist die Unsterblichkeit, das andere die Ewigkeit, und von beiden ist in allen Religionen die Rede. In Indien sprechen wir von der kosmischen Energie ‹Shakti›. Wir tragen diese Kraft in uns und um uns. Sie ist der Boden der Spiritualität und die weibliche ewige Kraft im Kosmos. Die Wirklichkeit dieser Kraft und ihre Dynamiken sind es, mit denen wir in der biodynamischen Landwirtschaft umgehen. Die männliche Seite dieser Kraft ist der Gott ‹Shiva›. Was man in Europa ‹Anima› nennt, die Seele, dem entspricht in Indien ‹Atma›, sie ist die kosmische Kraft, die in allem Leben individualisiert ist. Wir bauen unsere Umgebung, unsere Gesellschaft aus diesen Seelenkräften auf. In der biodynamischen Landwirtschaft teilen wir diese Kräfte und sie werden zu einer gemeinsamen Kraft, zu ‹people power›, zur Menschenkraft, die nicht gleichzusetzen ist mit einer politischen Kraft. Diese Kraft bringt uns weiter, gemeinsam. In der Klimakrise müssen wir zusammen unternehmen.

Bei Muhil haben wir begonnen, mit Heilkräutern, speziell Gräsern, für die Gesundheit zu arbeiten. Wir haben es gemeinsam entwickelt und damit den Boden gerettet. Die Idee dahinter ist, uns von innen heraus zu verlebendigen. Wir müssen Frieden im Innern und auch um uns schaffen. Es ist eine innere Ruhe, aber auch eine dynamische Bewegung.

Foto: Xue Li

Auch wenn die Klimakrise global ist, müssen wir im Lokalen mildern. Es braucht ein Gleichgewicht zwischen Mikro- und Makrokosmos. Die Betätigung in der Landwirtschaft muss jedem helfen, sich zu ernähren, wenn auch nur in kleinen Parzellen. Das hat mit Spiritualität zu tun: Wo bin ich, wer bin ich, mit wem lebe ich, wohin gehe ich am Ende meines Lebens? Unsere Realität ist, dass die Geistigkeit unsterblich und ewig ist und es erlaubt, das Leben dynamisch anzupacken. Die Spiritualität wird zur Wirklichkeit, wenn wir sie zur Wirklichkeit machen.

Lebenskontinuum

Wir stehen in dem großen kosmischen Feld, und doch geht es darum, dass ich im Hier und Jetzt und an dem Ort handle, wo ich bin. Wo ich lebe, ist es sehr trocken. Die Menschen fragen mich, warum ich nicht umziehe und an einen Ort gehe, wo der Boden besser ist. Ich kann wegziehen, aber den Boden kann ich nicht verschieben. Wir leben dort, wo wir uns befinden, und das machen wir zu unserem Heim. Wir müssen die Natur mit einbeziehen und sie befreien. Wie nutzen wir da unsere Menschenkraft gut? Wenn man an einem Wasserfall lebt, kann man Wasserkraft nutzen. Wenn Millionen Menschen um mich sind, muss man die Macht der ‹people power› anerkennen. Wir brauchen keine Traktoren, sondern müssen die Menschen hier beschäftigen und zusammenführen, ihre Energie gemeinsam verstärken. Spirituelle Kraft nutzt man, wenn man etwas tut, was für alle Menschen da ist. Man muss die Dinge sagen, sodass sie bedeutsam werden, sodass sie weiter gesagt werden. Ich bringe Menschen zusammen, die voneinander lernen und miteinander teilen möchten. So kommen wir in eine neue Zukunft. Das wird zu einem Erlebnis für junge Menschen.

Wir brauchen keine Traktoren, sondern müssen die Menschen hier zusammenführen, ihre Energie gemeinsam verstärken.

Wenn ich mehr und mehr authentisch Mensch bin, bewege ich mich von der materiellen zur geistigen Welt. Was ich identifiziere als ‹Ich bin›, liegt in einem Kontinuum. Der göttliche Geist wird zum menschlichen Geist. Der Ort dafür ist die Umwelt, und mein Verhältnis zu Gott ist sozial, ökologisch und geistig. Die Unterbrechung des Kontinuums durch die Pandemie ist global. Alles ist zum Stillstand gebracht. Wir sind geschichtlich eine wichtige Generation. Wir müssen sehr verantwortungsvoll sein, wie wir neu anfangen. Wir sind aufgefordert, eine neue Geschichte zu entwickeln, eine neue Zukunft zu gestalten – vor allem die jungen Menschen.

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare