Vom Genius Loci lernen

Aonghus Gordon ist Gründer und geschäftsführender Vorsitzender von Ruskin Mill, einem Netzwerk von Schulen, Fachhochschulen, Lebens- und Forschungszentren in Großbritannien, die mit Menschen mit besonderem Förderbedarf arbeiten. Vor Kurzem wurde er für seine Arbeit im Bereich der Sonderpädagogik mit dem Verdienstorden ‹Order of the British Empire› und der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Er sprach mit Charles Cross über praktische Fähigkeiten, Aktionsforschung und den Geist eines Ortes. Das Interview fand auf dem Forum ‹Führung im Wandel› des World Social Initiative Forum statt, das im Juli von Ruskin Mill veranstaltet wurde.


Die Arbeit mit der Töpferei war für dich der Einstieg, um das Handwerk als therapeutisches Mittel zu erkennen. Wie sahen die ersten Jahre der Erforschung dieses Zusammenhangs aus?

Aonghus Gordon Schon in jungen Jahren habe ich mich dafür interessiert, von den praktischen Gesetzmäßigkeiten der Materialien zu lernen. Ich habe festgestellt, dass es bestimmte Materialien gab, mit denen ich zurechtkam, und andere, mit denen ich das nicht konnte. Ich empfand die Holzarbeit als besonders kompliziert und herausfordernd, während ich beim Ton das Gefühl hatte, dass ich bis zu einem gewissen Grad damit umgehen konnte, bis mich der Ton wieder in die Zone der Unzulänglichkeit zurückbrachte. Es ist nicht leicht, sich dem zu stellen. Der Satz ‹Die materielle Welt lügt nicht› wurde für mich bedeutsam. Ich wurde dann gebeten, eine Lehrtätigkeit mit Jugendlichen zu übernehmen, die nicht bereit waren zu lernen und die alle möglichen Mittel entwickelt hatten, um sich dem Lernen zu entziehen – Verhaltensweisen, erfinderische Sabotage und das Aushandeln von sozialen Codes und Gesetzen. Ich fand es sehr faszinierend, dass ich als Lehrer damals nicht wirklich in der Lage war, mit ihrer Entfremdung vom Lernen umzugehen, aber in der handwerklichen Arbeit konnte ich damit umgehen. Diese jungen Menschen konnten sich an der Tat erfreuen, die Welt um sie herum zu verändern. Anfangs hatten sie nicht die Fertigkeiten, die Dinge zu ändern – wir alle müssen lernen, Dinge richtig zu ändern, und wenn wir das tun, werden wir nicht nur mehr geschätzt, sondern es kostet uns auch weniger Mühe, wir machen Fortschritte und das Leben wird leichter.

Die Anwendung eines Materials, um Jugendlichen zu einem neuen Selbstverständnis zu verhelfen, wurde für mich von großem Interesse. Daraufhin habe ich einen Ausbildungskurs in einer spezialisierten Rudolf-Steiner-Schule eingerichtet. Ich hatte mich dazu bereit erklärt, vorausgesetzt, ich hätte völlige Autonomie über die Finanzen und den Lehrplan. Erstaunlicherweise habe ich sie bekommen. Ich konnte meine Autorität und mein Verständnis auf die Probe stellen – und meine Fähigkeit, mit den jungen Menschen zu verhandeln, um ihnen zu helfen, in einen Lehrplan hineinzukommen. Und ich hatte sehr wenige Probleme mit Disziplin und Abwesenheit. Für sie war es ein erlösendes Erlebnis, denn bis dahin hatten sie in der Schule nur herumgealbert. So entstand diese neue Abteilung innerhalb der Schule, die sich ‹Lehrgang Lebendige Erde› nannte. Sie arbeitete mit der Biodynamik, mit dem Einzelhandel und mit einem Café-Service. In gewisser Weise wurden in der ersten Woche alle Grundlagen dessen gelegt, was wir heute als therapeutische Ausbildung in praktischen Fähigkeiten bezeichnen.

Aonghus Gordon hält eine Rede auf der Veranstaltung ‹Breaking Ground› in Sunfield.

Wie haben sich die Schülerinnen und Schülern im Umgang mit dem Material verändert?

