Symphonie der Seelen

Die Wahrnehmung einer Weltseele als Wesenheit, die das physische Universum zu einem harmonischen Organismus gestaltet und lenkt, prägt wichtige Momente der europäischen Geistesgeschichte. Hier sollen ausgehend von Platon und Plotin – zentrale Figuren der antiken Philosophie und Spiritualität – einige Aspekte dieser Wahrnehmung charakterisiert werden, die den altehrwürdigen Begriff ‹Weltseele› auch für die gegenwärtige Zeit anregend machen können.1 Dabei werden jene besonders hervorgehoben, die auf die Möglichkeit einer schöpferischen Teilhabe des Menschen am Leben der Weltseele hinweisen. Gerade diese Aspekte können nämlich noch heute zur Überwindung jener Trennung zwischen Ich und Welt/Natur anspornen, die so viele problematische Auswirkungen auf unsere Begegnung mit der Erde hat.


Das Weltall als Geist, Seele, Leib

Wie der Mensch, so wird das Weltall in den wichtigsten Strömungen der antiken Philosophie als dreigegliedert in Geist, Seele und Leib wahrgenommen. Dies zeigt urbildhaft Platons ‹Timaios›, die älteste im europäischen Raum erhaltene ausführliche Schrift zur Geburt und Konstitution des Weltalls: Der göttliche Handwerker (der Demiurg), der das Weltall schafft, schenkt seinem Geschöpf einen Geist (noûs). Denn ein sichtbares Wesen, das selbst eine geistige Intelligenz offenbart, ist schöner als ein Wesen, das ohne eigene Intelligenz lebt. Da es jedoch unmöglich ist, dass Geist ohne Seele einem sichtbaren Wesen zukommen kann, gestaltet der Gott das Weltall so, dass es durch einen Geist in einer Seele sowie durch eine Seele in einem sichtbaren/physischen Leib, eben als dreigliedrige Einheit, konstituiert wird (‹Timaios› 30 b). Wiederum verbindet der Geist das Weltall mit dem höchsten geistigen Wesen – das von Platon zugleich als Ganzheit der geistigen Welt wahrgenommen wird –, als dessen Bild das Weltall geschaffen wird (ebd. 30 c–31a)2, während die Seele durch ihre wesensgemäße, intime Beziehung zum Geist dem Weltall die Kräfte vermittelt, die sein sichtbares Leben stimmig ernähren. So ist das Weltall ein autonomes, sich selbst ernährendes (ebd. 33 c–d), selbstbestimmtes, durch den eigenen Geist seiner selbst bewusstes, mit sich selbst ‹befreundetes› und deshalb göttliches Wesen (ebd., 34 b). Seine leibliche Form ist wiederum sphärisch – als vollkommene, alle anderen Formen umfassende Gestalt (ebd. 32 b). Und seine Seele setzt der Demiurg in die Mitte dieser Sphäre, sie durch das ganze Weltall ausspannend, mit ihr den Weltenleib auch noch von außen umhüllend (ebd. 34 b). Folglich bildet das Weltall, als seiner selbst bewusstes göttliches Lebewesen, eine leiblich-seelisch-geistige Einheit, in der das Leibliche und das Seelische das Geistige bis in sichtbare, raumzeitliche Formen harmonisch offenbaren lassen. Wobei das Wirken des Geistes hier das Spezifische des Seelischen und des Leiblichen nicht unterdrückt, sondern fruchtbar hervorhebt.

Welt- und Menschenseele als musikalisches Gebilde

Damit die Weltseele das Leben des Kosmos stimmig lenken und gestalten kann, hat der göttliche Handwerker sie nach arithmetisch-geometrisch-musikalischen Verhältnissen gebildet (ebd. 34b–36 d).3 Dank diesen können die drei Grundeigenschaften der Seele – Sein, Selbiges/Identisches und Anderes (ebd. 35 a–b) – als Gefüge eines harmonischen individuellen Wesens miteinander zusammenklingen. Diese mathematisch-musikalische Konstitution der Weltseele offenbart sich auch in den Seelen der Menschen, die durch den Demiurgen aufgrund beinahe gleicher Verhältnisse wie die Weltseele, jedoch ausgehend von einer nicht gleich reinen Grundlage, konstituiert werden (ebd. 41 d). Dabei vermittelt der Demiurg ihnen direkt nur ihr göttliches Wesen, ihren Geist (ebd. 41 c, 69 d, 90 a), während ihre sterbliche Natur von den ‹niederen› Gottheiten gestaltet wird (ebd. 41 d, 69 c–d). Durch ihren Geist sind die Menschenseelen in der Lage, bewusst das eigene Leben nach den harmonischen Rhythmen des Weltalls, was bedeutet nach den harmonischen Bewegungen der Weltseele, zu gestalten, was für sie die stimmigste Lebensform darstellt (ebd. 90 c–d).

