Menschennahes Bauen

Ein Blick auf die Beziehung von Mensch und Baukunst anhand dreier Dornacher Gebäude. Piet Sieperda ist auf der Suche nach Rudolf Steiners Architekturkonzept.


«Wir lernen sozusagen das Äußerlichste unseres Wesens, das, was durch die Wirkung unseres Ätherleibes auf unseren physischen Leib vorgeht, in einem räumlichen Linien- und Kräftesystem kennen. Wenn wir dieses räumliche Linien- und Kräftesystem, das im Grunde genommen in uns fortwährend wirksam ist, hinaustragen in die Welt und die Materie anordnen nach diesem Kräftesystem, wenn wir loslösen dieses Kräftesystem von uns und die Materie danach anordnen, dann entsteht die Baukunst.»

Rudolf Steiner, Kunst im Licht der Mysterienweisheit. Dornach 1990, GA 275, S. 39.

Betrachten wir den Menschen in seiner vertikalen Form und fühlen, was in dieser Form geschieht, dann gibt es eine Kräfteentfaltung nach unten, zu den Füßen hin. Auf der anderen Seite gibt es eine Kräfteentfaltung nach oben, in Richtung des Schultergürtels, an dem beide Arme befestigt sind. Mit diesen Armen können wir etwas heben und tragen. Das bedeutet, dass sich die Kräfte von der Körpermitte aus in Richtung Schultergürtel entfalten.

Betreiben wir Nachforschungen auf dem Dornacher Hügel, sehen wir drei Bauwerke von Rudolf Steiner, welche wir mit diesen Kräfteentfaltungen in Beziehung setzen können: das Haus De Jaager (1921), das Eurythmeum (1923) und das zweite Goetheanum-Gebäude (1925). Dort sehen wir diese Kraft nach oben, in Richtung des Schultergürtels, als eine Entfaltung von Kräften aus der Mitte des Gebäudes nach oben, die das Dach tragen und aufrecht erhalten. Und nach unten sehen wir auch – aber weniger überschwänglich –, dass die Kräfteentfaltung nach unten sichtbar gemacht wird. Es gibt noch eine Kräfteentfaltung, die Steiner aufnimmt: die in die Vorwärtsrichtung – so wie der Mensch aus dem Stand in eine laufende Bewegung übergeht.

Wenn wir auf die drei Gebäude blicken, können wir in ihnen diese Kräfteentfaltungen sehen. Das scheint tatsächlich das ganze Konzept zu beschreiben. Im Eurythmeum-Eingang von der Ostseite aus betrachtet sehen wir eine Kombination aus der Aufwärts- und der Vorwärtsbewegung. An der Straßenseite des Hauses De Jaager kann man diese Bewegung nicht sehen. Erst wenn man um das Haus herum zur Gartenseite geht, sehen wir die Bewegung vorwärts im Dach über dem Studio. Am zweiten Goetheanum-Bau sind diese beiden Bewegungen und ihr Zusammenspiel äußerst stark zu sehen.

Massenmodell und Entwurfsprozesse

Zunächst erstellt der Architekt ein Massenmodell auf der Grundlage des benötigten Raums. Im Fall des Eurythmeums handelt es sich um ein einfaches rechteckiges Volumen mit zwei Stockwerken. Im Originalmodell ist unten der Eurythmie-Übungsraum und darüber ein Atelier vorgesehen. Im Haus De Jaager haben wir einen Atelierbereich an der Straßenseite und ein Wohnhaus auf der Gartenseite, kombiniert in zwei Bereichen: einer rechteckigen und einer eher runden Form. Das Massenmodell des zweiten Goetheanum-Baus besteht aus fünf Teilen, hinten ein großer würfelförmiger Teil, in dem das Theater, Büros und Arbeitsräume eingebaut sind. Das Auditorium ist in einen großen trapezförmigen Block gehüllt, der daran anliegt. Und es gibt auch drei Treppenhäuser.

 Haus de Jaager (1921), Straßenfront, Nordansicht, statisch

In der zweiten Phase des architektonischen Schaffensprozesses wird der Architekt das Massenmodell unter Verwendung des oben genannten Kräftesystems entwerfen. Dies ist ein künstlerischer Prozess. Es ist wichtig, dass der Architekt die Gesetze dieses Kräftesystems so weit wie möglich zum Ausdruck bringt.

In dieser Phase geht es vor allem darum, das Kräftesystem im eigenen Körper zu erfahren. Die Architektin oder der Architekt hat dann das Gefühl, dass er oder sie die eigene Charakteristik, das eigene Kräftesystem benutzt, um das Gebäude zu gestalten. Es ist wichtig, dass plastisches Material verwendet wird, leicht kontrollierbar, damit die Entwicklung dieser Kräfte gut sichtbar gemacht wird.

Wir sollten auch darauf hinweisen, dass das Massenmodell, falls erforderlich, für die spätere Entwurfsphase weiter vorbereitet werden kann. Das sehen wir beim Eurythmeum, wo der Stock über dem Erdgeschoss eine Vorwärtsbewegung zeigt, sodass erst dann die massiven Säulen zur Notwendigkeit werden. Genauso sehen wir am Zweiten Goetheanum, dass das große Flügeldach – das mehr oder weniger auf das Massenmodell gelegt ist – im Wesentlichen die große Bewegung nach vorne macht.

Gehen und Stehen

Steiners Hinweise auf sein Architekturkonzept sind spärlich. 1923 finden wir einige Bemerkungen während einer Fragestunde im Rahmen eines Jugendkurses. Steiner nähert sich dem Gehen und Stehen des Menschen aus der Perspektive der Architektur am 14. Februar 1923 in Stuttgart: «Soweit man den Menschen in der Bewegung und stehend studiert, bekommt man die Form der Architektur. Ein vollkommener Bau ist nichts anderes als das vollkommene Stehen und Gehen des Menschen. […] dieses Statische und Dynamische im Menschen.»1 Im Stehen wirken die Kräfte aufwärts und abwärts und im Gehen nach vorne. Steiner fügt die Konzepte von Statik und Dynamik hinzu und sagt, dass die perfekte Struktur beide Elemente enthält: Statik und Dynamik, Stehen und Gehen.

Wenn wir uns unsere drei Gebäude noch einmal mit dem gerade erworbenen Wissen anschauen, sehen wir plötzlich, dass alle drei aus einem statischen und einem dynamischen Teil bestehen. Das Zweite Goetheanum zeigt dies am deutlichsten. Nähern wir uns diesem Gebäude in Richtung des Südportals, haben wir auf der rechten Seite die Rückseite mit den Arbeitsbereichen. Von der Gestaltung her ist dies statisch. Auf der linken Seite hingegen sehen wir im vorderen Teil eine enorme Dynamik, die auch im Design dynamisch ist. Dies ist der Bereich, in dem die Gäste empfangen werden, der Theatereingang, der Kartenverkauf, die Information, Kaffee und Tee, Toiletten und ein Treffpunkt für Führungen. Die Wahrnehmung von vorne ist am dominantesten, dort muss man sein. Im hinteren Bereich mit den Arbeitsplätzen hat man eigentlich nichts zu suchen.

Eurythmeum-Anbau (1924), Rückseite, Nordostansicht. Heute Rudolf-Steiner-Halde genannt.

Etwas Ähnliches sehen wir beim Eurythmeum. Von der Seite gesehen zeigt dieses Gebäude eine große Tür. Rechts sehen wir einen dynamischen Teil und links von dieser Tür befindet sich eine Art Erweiterung, die sehr statisch ist. Hier scheint es sowohl ein statisches Element auf der Rückseite als auch ein sehr dynamisches Element auf der Vorderseite zu geben. Im Haus De Jaager finden wir etwas Ähnliches. Das Atelier stellt das statische Element und der Wohnbereich das dynamische Element dar. Allerdings scheint der Kontrast hier nicht sehr artikuliert zu sein. Der statische Teil ist nicht ganz eine starre rechteckige Form, auch Kräftelinien wurden sichtbar gemacht. Ein zweites Zitat aus dem Vortrag vom Dezember 1914 könnte uns hier helfen: «Alles, was an Gesetzen in der Zusammenfügung der Materie baukünstlerisch vorhanden ist, ist auch durchaus zu finden im menschlichen Leibe. Ein Hinausprojizieren der eigenen Gesetzmäßigkeit des menschlichen Leibes außer uns in den Raum ist die Baukunst, die Architektur.»2

Wir haben bereits eine dynamische Vorderseite und eine statische Rückseite bei den Gebäuden gefunden. Finden wir das auch im menschlichen Körper? Ohne sich dessen sehr bewusst zu sein, ist unser Rücken ein viel stärkeres statisches Element an unserem Körper, als wir es eigentlich für möglich halten. Es geht nichts vom Rücken ab, was wir mit unserem tatsächlichen täglichen Funktionieren in Verbindung bringen können. In unserem täglichen Funktionieren sind wir vor allem von der Vorderseite unseres Körpers her aktiv, agieren aktiv, expansiv gegenüber der Welt und auch gegenüber unseren Mitmenschen.

Die Frontal- und die Medianebene

Die Ebene, die den statischen Teil unseres Körpers von unserer dynamischen Front trennt, wird als Frontalebene bezeichnet. Wenn wir uns unsere drei Gebäude noch einmal anschauen, können wir grob angeben, wo sich diese Frontalebene befindet. Während wir zuerst über die Entwicklung der Kräftelinien als Grundlage von Steiners architektonischem Konzept gesprochen haben, müssen wir nun feststellen, dass sowohl am Eurythmeum als auch am Goetheanum die Bauelemente hinter der Frontalebene keine Anzeichen dieser Kräftelinien aufweisen, sondern dass sie statisch gebaut worden sind. Es ist also nicht so einfach, wie wir zuerst gesehen haben. Sowohl am Eurythmeum als auch am Goetheanum besteht jedoch ein offensichtlicher Unterschied zwischen dem Volumen des vorderen Teils und dem des hinteren Teils. Der vordere Teil ist viel expansiver.

