Stilles Wasser und die Kraft des Bildes

Im Wasser, von einer Mulde in Ruhe gehalten, kann sich ein Bild spiegeln. Dieses Phänomen verweist auf das Wesen der Sophia. Ein Geschöpf, das in der Endlichkeit die Unendlichkeit findet.


Im flüssigen Zustand erscheint die gemäßigte Kraft des Wasser. Es bewegt sich zwischen Wolken und Eis, zwischen dem Luftigen und dem Festen. Fest ist es, wenn es gefroren ist, aber auch, wenn es festgehalten und eingeschlossen wird. Wenn wir in den Bergen oder entlang eines Baches wandern, sehen wir Pfützen in Steinmulden. Das Feste hält das Wasser im Stillstand. Dann ereignet sich das Spiegelungsphänomen, das es nirgendwo sonst in der Natur gibt. Eine kleine Berührung oder der Wind lassen die Wasserfläche zu verwobenen Bahnen und Bändern werden. Kehrt die Stille und das Abbild zurück, flacht das Körperliche ab. Das Wasser ist wieder eine Fläche aus Licht.

Die Spiegelung verweist auf eine Wirklichkeit und entfernt sich zugleich aus ihr. Denn das Bild hat keine räumliche Wirkung für meinen Körper, aber mein Sehen und meine Vorstellung können sich darin bewegen. Bilder sind ein wenig wie aus der Welt herausgehoben. Sie heben das Reale auf und heißen es gleichzeitig ‹von hinten› willkommen; ähnlich wie beim Kinderspiel, wo man sich anschleicht, jemandem auf die rechte Schulter tippt, während man auf der linken Seite steht. Wo das Wasser also aktiv ist und doch durch den festen Zustand und seine Stille geformt wird, erscheint ein kleiner Schritt in Richtung des inneren Lebens.

Wenn wir in einem Bild verweilen und die räumlich-körperliche Erfahrung aussetzt, werden unsere Leidenschaften, Ängste und Wünsche, aber auch unsere Gewohnheiten in einen Zustand der Lähmung versetzt: Wir sind sanft geschockt. Verlagert und zeitlich entkoppelt spüren wir die Nähe eines Geheimnisses. Man kann auch eine zweifache Bewegung von Verletzlichkeit und Freiheit spüren.

Vor jedem Akt des Urteils findet eine solche Transformation der Welt statt, in der unsere Existenz kurzfristig aussetzt. In diesem Moment von Stille, Stauung oder Aussetzung lebt eine Unbestimmtheit. Sie dauert mal kürzer, mal länger. In ihr liegt alles Potenzial für Handlungen, in jedweder Richtung. Wie bei der Spiegelung im stillen Wasser, das vom Stein gefasst ist, formt unser Wesen den Raum für diese Unbestimmtheit. Allerdings kann ich mich dieser Tatsache der Formgebung von verschiedenen Seiten nähern. Ich kann mich zum Beispiel mit der Dramatik der Isolation und Unverbundenheit identifizieren, die meiner Position in jedem Moment innewohnt. Ich kann aber auch einen Schritt zurücktreten und mich und die Welt als Form begreifen. Beides bezieht sich auf den festen Zustand. Das erste ist wie Wasser, das zu Eis geworden ist, das zweite wie Wasser, das von einem Stein gehalten wird, und damit das Entstehen eines Bildes ermöglicht.

Wenn ein Moment zu einem Bild wird, fehlt ihm eine gewisse Aktualität. Er ist so gesehen ‹weniger› als jenes, was reflektiert wird. Dieses Mangel ist die Voraussetzung für die tiefgründigen Dimensionen des Lebens und des menschlichen Potenzials. Schiller nannte diesen grundlegendsten Aspekt der Wahrnehmung die ‹Entstehung der Betrachtung›: «In seinen Sinnen entsteht eine momentane Ruhe; die Zeit selbst, das ewig Bewegte, steht still; und, während die divergierenden Strahlen des Bewusstseins zusammenlaufen, spiegelt sich vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit ein Bild des Unendlichen, nämlich der Form.»1 Dieser Moment führt zu den unendlichen Toren von Kreativität und Kunst. Urteilskraft und Einsicht entstehen. Und vor allem entzünden sich ethische Ideale durch die zeitweilige Aufhebung unserer ‹Selbstbezogenheit› gegenüber der Welt.

