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Urteile aus der Studierstube

Leserbriefe von Falk Zientz zu den Artikeln von Andreas Neider und Renatus Derbidge, Goetheanum Nr. 43, 24.10.2019.


Andreas Neider beschreibt in inspirierender und weiterführender Weise Bezüge der Klimakrise zum sozialen Organismus. Besten Dank dafür! Dann grenzt er sich aber von der Klimabewegung ab, mit der Begründung, dass diese «nur die materialistische Perspektive» kenne, dass sie «zwangsweise sozialisieren» wolle und dass ihr «ein Bezug zum Geistigen in der Natur» fehle. Aus meiner Sicht ist das ausgedacht. Zumindest bei Aktionen am Hambacher Wald, bei Extinction Rebellion und bei Ende Gelände trifft meiner Wahrnehmung nach sogar das Gegenteil zu: Die wesentliche Motivation der meisten Menschen ist ihr individuelles Verhältnis zur Natur. Spiritualität gehört für viele zum Alltag. Andere Zeitschriften wie ‹Agora42› haben diese kulturell hochspannende Entwicklung schon ausführlicher thematisiert. Es geht um die Verbindung von Naturwahrnehmungen, künstlerischen Aktivitäten und Spiritualität im Kontext gesellschaftlicher Fragen. Die Idee liegt also in der Luft. Es spricht für Neider, dass er dies auf einer Ideenebene wahrnimmt. Dann bleibt er aber in seiner Studierstube und reklamiert diese Idee als den anthroposophischen Weg. Obendrein grenzt er sich von jenen Menschen ab, die bereits sehr konkret mit dieser Idee unterwegs sind. Besser wäre: Einfach mal hingehen, gespannt sein auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten.

Klimafakten.de

Interessanter Artikel auch von Renatus Derbidge über die Phänomene der Klimakrise! Aber wenn es um die Frage geht, wodurch der «Brand am besten zu löschen ist», wird es seltsam: Die 15 größten Frachtschiffe würden genauso viel klimaschädliche Abgase emittieren wie alle Autos weltweit, so die Behauptung. Für einen Faktencheck genügt die Internetsuche. Nach wenigen Klicks zeigt sich: Durch die sozialen Medien geistert diese Behauptung schon seit vielen Jahren. Spätestens in der ‹Zeit› vom 31.8.2017 wurde klargestellt: Es handelt sich um eine Verwechslung von CO2 mit SO2. Da die Schiffe mit Schweröl fahren, emittieren sie enorme Mengen SO2, das allerdings keinen Treibhauseffekt hat. Für Kraftfahrzeuge hingegen ist der Schwefelgehalt sehr streng reglementiert. Die Klimaschädlichkeit der Schiffe beträgt somit nur einen kleinsten Bruchteil der Autos. Im Text wäre dieser Fehler vielleicht nicht so ins Gewicht gefallen. Aber die Redaktion hat die falschen Angaben nochmals hervorgehoben. Ein solch unbedarfter Umgang mit der Klimakrise verstärkt die im Artikel beklagten Streitigkeiten. Die Internetrecherche zeigt, wie Autoliebhaber aufgrund dieser falschen Angaben gegen den Klimaschutz polemisieren.

Antwort von Renatus Derbidge

Bewusst habe ich von «klimaschädlichen Abgasen» gesprochen, nicht von CO2, was falsch wäre. Das Äquivalent der 15 Schiffe (= 750 000 Autos) wäre SO2, plus eine große Anzahl weiterer Abgasgifte, die nicht Treibhausgase sein müssen, um klima- und umweltschädlich zu sein. Fast jede Umweltverschmutzung trägt direkt zum Klimawandel bei. Der Einfluss von CO2 ist umstritten.

Unabhängig davon ist Klimawandel nicht reduzierbar auf Treibhausgas-Emissionen. Anstatt lokal zu schauen, was man zur Klimastabilisierung beitragen kann – etwa über die Förderung von Mooren, Wäldern, Biolandwirtschaft oder Korallenriffen, also von Ökosystemen, die CO2-Senken sind – erhofft man sich Abhilfe, etwa von der Politik mittels fragwürdiger Steuern. Was früher ganz einfach ‹Umweltschutz› genannt wurde – Hecken pflanzen, Flüsse renaturieren, Auenwälder belassen, Artenvielfalt sichern – ist immer noch die wirksamste Aktivität zur Stabilisierung von Wetter und Klima.

Die redaktionelle Gestaltung der «15 Schiffe»-Passage als Zitat legte unbeabsichtigt einen Fokus auf einen äußeren Aspekt, was seine Einbettung vergessen lässt und so in der Tat tendenziös wirken kann, im Sinne von: «Autos sind ja gar nicht so schlimm, lass uns weiter SUVS fahren …» Dass diese Position nicht gemeint ist, sollte aus dem Gesamten meines Textes hervorgehen. Noch einmal deutlicher: ‹Unser brennendes Haus› löscht man am besten durch Maßnahmen, die zugleich innerlich wie äußerlich sind: etwa durch Verzicht, durch Entscheidungen an der Kasse oder indem man nicht alles nachplappert und in die ‹CO2-Falle› tappt. Auch das Wort ‹Klimawandel› ist so eine Falle, weil es auf das Äußere bannt.

Mein Text versuchte, auf den inneren Aspekt hinzuweisen, dass Klima intimer mit dem Menschen zusammenhängt als nur über Moleküle. Eine Diskussion wie diese hier lenkt von jenem Bereich ab, wo Klima einen wirklich angeht. Um die Klimadebatte zu erden und zu verstehen, wie Klima ein Spiegel des Bewusstseinszustandes der Menschen ist, sei herzlich empfohlen: Charles Eisenstein, Klima. Eine neue Perspektive. Europa-Verlag, 2019.


Zur Ausgabe: Goetheanum Nr. 43/2019 vom 24.Oktober.

Titelbild: Illustration von Adrien Jutard zu den Schwerpunkt-Artikeln aus der Ausgabe Goetheanum Nr. 43/2019 vom 24.Oktober 2019.

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