Ich beschäftige mich mit nichts, das nicht eine Frage hat, und so basierte die erste Zeit sehr stark auf Aktionsforschung und der Frage: ‹Was macht diese Aktivität mit mir?› Die Frage wurde zu einer Umkehrung – nicht: ‹Was mache ich mit der Welt?›, sondern: ‹Wie prägt mich die Welt?› und: ‹Wie komme ich in die Konstitution eines Schülers hinein, sodass wir ihn von innen heraus wachsen lassen?› Es begann auch mit der Frage: ‹Wie vermeide ich es, ein Imperialist zu sein?› Imperialismus ist für mich als Engländer sehr problematisch. Die Schwierigkeit mit einigen Aspekten der Anthroposophie ist, dass sie nicht im Genius Loci verankert ist. Das ist die Nation, aber noch mehr der Ort – die Örtlichkeit, in der die Aktivität stattfindet. Wenn wir eine internationale Architekturordnung haben, die aber nicht auf den jeweiligen Kontext eingeht, ist das ein Problem. Das Wesen eines Ortes muss ausstrahlen. Wenn ich die Prinzipien, die ich bei Ruskin Mill gelernt habe, an einem neuen Ort anwende, mache ich ein ‹goetheanistisch-wissenschaftliches Audit› (Audit auf Deutsch: Inspektion, Prüfung), wie ich es nenne. Das Audit prüft das Wesen der Mineralien, des Wassers, der Botanik, der Biologie und der menschlichen Geschichte des Ortes. Und im Zuge dieses Audits finde ich den Lehrplan. Der Lehrplan entsteht aus dem Ortsbewusstsein heraus, und er ist ortsspezifisch.

Meine Verantwortung besteht dann darin, den Lehrplan zu prüfen und zu sehen, ob die Aktivitäten, die aus diesem Genius Loci hervorgehen, die therapeutischen Ergebnisse liefern, die ich messen muss – weil wir ziemlich viel staatliches Geld bekommen – und die ich gerne messe. Denn die Ergebnisse werden allgemein bekannt und validieren in gewisser Weise die Geisteswissenschaft. Sie sind gut bis hervorragend, und auf dieser Grundlage sind wir durch die Messung gewachsen und wachsen weiter. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht irgendeine Form von Wachstum zu verzeichnen ist. Ich meine Wachstum im geistigen Sinne, indem wir neue Ausbildungskurse entwickeln und sie anerkennen lassen. Wir haben ein Forschungszentrum und müssen die Frage beantworten: ‹Warum tun wir, was wir tun?› Wir können diese Frage auf viele verschiedene Arten beantworten: aus geisteswissenschaftlicher Perspektive, aus finanzieller Sicht, aus einer transformativen Perspektive oder auch in Bezug auf den Bildungs-, Gesundheits- und Betreuungsplan des Schülers oder der Schülerin. Der Schlüssel liegt also darin, die Wissenschaft in unsere spirituelle und therapeutische Arbeit einzubeziehen.

Ist Ruskin Mill ein Ort, an dem Geisteswissenschaft getestet, bewiesen und entwickelt wird?

Ruskin Mill hat zwölf Zentren, vier Schulen, und eine neue Schule ist in Planung. Wir haben sechs Fachhochschulen, zwei Lebenszentren und drei Forschungszentren, die sich alle in verschiedenen Teilen Großbritanniens befinden: Schottland, Wales und England. Es geht um praxisorientierte Forschung und forschungsorientierte Praxis. Die Gaben Rudolf Steiners werden von Meinungen in Einsichten umgewandelt. Wir versuchen, eine Sprache zu finden, die so funktioniert, dass sie inklusiv ist, denn wenn Ruskin Mill seinen Sachverstand im Mainstream beibehalten will, muss es antworten können auf die Frage, wie wir etwas herausgefunden haben. Wir haben acht Promotionen, die derzeit an verschiedenen britischen Universitäten durchgeführt werden, und ich habe keine einzige Universität getroffen, die Steiners Beitrag zu diesem Prozess abgelehnt hätte. Im Gegenteil, wir stoßen auf reges reales Interesse. Es gibt einen sensiblen Bereich, wenn es um seine Ideen zur Evolution geht, was verständlich ist, aber ich bekomme keine ablehnende Reaktion, da wir uns nicht in diesen Bereich hineinbegeben. Und unsere promovierten Dozentinnen und Dozenten werden nicht nur in der Lage sein, unser Masterprogramm durchzuführen, sondern sie werden auch die wichtigsten Doktoranden sein, die unsere neu entstehende, auf dem ‹Ethos des Praktikers› basierende Universität vorantreiben.

Ich interessiere mich also für Praktiker, die ihre Praxis erforschen, und nicht für Akademiker, die Praktiker erforschen. Wenn es darum geht, in der Erwachsenenbildung praktischen Widerstand zu leisten, ist es interessant, wer ihn aufrechterhalten kann und wer nicht. Es ist eine neue Willens- und Handlungsprobe, bei der man sich der unangenehmen Erkenntnis stellen muss, dass man relativ ungeschickt mit den Händen ist. Die Einsicht, die zum Erfolg führt, ist eine geistige Erkenntnis von Rudolf Steiner. Wenn der physische Leib mit dem Ätherleib und der Seele zusammenarbeitet, hat das Ich weniger Hindernisse, in das Wesen und das Schicksal des jungen oder sogar des erwachsenen Menschen zu kommen. An der Übersetzung von Steiners Beschreibung der Geisteswissenschaft in die Umgangssprache sind wir sehr interessiert, weil es der Kern unserer Arbeit ist. Wie befreit man das Ich von einer Beschränkung im Schicksal der jungen Menschen, insbesondere der 14- bis 21-Jährigen?

Ruskin Mill, Blick auf den See

Welche Rolle spielte dabei das Werk von John Ruskin?

