Utopia

Utopia war die Tochter von Liebe und Freiheit. Sie war ein schönes Kind, zart und stark zugleich. Jahrhunderte hindurch war sie von den Menschen geliebt und gebraucht worden.


Man hatte ihr viele Gewänder gegeben: Die Gerechtigkeit war sie und die Gleichheit, die Wonne des Honigflusses und die geldfreie Insel der goldenen Zukunft, die Sorg- und Leidlosigkeit der tapferen, mutigen, armen, tragenden Menschen.

Sie wurzelte im Wolkenhimmel, der stets die Hoffnung neu gebiert. Von da aus warf sie Bilder, von ihrem Leib gepflückt. Berührten diese einen Menschen, begann er zu träumen und vernahm das Rauschen des Werdens.

Das Ansinnen aber, Utopia in die Wirklichkeit zu zwingen, zersprengte sie in tausend Stücke. Zu fest war ihr die Erde, zu eng das Wort des Einzelnen. Verbrennend die Gier nach Trost und erkaltend die Furcht vor Zukunft. So wurde sie unserm Himmel ausgedorrt. Hat ihre Splitter weit verstreut, mit letzter Macht die Bruchstücke ihrer selbst in unser Fleisch gelegt. Manchmal glitzern aus Menschenaugen die Fragmente ihres Lächelns.

Oder es singt ganz leis’ in einer Höhlung. Fast hört man nichts. Fast glaubt man nicht. Fast siegt der Ohnmacht lautes Geschrei. Doch die ortlose Stimme summt da eine Welt und reinigt unsere Augen von dem Schleier der Realität. «Sucht nicht mehr nach mir im Außen, an keinem fernen Ort, nicht erst nach tausend Leben, nicht jenseits und nicht hinter. Das Hier verwandeln, heißt nur noch, dich selbst umgraben», flüstert das Ungewordene, das unsichtbar uns treibt.


Bild: World Goetheanum Association Forum, September 2021. Foto: Paul Stender

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