Nun können die Frontalebenen sowohl des ersten als auch des zweiten Goetheanum-Baus die ahnungslosen Beobachtenden auf diesem Hügel verwirren. Da es sich um ein Hauptgebäude mit einer Reihe von Nebengebäuden handelt, wird diese Ebene anscheinend für das gesamte Gelände dominant. Wenn wir das Gelände betrachten, stellen wir fest, dass alle Gebäude, die hinter dieser Frontalebene gebaut wurden, ein statisches Aussehen erhalten haben. Wir zählen dazu die drei Eurythmiehäuser (1920), das Verlagshaus (1924) und das Haus Schuurman (1925). Dies erklärt auch, warum in diesen Gebäuden keine Entwicklung von Kräftelinien sichtbar ist. Offenbar wollte Steiner den Kontrast zwischen Statik und Dynamik auch in der Umgebung des Goetheanum sichtbar machen.

Wenn wir über die Gesetze des menschlichen Körpers sprechen, ist die Medianebene so offensichtlich, dass es fast peinlich ist, noch darüber zu sprechen. Wir wissen aus täglicher Erfahrung, dass unsere Körper und die unserer Mitmenschen symmetrisch sind. In der künstlerischen Anatomie nennen wir die Ebene, die unsere linke Körperhälfte trennt und sie mit der rechten Körperhälfte spiegelt, die Medianebene. Diese Ebene ist ebenfalls ein Grundgesetz des menschlichen Körpers. Sie ermöglicht uns, unserem Handeln eine Richtung zu geben und uns im irdischen Raum zu orientieren, auch mit unseren Fahrzeugen und Werkzeugen. Aus diesem Grund sind auch sie symmetrisch, sonst wären wir nicht in der Lage, sie zu steuern oder mit ihnen zu arbeiten.

Zweiter Goetheanum-Bau, Südansicht, gehen und stehen.

Das architektonische Œuvre Rudolf Steiners lässt keinen Zweifel an der Symmetrie. Mit Ausnahme des Eurythmeums, das eindeutig einen Sonderfall darstellt, als Erweiterung des ursprünglichen Hauses Brodbeck, verdanken alle Gebäude auf dem Dornacher Hügel die Symmetrie seiner Hand. Eines der Ziele, welches sich in Steiners architektonischem Werk offenbart, ist es, eine Architektur in die Welt zu bringen, die eine möglichst enge Verbindung zum Menschen und insbesondere zum menschlichen Körper als Manifestation unseres irdischen Daseins hat. Das große Ziel ist es, eine Architektur zu schaffen, die eine tiefe Affinität zum Menschen hat. Entscheidend dabei ist, wie sehr wir uns mit diesem Gebäude verbunden fühlen.

Steiners Bauimpuls

Das charakteristischste Merkmal von Steiners Zugang zur Architektur scheint der dynamische Teil einer Struktur zu sein. Man muss vom Gebäude aus sehen können, dass es gut auf dem Boden steht, dass es das Dach gut trägt und dass es mehr oder weniger eine Vorwärtsbewegung zeigt. Zusätzlich gibt es auf der Rückseite einen statischen Teil. Aber das erfordert viel weniger kreative Anstrengungen als der dynamische Teil des Entwurfs. Natürlich müssen Vorder- und Rückseite gut zusammenpassen.

Es ist wichtig, dass auch statische Funktionen mehr oder weniger im statischen Teil des Gebäudes untergebracht sind. Wir können auch sehen, ob Funktionen über den linken oder rechten Teil des Gebäudes verteilt werden können. Auf diese Weise gibt es ein tragfähiges Konzept, mit dem wir zukünftige Bauprojekte schaffen können. Ein Bauherr, der so etwas will, ist dabei entscheidend.

Im Hinblick auf die diskutierten Gebäude in Dornach können wir uns fragen, inwieweit wir uns mit ihnen verbunden fühlen. Wenn man weiß, dass sich dieser Stil noch in der Entwicklung befindet, kann dies ein Hinweis darauf sein, inwieweit es dem Architekten gelungen ist, sich als Mensch in diesem Stil wiederzufinden. Und damit auch, inwieweit sich ein Architekt von diesem Architekturkonzept hat leiten lassen und damit zur Verwirklichung des Bauimpulses Rudolf Steiners beiträgt.


Alle Fotos: Peter Zimmer

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Die Erkenntnis-Aufgabe der Jugend. Ansprachen und Fragenbeantwortungen in Stuttgart am 14. Februar 1923, Dornach 1981, GA 217 a, S. 111.
  2. Rudolf Steiner, Kunst im Licht der Mysterienweisheit. Dornach 1990, GA 275, S. 43.

Letzte Kommentare