Weltseele als kollektivistisches Selbst?

Kann Platons oder jeglicher ähnliche Begriff der Weltseele mit der Notion eines kollektivistischen globalen Selbst in Zusammenhang gebracht werden? In anderen Worten: Kann die Weltseele, wie sie von Platon – sowie von späteren, nicht nur antiken Denkern – charakterisiert wird, zum Beispiel mit der Vorstellung von ‹global consciousness› zusammenklingen, wie sie im 1998 begonnenen, von Roger Nelson an der Universität von Princeton geleiteten ‹Global Consciousness Project› vorausgesetzt wird?4

Nach den Ergebnissen des genannten Projektes kann ein Ereignis, das eine genügend große Anzahl von Menschen psychisch/emotional stark beeinflusst, die Emotionen jener Menschen so ‹synchronisieren› (synchronize), das heißt in gegenseitige Übereinstimmung führen, dass die Wirkung dieser Synchronisierung sich mithilfe geeigneter Messinstrumente bis ins Physische nachweisen lässt. Dies würde auf die Emergenz – das heißt auf das Hervorgehen – einer Noosphäre (‹Sphäre des Geistes›)5 beziehungsweise eines globalen Bewusstseinsfeldes hinweisen, was entsprechende Darstellungen eines globalen Bewusstseins in den verschiedensten spirituellen Strömungen bestätigen würde. Die hier angedeuteten Phänomene weisen jedoch in der Tat auf eine ‹psychische› Form des Bewusstseins, auf ein kollektives, psychisches Selbst hin, das ausgehend von äußerlichen Impulsen und Stimulationen zutage tritt und dementsprechend von ihnen bestimmt und determiniert wird. Dies widerspricht aber der Bewusstseinsform, die der von Platon und anderen Philosophen charakterisierten Weltseele eigen ist. Letztere ist nämlich eine geistige, keine psychische, und als solche unvereinbar sowohl mit der Vorstellung eines emergierenden kollektiven Gruppenselbst als auch mit der Determinierbarkeit durch äußerliche Impulse oder psychische/emotionale Dynamiken. Um dies zu erklären, werde ich Plotins Werk in Betracht ziehen,6 das mustergültig auf eine Erfahrung des Geistes, der Weltseelen sowie des wahren menschlichen Selbst hinweist, die in schöpferischer Kontinuität mit Platons Erfahrung steht.

Geist und Weltseele

Plotin verfasste die älteste erhaltene Abhandlung zur Freiheit, ‹Enneas› VI 8. Dort wird in Bezug auf die Möglichkeit einer wirklichen Freiheit streng zwischen der Seele und dem Geist unterschieden: Der Geist ist Freiheit, vollkommene Selbstbestimmung, denn er kann, jenseits aller beeinflussenden Schmerzen und Freuden, Antipathien und Sympathien, bedingungslos und schöpferisch die Kräfte offenbaren, die alle Formen des Seins generieren. Dagegen kann die Seele nur bedingt/begrenzt frei sein, denn ihr Leben ist ständig von den erwähnten Faktoren beeinflusst (‹Enneas› VI 8.1–7). Wenn die Weltseele – nach Plotin genauso wie nach Platon – doch die Grundlage für die Selbständigkeit des Weltalls bis in seine Leiblichkeit ist, bedeutet dies also, dass sie das Weltall aufgrund nicht einer psychischen, sondern einer geistigen Bewusstseinsform lenkt und gestaltet, unerschöpfliche generative Kräfte vom Geiste empfangend und zugleich dem Leiblichen schenkend (‹Enneas› iv 7.24 ff.). Ihre intime, bewusste Beziehung zum Geist impliziert aber keine Absorption ihrer Individualität. Der Geist ist nämlich ewige, augenblickliche Einheit von Identität und Andersheit (‹Enneas› vi 7.13.22–23), sodass die geistige Wirklichkeit stets eine andere ist (ebd. 13.47) und sich in alle Richtungen der Andersheit offenbaren kann (ebd. 13.25). Dies bedeutet: Der Geist ist ewig Neues, das als uneingeschränkte Offenheit einem Anderen gegenüber, nicht als Absorption des Anderen lebt und deshalb als unerschöpfliche Generativität/Produktivität wirkt (‹Enneas› v 8.4.46–47). Demzufolge impliziert eine bewusste Beziehung zum Geiste keine Reproduktion schon bestehender Formen des Geistigen, sondern kann nur als eminent freies, schöpferisches Wirken verstanden werden, von dem ausgehend eine neue Form des Seins geboren wird. Und dies bedeutet auch, dass der Geist kein kollektivistisches Selbst, sondern eine unerschöpflich vielfältige Einheit von Bewusstseinszentren ist: eine lebendige Sphäre (‹Enneas› ii 9.17.5–15, V 8.9.8–28, vi 5.10.44, VI 7.15.25–26), in der jeder Punkt durch bewusste Selbstoffenbarung alle anderen Punkte, die Mitte und die Ganzheit der Sphäre bewusst offenbart (vgl. ‹Enneas› v 8.4.4–11). Dabei ist jeder Punkt als einmalig individualisiertes, seiner selbst vollkommen bewusstes, schöpferisches Selbst, das heißt als ‹Gesicht› zu betrachten. (‹Enneas› VI 7.15.27). Die Weltseele ist in ihrem Wesen wiederum ein lebendiges Bild dieser geistigen Sphäre – wovon übrigens auch der Leib des Weltalls mit seiner sphärischen Form ein Bild ist. So ist ihre Einheit keine kollektivistische, sondern umfasst eine Vielfalt individueller, selbständiger Seelen, die unterschiedlich, jedoch nicht voneinander getrennt, das heißt nicht durch Grenzen bestimmt sind, sodass sie sich voneinander entfremden könnten (‹Enneas› VI 4.4.34 ff.). Zu diesen Seelen, die, wie die ganze Weltseele, ihr Wesen durch eine bewusste Beziehung zum Geiste offenbaren können, gehören auch die Seelen der Menschen.

Menschliches Selbst und Weltseele

Schon Platon deutete explizit darauf hin, dass die Seele des Menschen, wenn sie ihr Wesen stimmig offenbart, an der Lenkung des Weltalls und somit am Leben der Weltseele bewusst teilnehmen kann (‹Phaidros› 246 c). Diese Möglichkeit wird von Plotin mehrmals hervorgehoben: Die individuelle Seele lenkt das Weltall, wenn sie mit der Weltseele bewusst verbunden ist (‹Enneas› IV 4.4.34 ff., 7.13.9 ff., 8.2.19–27 und 4.1–10). Dies impliziert jedoch kein passives ‹Mitgerissenwerden› in irgendein kollektives Selbst. Echte Verbindung mit dem Leben der Weltseele kann nämlich nur dann geschehen, wenn der Mensch des Geistes in sich bewusst wird, ihn als das eigene wahre Selbst bezieungsweise als den wahren Menschen entdeckend und wirken lassend (‹Enneas› i 2.6.1–12, VI 4.14, VI 5.7, VI 7.2 und 4–6). Wenn dieses Ziel erreicht ist, dann wirkt der Mensch aktiv an der Schaffung und Lenkung des Weltalls mit (‹Enneas› V 8.7.31–36): als schöpferisches Selbst, ausgehend von der vielfältigen Einheit der geistigen Welt, zu der der Mensch in seiner Wahrheit gehört.

Ich bin die Weltseele!

Nach Plotin bedeutet Erfahrung des Geistes durch die Seele keine Herabdämpfung, sondern Kräftigung des individuellen wachen Bewusstseins. Sie gründet auf dem wachen Bewusstsein, das ausgehend von sich selbst immer höhere Dimensionen der schöpferischen Wachsamkeit erreichen kann. Jegliche Herabdämpfung der Wachsamkeit bedeutet dagegen eine Entfernung von der Erfahrung des Geistigen. Eine solche Herabdämpfung erklärt jedoch die Phänomene des kollektiven Bewusstseins, die das ‹Global Consciousness Project› untersucht. Während nämlich eine Beziehung zum Geistigen für Plotin stets impliziert, dass das wach tätige Selbst sowie sein waches Bewusstsein die Seins- und Bewusstseinsform des Menschen bestimmt und gestaltet, wird das menschliche Selbst und Bewusstsein in den genannten Phänomenen von einem äußerlichen Sein bestimmt, das nicht vom Bewusstsein durchdrungen wird und deshalb lediglich psychische Phänomene generiert. Das globale Bewusstsein, das dadurch entsteht, bedeutet folglich keine Steigerung jenseits des alltäglichen Selbst, sondern ein Versinken diesseits seiner Möglichkeiten. Und zwar in einen Zustand, der, rein durch – gleichgültig ob als negativ oder positiv bewertete – äußerliche Reize verursacht, eher in Richtung einer Massenpsychose orientiert zu sein scheint. Das globale Bewusstsein der Weltseele ist, im Horizont Plotins, das genaue Gegenteil davon. Denn statt das wache Selbst in einem emotionalen Meer ertrinken zu lassen, bildet die Weltseele hier eine Gemeinschaft bewusst schöpferisch miteinander klingender, symphonischer Bewusstseinszentren. Weltseele ist folglich die lebendige Sphäre einer geistigen und somit freien Ich-Gemeinschaft, in der jeder Ich-Punkt, durch das eigene wache Wirken aus der schöpferischen Kraft der geistigen Welt schöpfend, Seele und Leib des Weltalls und somit der Erde als harmonische Ganzheit mitgestalten kann. In anderen Worten: Ich bin die Weltseele! Dies ist natürlich nicht im Sinne eines atomistischen, in sich zusammengeschrumpften, rein psychisch und somatisch bestimmten Ich gemeint, sondern eines Ich, das sich immer mehr als Mitte/Sphäre aus geistiger Wärme und geistigem Lichte erleben kann. Ich ist hier, in allen Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühlen, Gedanken, Handlungen ein ‹Weltgespräch›, dessen Weltenworte nie durch äußerliche Reize und Steuerungen erzeugt werden können, sondern nur aus schöpferischer Wachsamkeit, Freiheit und Liebe geboren werden können. Der Anspruch, ein Weltbewusstsein, ein ökologisches Handeln durch äußerliche, zentralistisch/kollektivistisch steuernde Faktoren zu erzeugen, würde dagegen die Menschen nicht zu einem Zusammenklang mit der antiken Spiritualität führen, sondern zu einer Masse herabwürdigen, die im negativsten Sinne selbst-los wäre, weil die Menschen keines echten freien Wollens mehr fähig wären. Eine solche sklavische Masse würde keine Weltseele bilden, sondern nur den armseligen Stoff für die Wirkung von Kräften liefern, die das entmenschlichte Ego nie bewusst wahrnehmen würde. •

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Footnotes

  1. Für eine verdichtete Darstellung des Themas ‹Weltseele› in Platons Werk siehe M. Erler, Platon. Basel 2007, S. 386–388; für weitere Vertiefungen vgl. M. von Perger, Die Allseele in Platons Timaios. Berlin 1997. Zu Plotin siehe H. Ziebritzki, Heiliger Geist und Weltseele. Das Problem der dritten Hypostase bei Origenes, Plotin und ihren Vorläufern. Tübingen 1994; M. Loder, Die Existenz des Spekulativen. Untersuchungen zur neuplatonischen Seelenlehre und zu Hegels Philosophie des subiektiven Geistes. Berlin 2016. Zum Begriff ‹Weltseele› in der ganzen griechischen Antike vgl. die Beiträge in Chr. Helmig (Hg.), World Soul – Anima Mundi. On the Origins and Fortunes of a Fundamental Idea. Berlin 2020.
  2. Dieses Wesen ist, nach der inneren Logik des Timaios, der Demiurg selbst, der das Weltall sich ähnlich machen wollte (ebd. 29 e).
  3. Für eine einführende Erläuterung dieser außerordentlich komplexen Stelle siehe F. M. Cornford, Plato’s Cosmology. London 1937, S. 59–65.
  4. Zu diesem Projekt siehe https://noosphere.princeton.edu/ (mit verschiedenen Fallbeispielen in der Spalte ‹New Reports›) sowie R. D. Nelson, Connected: The Emergence of Global Consciousness. Princeton 2019 (deutsche Übersetzung: Der Welt-Geist. Wie wir alle miteinander verbunden sind. Wien 2019).

  5. Zu diesem Begriff und dessen ersten Entwicklern (Wernadski, Le Roy, Teilhard de Chardin) vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Noosph%C3%A4re (mit guter weiterführender Bibliografie).
  6. Für eine Vertiefung der im Folgenden angedeuteten plotinischen Themen vgl. S. Lavecchia, Frei von sich und von anderem. Zum Ursprung und Wesen des noetischen Selbst in Plotins Philosophie. Perspektiven der Philosophie 46 (2020), S. 20–30.
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