Diese Unterbrechung hin zum kreativem Leben ist ein bedeutungsvoller Moment: sie ist die elementarste Form ästhetischen Erlebens. Ästhetische Erfahrung wird oft mit Kunst und Kultur in Verbindung gebracht, während sie die Wissenschaft vermeintlich ausschließt. Die erlebte Spannung zwischen den Wissenschaften und den Geisteswissenschaften hat hier ihren Ursprung. Und Schiller selbst, obwohl einer der großen Theoretiker der Bedeutsamkeit unserer ästhetischen Bedingungen, spielt in diesem Zwiespalt eine Rolle. Er sprach der Wissenschaft und der Vernunft die Fähigkeit ab, auf die menschlichen Empfindungen (Wünsche, Gefühle und Vorstellungen) einzuwirken. In seinen ‹Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen› entwarf er eine ästhetische Kultur, die einseitig zu den Künsten und Geisteswissenschaften tendiert.

Geschöpf und Schöpfer

Pavel Florenski, der bemerkenswerte Universalgelehrte (1882 in Aserbaidschan geboren, 1937 im Straflager in Sibirien erschossen durch die Sowjetregierung), formuliert wiederum sehr wortgewandt, was in Bezug auf die Naturwissenschaft auf dem Spiel steht. Für ihn gibt es keinen Sprung zwischen einer wissenschaftlichen Beobachtung und der Bewegung im Denken, dasselbe symbolisch zu verstehen: «Hier muss man aber ein für allemal und mit dem größten Nachdruck sagen, dass der metaphysische Sinn dieser Symbolik wie jeder anderen authentischen Symbolik nicht über den sinnlichen Bildern errichtet wird, sondern dass er in ihnen enthalten ist und sie durch ihn bestimmt werden; die Bilder sind durchaus nicht einfach als physische vernünftig, sondern ausgesprochen als metaphysische; die physischen Bilder tragen die metaphysischen in sich und werden von ihnen erleuchtet.»2 Florenski findet nicht nur in der Kunst die Versöhnung zwischen Geschöpf und Schöpfer, sondern auch in der Wissenschaft. Er tut dies im Geiste Goethes, der ebenfalls die Entstehung des Symbol- oder Bildcharakters am Ende einer strukturierten Vielfalt von Experimenten suchte. Diese Suche nach dem Symbol unterscheidet sich für ihn von spontanen poetischen Schöpfungen oder ethischem Handeln. Bei der Erörterung der verschiedenen Bedingungen, die bei der Entstehung von Farbe eine Rolle spielen, kommt Florenski auf den Widerstand zu sprechen, der notwendig ist, um Farben zu ermöglichen. Im reinen Licht kann Farbe nicht erscheinen. In Gott gibt es Fülle, nicht Einseitigkeit. Nur durch Zwang kann Farbe erscheinen. Hier vertieft er die Bedeutung der Trübung als Widerstand bei der Entstehung von Farbe. Florenski fährt fort, dass dieser zarteste und empfindlichste Widerstand als ein Geschöpf, aber nicht als ein irdisches Geschöpf der Erde, begriffen werden kann. Es ist nicht das, was wir uns gewöhnlich als ein Wesen vorstellen, das die Trägheit eines materiellen Körpers aufweist und für das Licht undurchdringlich ist. Dieses Wesen ist auch nicht das Licht des Göttlichen oder das Göttliche selbst. Florenski beschreibt diese Kreatur als ein Wesen, das zwischen der Aktivität des göttlichen Lebens und der Passivität der Schöpfung lebt. Dieses Geschöpf, dieses Element, nennt er Sophia. «Erst aus dem Verhältnis der beiden Prinzipien wird klar, dass die Sophia nicht das Licht ist, sondern seine passive Ergänzung, und dass das Licht nicht die Sophia ist, sondern sie erleuchtet.»3

In der Dynamik zwischen Wasser und Form und dem immer wiederkehrenden Moment der ästhetischen ‹Schwebe› begegnen wir diesem Element wieder. Das Wasser kommt durch die Festigkeit der Welt zur Ruhe. Die Form entsteht als Bild. Ein festes Register wird aufgehoben, während die Endlichkeit bestehen bleibt. Sie trägt in sich das Potenzial zur Weisheit. Es ist eine Endlichkeit, die den Geist aufnehmen kann, ohne verneint zu werden.


Bild Gilda Bartel

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Footnotes

  1. Friedrich Schiller, Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, Brief 25.
  2. Pavel Alexandrovitsch Florenski, Konkrete Metaphysik, ausgewählte Texte. Pforte, 2006.
  3. ebenda

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