Es ging John Ruskin darum, die wirtschaftliche Zerstörung der britischen Gesellschaft durch die Massenproduktion aufzuzeigen. Er folgte William Blakes Vision von ‹dunklen, satanischen Mühlen›. Das Problem war die Arbeitsteilung. Handwerker wurden in Ausbeutungsbetriebe gesetzt, und die Industrialisierung warf sie auf den Müll. Es war ein Stück sozialer Verrat in Großbritannien. Das übrige Europa musste das nicht so ertragen wie die Briten. Jede Nation hat auch einen Genius Loci. Ruskin kam mit dem Unternehmer William Morris zusammen, der Kunst und Handwerk in die Kultur einbrachte. Es gibt viele Skorpione, aber nur wenige Tauben. Ruskin und Morris waren Tauben. Meiner Meinung nach ist Ruskin der angelsächsische Goethe. Er hat den Goetheanismus in seiner Konstitution. Er konnte auf eine transformative und metamorphische Weise denken. Und er schulte andere Menschen darin, auf diese transformative, morphologische Weise zu schauen. Er hatte auch den Einfluss aus Mitteleuropa, von Hegel und dem goetheschen Denken. Das trieb er in das britische Establishment hinein.

Was sind deine Gedanken zum Genius Loci Großbritanniens? Ich kenne die Symbolik von Skorpion, Adlers und Phönix – die Stufen der Transformation, die der Skorpion auf seiner spirituellen Reise durchläuft –, aber nicht die von Skorpion und Taube.

Ich habe den Phönix durch eine Taube ersetzt. Der Grund dafür sind zum Teil die Erkenntnisse von Maria Schindler in ihrem Buch ‹Europe – a cosmic picture› (Europa – ein kosmisches Bild). Die Britinnen und Briten haben die Aufgabe, den Skorpion zu erlösen, durch Mitgefühl. Es geht darum, dem Skorpionstachel entgegenzutreten und ihn außer Kraft zu setzen.

Der NHS (National Health Service – britischer Nationaler Gesundheitsdienst) ist ein Beispiel für frühes transformatives ‹Taubendenken›, auch die britischen assoziativen Gesellschaften, die Genossenschaftsbewegung. Die Fairtrade-Bewegung begann durch einige englische Damen. Sie hatten ein ungutes Gefühl wegen des Tees, den sie um vier Uhr tranken, weil es keine Gesundheitsfürsorge für die Frauen gab, die ihn pflückten. So haben sie diese Bewegung ins Leben gerufen: «Lasst uns 10 Pence pro Packung mehr für den Tee bezahlen und sicherstellen, dass die Teepflückerinnen eine Gesundheitsversorgung bekommen.» Das ist das Mitgefühl der Taube in der Wirtschaft, das stattfinden muss.

Ich habe die handwerklichen Aktivitäten in verschiedenen Projekten geprüft, zum Beispiel die Herstellung eines Messers, eines Löffels oder eines Stücks Glas oder Stoff. Man erlebt die Fähigkeit, Fokus, Auffassungsgabe zu entwickeln. Es ist eine Vorstufe dafür, das Ich in die Konstitution zu bringen, damit man dann in die Welt treten kann. Indem man die materielle Welt gestaltet, gestaltet man sich selbst. Das ist die pädagogische und geistige Therapie. Nimmt man also diese Reihenfolge und beseitigt die Arbeitsteilung, so bleibt ein Löffel übrig, der zeitlos ist. Wenn man einen Löffel herstellt, kalibriert man die Seele, die Form des Inneren des jungen Menschen neu, aber man stellt auch eine Leistung her, die auf Dauer Bestand hat und die jeder teilen kann.

Student von Ruskin Mill Trust bei Holzarbeit

Geht es darum, das Heilige neu mit der Materie zu verweben?

Genau. Zwei Gesetze müssen miteinander verknüpft werden. Da ist zunächst das physikalische Gesetz der Gestaltung der materiellen Welt. Wenn es sich um einen Gegenstand der Verbindlichkeit handelt – und das muss er sein –, gibt es das soziale Gesetz der Rechenschaftspflicht, ob der Gegenstand funktionieren wird. Dies ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Anerkennung. Ich selbst kann nicht behaupten, dass ein von mir gemachter Gegenstand schön ist. Nur die Gesellschaft kann Danke sagen – sich selbst kann man nicht danken, das funktioniert nicht. Das ist die neue Greifbewegung des Skorpions – durch die Bearbeitung des Materials und die Platzierung des Sozialen darin werden die Scheren des Skorpions erlöst und zu den Flügeln der Taube. In meinen Augen ist das Field Centre, in dem wir unsere Forschung durchführen, die Taube, die gerade zu fliegen beginnt, gerade anfängt zu lernen.


Mehr Ruskin Mill Trust

Titelbild Schüler von Ruskin Mill Trust beim Weben
Alle Fotos Mit freundlicher Genehmigung des Ruskin Mill Trust

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare