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Unendlichkeit

Am 6. Januar 2018 wäre Georg Cantor hundert Jahre alt geworden – ein Grund, über das Unendliche nachzudenken. Georg Cantor (1845–1918) gehört zu den Begründern der modernen mathematischen Lehre vom Unendlichen und unterschied verschiedene Formen von Unendlichkeiten. Darüber hinaus vertiefte er sich auch in philosophische und theologische Fragestellungen im Umfeld des Unendlichen. Die folgenden elementaren Gedanken sollen an diesen Pionier erinnern.


An den Schwierigkeiten, an der wiederholt aufbrechenden Unnahbarkeit, an der scheinbaren Unbegreifbarkeit des Unendlichen hat sich das philosophische und mathematische Denken immer wieder von Neuem abgearbeitet. Ist es fassbar, ist es erlebbar, ist es denkbar? Wir scheinen von Endlichem umgeben zu sein, durch Endliches bestimmt, durch Endliches eingeschränkt. Die Länge des Lebens, die Verfügbarkeit von Ressourcen, das erfüllte Lebensumfeld zeigen überall ihre Grenzen. Viele unserer Tätigkeiten sind allein dem Erweitern, dem Herausschieben dieser Grenzen, wenn nicht gar deren Überwindung gewidmet.

Gerade das ist jedoch die herausfordernde Natur jeder Grenze: Sie fasst einen überschaubaren Bereich ein, definiert dessen endlichen Charakter und öffnet ihn für alles jenseits dieser Grenze.

Die Suche nach dem Un-Endlichen, dem Un-Begrenzten ist die Suche nach der Überwindbarkeit des Endlichen und seiner Grenzen. Zunächst erweist sich dies bloß als Negation, als eine Leugnung einer Grenze durch Hinausschieben derselben. Ich erreiche so immer Größeres (oder in der umgekehrten Richtung immer Kleineres), komme aber nicht grundsätzlich weiter, zu keiner prinzipiellen, sondern nur zu einer lokalen oder temporären Überwindung der Grenze. Das Endliche wird schließlich in ein noch größeres Endliches eingebettet, das von ersterem aus als sehr weit weg oder als sehr groß und im Grenzfall unendlich weit weg bzw. unendlich groß erscheint. Unendliches wird so zum praktisch Unerreichbaren, zum außerhalb unserer faktischen Reichweite Liegenden.

Unendlich und Un-endlich

Was jedoch seiner Natur nach endlich ist, kann durch seine bloße Negation nicht auf eine andere Ebene gehoben werden. Anders: Das seiner Natur nach Endliche ist genau dasjenige, was ein Mehr oder Weniger zulässt, das verschiebbare Grenzen aufweist. Die Un-Endlichkeit gehört wesentlich zur Konzeption der Endlichkeit.

Weder das fortlaufende Verschieben einer Grenze noch deren Negation führt demnach zu irgendeiner wahrhaften Form des Unendlichen, einem Unendlichen, das sich prinzipiell und nicht nur graduell von Un-Endlichkeiten unterscheidet – falls es so etwas überhaupt gibt. Die Weltanschauung des strikten Finitismus lehnt wahrhaft Unendliches grundsätzlich ab; sie orientiert sich dabei an den Gegebenheiten der physisch-sinnlichen Natur. Auch innerhalb mathematischer Denkrichtungen gibt es Überzeugungen, welche alles, was nicht (mit endlich vielen Symbolen) ‹aufschreibbar› ist, ablehnen.

Hegel nannte diese durch kleine oder größere Schritte angenäherte Unendlichkeit die «schlechte Unendlichkeit», weil sie nur eine mögliche, aber keine wahre und/oder wirklichkeitsgemäße Unendlichkeit darstellt, sie ist nur «potenziell» im Unterschied zu einer aktualen oder wahrhaften Unendlichkeit.

