Keimzeit

Es ist Morgen am Ostersonntag.

Maria von Magdala steht auf der Schwelle zur Grabkammer und weint.

Weder steht sie draußen, sich fürchtend,

noch tritt sie neugierig ein.

Sie ist auf der Schwelle geblieben,

steht zwischen Draußen und Drinnen,

– dort harrt sie und weint.

Zwei andere Jünger waren schon da,

hatten das leere Grab, das Schweißtuch, die Totenbinden gesehen

– jetzt sind sie fort.

Maria aber steht und bleibt stehend.

Sie ist an die Stelle des Grabsteins getreten,

des Steins, der bis dahin den Eingang zum Grabe versperrte.

Doch so anders als der Stein ist Maria,

sie ist weich und gefüllt von einer trauernden Seele.

Ihre Tränen fallen zu Boden und treffen die Erde.

Ist Maria, den Boden durch Seelenschmerz bewässernd,

Gärtner der Schwelle?

Zwei Engel erscheinen an der Stelle,

wo sie gestern die Leiche hinlegten.

Die Engel sprechen, sie fragen nach Marias Tränen.

Warum weinest du? Woher kommt dein Schmerz?

Ich verlor Ihn am Kreuze, nun muss ich Ihn nochmals verlieren.

Ich weiß nicht, wo sie Ihn hingelegt haben, und nicht,

wo ich mit meiner Trauer hingehe.

Hier, vor dieser leeren Stelle

wird Seine Abwesenheit in meiner Seele selbst zur Leere.

Maria, klein und erbärmlich stehst du dort an der Schwelle

und sprichst mit leiser, erstickter Stimme.

Ein Bild der Schwäche, der Ohnmacht, des Leids.

Und doch bist du es, der die Engel begegnen,

– dir erscheinen sie in heller Fülle.

Warum fürchtest du dich nicht bei ihrem Anblick?

Warum erschrickst du nicht vor ihrer Ansprache?

Woher kommt die Kraft zu bleiben,

woher kommt dein Mut zu sprechen?

Ist nicht alles, was dich trug, genommen,

und dein Dasein ohne Ihn verwehrt?

War nicht dein Sein so mit Seinem verbunden,

dass nichts bleibt außer Liebe und Schmerz?

Du fürchtest dich nicht um das Eigene.

Es gibt nichts zu verlieren mehr.

Du bist Nichts und kannst allem begegnen,

– auch einem Engelheer.

Emanuela Assenza, ‹Dreiklang›, Acryl-Mischtechnik und Ölpastell, 117 × 150 cm

Maria wendet sich um.

Ihr Blick geht hinaus aus des Grabes Enge.

Sie sieht jemand stehen,

doch die Augen sind noch nicht bereit, die Gestalt zu erkennen.

Ist es der Gärtner, der schon so früh am Morgen

den Grabhain pflegt?

Dann hört sie seine Stimme,

sie muss wohl noch weinen, denn er fragt danach.

Er fragt auch, wen sie sucht.

Sie fasst Hoffnung.

Hat er wohl ihren Herrn gesehen?

Hat er Ihn getragen und kennt Seinen neuen Ort?

So soll er es sagen! Auch sie will Ihn tragen,

Ihn holen und salben.

Maria. Es spricht Seine Stimme.

Er nennt sie beim Namen, und sie weiß, wer Er ist.

Rabbuni. Sie antwortet mit dem Wort ihrer Sprache für Lehrer,

denn das ist Sein Wesen für sie.

So nehmen sie einander wahr an der Schwelle,

erkennen einander im neuen Licht.

Der eine ging durch des Todes Tiefe.

Die andere gab das Eigene hin für die Liebe.

Es ist Morgen am Ostersonntag.

An der Schwelle zur Grabkammer stehen zwei Wesen vereint.

Etwas Neues ist da,

wie ein Keim in der Erde gelegt an der Stelle

wo Maria im Dunkeln der Dämmerung stand.

Sie blieb stehen.

Ging weder heraus, noch völlig hinein.

Kann es sein, dass das Neue, begriffen im Keim

damit begann?

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