Wenn ich kleinere oder größere Schritte zur Vermehrung von etwas Endlichem mache (zum Beispiel der verfügbaren Energien), so schaffe ich substanziell nichts wirklich Neues, sondern verteile das Vorhandene um, ordne es auf eine andere Weise, beziehe andere Endlichkeiten mit ein etc. Das sind im Wesentlichen die möglichen Umgangsformen mit physisch-sinnlichen Stoffen und Prozessen.

Ähnliches gilt für die von mir produzierten oder übernommenen Vorstellungen und Gedanken, wie auch für Erinnerungen. Sie sind gegeben, können vermehrt werden, können umgeordnet und neu zusammengefügt werden; dabei überschreite ich aber nicht deren Daseins- und Geltungsbereich.

Wesentliche neue Gesichtspunkte erschließen sich nur, wenn ich folgende Fragen stelle: Wer setzt Grenzen? Durch wen und durch was bin ich überhaupt in der Lage, Grenzen zu verschieben oder gar aufzuheben? Für Ersteres kann man feststellen, dass ohne meine Setzungen Grenzen gar nicht vorhanden wären, sondern nur Übergänge, Metamorphosen, Entstehen und Vergehen, Werden etc. Das Setzen von Grenzen, das Setzen von ein- oder ausgrenzenden Bestimmungen geschieht durch mich – auf der Grundlage vorhandener Erfahrungen und Ideen. Insofern sind konkrete Grenzen nicht absolut, sondern relativ und vom Erfahrungs- und Ideenvermögen des jeweils setzenden Subjekts (oder einer entsprechenden Interessengemeinschaft) abhängig.

Setzt die Natur Grenzen? Die erschienene und die erscheinende Natur ist begrenzt in ihren Formen und Gestalten, auch wenn diese (subjektiv) unüberschaubar zu sein vermögen. Dagegen ist das werdende Potenzial, der allfällige evolutive Fortschritt nicht begrenzt, ja nicht einmal vorhersagbar. Hier scheint eine Gestalt- und Prozessquelle vorhanden zu sein, welche sich durch meine Grenzsetzungen, durch meine Gliederungsbestrebungen nicht einschränken lässt. Diese gestaltlose Quelle ist jenseits aller konkreten Formen angesiedelt und macht durch ihre Produktionen meine spezifischen Grenzziehungen überhaupt erst möglich.

Wenn das Unendliche nicht überwältigt

Ein Beispiel aus der gegenwärtigen Natur kann dies illustrieren. Ein Buchenbaum, sagen wir eine Rotbuche, hat verschiedenste Wuchsformen. Wächst sie auf einer Ebene, in freier Landschaft, so entwickelt sie eine harmonische, ihren Umkreis gleichmäßig ergreifende Form. Wächst sie an einem Hang, so entwickeln sich mehr Äste auf der dem Hang abgewandten Seite. Ist dieser Hang (in Mitteleuropa) nach Südwesten exponiert, so sind die Verzweigungen weit differenzierter und vielfältiger, als wenn eine nordöstliche Ausrichtung vorliegt. Weitere Differenzierungen ergeben sich durch Trockenheit oder Feuchte, durch unterschiedliche Bodennährstoffe etc. Die möglichen Variationen sind im gewöhnlichen Sinne unüberschaubar, und doch haben wir den Eindruck, dass immer dasselbe gestaltbildende Prinzip vorliegt. Die Vielfalt erweckt nicht den Eindruck einer Überwältigung durch das Unendliche; sie erweist sich vielmehr als Ausdruck einer gestaltbildenden Quelle, die sich mit Leichtigkeit den äußeren Bedingungen anpasst, ja mit ihnen spielt.

Dasselbe Potenzial können wir jedoch auch bei uns selbst entdecken. Wie kann ich selbst formschöpferisch werden? Wie kann ich Begrenztes aus einem Grenzen überhaupt erst ermöglichenden Bereich schöpfen? Beim Bereich des Kunstschöpfens ist das offensichtlich. Aber auch im Gedanken begleitenden Alltagsleben kann sich Schöpferisches zeigen.

Ich setze zum Beispiel eine Grenze oder genauer: ein Unterscheidungsmerkmal, indem ich sage: Diese vorgestellte oder gezeichnete oder in der Natur vorhandene Form ist ein Kreis und keine Ellipse. Ich kann mir Kreise und Ellipsen vorstellen und/oder zeichnen, wenn ich deren Formgesetze verstehe; dadurch erweitere ich meine begrenzt vorhandene Formenwelt. Mein schaffendes Potenzial hat jedoch mit dessen Begrenzungen nichts zu tun. Das Begrenzte ist Resultat, nicht Vorbedingung dieses Schaffens.

So kann gerade so etwas Einfaches wie ein Kreis auf vielfältige Weise variiert werden. Er kann etwa innerhalb seiner Ebene verschoben, vergrößert und verkleinert werden, es kann ein Punkt festgehalten werden zur Erzeugung einer Schar konzentrischer Kreise. Verlässt man die Ebene, so erzeugt ein bewegter Kreis mit gleichbleibendem Radius und festem Mittelpunkt eine Kugel; bewegt sich der Mittelpunkt auf einer Geraden, die nicht in derselben Ebene wie der Kreis liegt, entsteht ein gerader oder schiefer Zylinder, je nachdem, ob die Kreisebene senkrecht oder schief zu dieser Geraden liegt. Ist die Bahn des Mittelpunktes keine Gerade, sondern irgendeine (geschlossene) Linie, so entsteht ein (geschlossener) Schlauch, je nach den genauen Verhältnissen mit Überschneidungen. Wird der Kreis um eine ihn meidende Gerade in seiner Ebene rotiert, so entsteht ein Torus (der eine Gestalt hat wie ein amerikanischer «Bagel»). All dies und vieles andere kann aufs Mannigfaltigste weiter variiert werden.

Jenseits der Grenzen

Das Geschaffene, aus der Idee und dem gegebenen Stoff heraus, ist auch weder bloße Fortsetzung noch bloße Erweiterung des bisher Geschaffenen oder Bekannten. Es fließt direkt aus der Quelle und muss sich nicht am bereits Vorhanden orientieren. Die Gesamtheit aller Buchengestalten oder aller möglichen Kreise, etwa in einer Ebene liegend, ist in diesem Sinne dann keine Summe, keine Zusammenstellung vorhandener Formen, sondern ein werdendes Potenzial, ein schöpferischer Prozess – eine aktuale Unendlichkeit. Sie kann im gewöhnlichen Sinne nicht festgehalten, nicht in einzelne Gebiete eingeteilt werden: Sie ist alles oder nichts.

Mit anderen Worten: Jede Grenzsetzung kommt aus einem Bereich, der jenseits aller Grenzen und negierten Grenzen liegt, aus der Ideenwelt (oder der universellen Formenwelt), die keine Grenzen, wohl aber spezifische Bestimmungen enthält. Unterscheidet man im Prozess des Setzens einer Grenze die dazu verwendete Idee von dem diese Idee setzenden Akt, so ist der Akt selbst die Vorbedingung des Setzens von Ideen. Anders gewendet: Aktives Denken bringt erst Ideen zur tätigen Anschauung, Ideen sind für mich nur durch Denken präsent. Aber dieses Denken kann ich jederzeit betätigen; sobald es auftritt, ist es durch Anfang und Ende begrenzt, wie auch durch den angeschauten Inhalt. Seine Quelle hat nichts zu tun mit diesen Grenzen, im Gegenteil, sie ist die Vorbedingung des Erscheinens dieser Grenzen. So kann es etwa nur deshalb einen Anfang und ein Ende eines Denkaktes geben, weil er selbst, oder genauer, das Wesen, das denkt (ich selbst), jenseits von Anfang und Ende lebt.

Insofern jede freie Handlung, und damit auch jede künstlerische Handlung, von aktivem Denken begleitet ist, teilt sie mit dem Denken dieses transzendente Potenzial, diese transzendente Welt des Ermöglichens als Grundlage alles Tatsächlichen.


Bild: Jeremy Thomas/Unsplash

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