Irdische und kosmische Musik

Musik ist eng mit Spiritualität verbunden. Was hat sich daran im Zeitalter der elektronischen Musik geändert? Kann man von kreativer Entwicklung sprechen oder eher von einem Verlust? Der Musiker Omer Eilam beschreibt, wie er mit diesen Fragen ringt und wie er ‹Sphärenmusik› heute hört.


Letzten Juni war ich in Leipzig für das alljährliche Bachfest, das der Musik von Johann Sebastian Bach gewidmet ist. Es war das dritte Mal, dass ich an diesem Festival teilnahm, und es fühlte sich wie eine Art Pilgerschaft an: Musikliebende aus aller Welt machen sich auf den Weg zu dem Ort, an dem der Komponist fast sein ganzes Leben verbrachte und seine Musik immer weiter perfektionierte, um sie dem Erhabenen näherzubringen. Wenn man auf einem alten Holzstuhl in der Thomaskirche sitzend dem Thomanerchor – einem Knabenchor, der letztes Jahr sein 800. Jubiläum feierte – zuhört, der von der Empore einem Chor von Engeln gleich durch die Himmel tönt, kann man hinter den Klängen den geistigen Puls des Komponisten regelrecht wahrnehmen. Aus der zukunftsorientierten Großstadt Berlin kommend, war ich hoch erfreut, an dieser reichen Musiktradition teilnehmen zu können.

Zwischen den Konzerten diskutierte ich mit einem Freund über die unterschiedlichen Funktionen und Erfahrungen akustischer und elektronischer Musik. Der Einfachheit halber definiere ich akustische Musik hier als Musik, die von einem Instrument (bzw. einer Stimme) hervorgebracht und unverstärkt gehört wird. Elektronische Musik dagegen wird mittels Elektrizität erzeugt und erlebt, zum Beispiel als synthetisierte, lautsprecherverstärkte oder digital aufgenommene Musik. Ausgangspunkt unseres Gespräches war meine Erfahrung mit Menschen, die elektronische Musik ablehnen, weil ihr die ‹ätherisch-lebendigen Kräfte› abgehen, die akustische Livemusik auszeichnen. Mein Freund erklärte, dass diese Kräfte möglicherweise in der Körperlichkeit des Klanges, wie etwa vibrierenden Stimmbändern oder gezupften Gitarrenseiten, wirksam sind und dass wir uns darin üben können, diese physischen Phänomene zu durchdringen und die hinter ihnen liegende geistige Realität zu erleben: die musikalischen ‹Klangwesenheiten› und ihr Verhältnis zueinander.

Während keine Aufnahme mein Erleben beim Bachfest reproduzieren könnte, glaube ich doch, dass man beim Hören von elektronischer Musik dank eigener innerer Kräfte fähig ist, einen konzentrierten Raum zu schaffen, von dem aus man sich zum Geist erheben kann. Dass dies keine vergebliche Mühe ist, zeigen mir einige meiner tiefsten musikalischen Erlebnisse, die ich beim Hören von Musikaufnahmen hatte. Dabei erlebte ich eine innige Verbundenheit mit der Musik und dem Komponisten, fast als reiste ich in der Zeit zurück und begegnete ihm im Geist.

Als es mir vor ein paar Jahren nicht gut ging, setzte ich mich in einem nahe gelegenen Park an einen See und hörte mir den Trauermarsch aus Beethovens dritter Sinfonie an. Als ich die Augen schloss, hatte ich eine Vision: eine Vorahnung einer brennenden Welt, in der Flammen die ganze Natur verschlangen, in der die Menschen fast vollständig verschwunden waren und die durch meine Kopfhörer dringende Musik überall zu hören war, wie der Soundtrack zum Untergang der Welt. In dem Augenblick spürte ich, ja ich wusste sogar, dass der liebe Ludwig das auch sah, als er diese Noten so qualvoll zu Papier brachte. Wie in einer Zeitkapsel überbrachte mir seine Musik diese Botschaft in einem Augenblick von Klarheit in großer Not.

Das Bild ‹Lied des Minstrels›› (Diptychon) von Annael (Anelia Pavlova) beschreibt die Dualität von irdischer und kosmischer Musik.

Erste Begegnungen mit elektronischer Musik

Auf der Suche nach Bereicherung belegte ich einen Kurs über Musik im 20. Jahrhundert. Mir wurde zum ersten Mal klar, dass die musikalische Entwicklung nicht mit Beethoven oder Coltrane zu Ende war, wie einige meiner früheren Klavierlehrer behauptet hatten. Nach dem Weltkrieg herrschte eine Umbruchstimmung, in der Komponierende sich von allem Nationalistischen und von den Gräueltaten des Krieges distanzieren wollten. Gleichzeitig begeisterten sie sich für die neuen Synthese-, Aufnahme- und Manipulationstechniken, die völlig neue Arten von Musik ermöglichten. Karlheinz Stockhausen, eine der führenden Persönlichkeiten der Nachkriegsavantgarde sagte: «Neue Möglichkeiten verändern die Methode; neue Methoden verändern das Erleben, und neues Erleben verändert den Menschen. Mit allen Klängen, die wir hören, vollzieht sich eine Veränderung in uns: wir sind nicht mehr dieselben, wenn wir bestimmte Klänge gehört haben. Das gilt noch mehr für das Hören von organisierten Klängen, von anderen Menschen organisierten Klängen: Musik.»

Während meines Studiums am Institute of Sonology in Den Haag wurde mir klar, dass, anders als akustische Klänge, die von konkreten Objekten in der materiellen Welt erzeugt werden, elektronische bzw. synthetisierte Klänge nichts inhärent Physisches haben. Ein reiner Sinuston, das heißt die einfachste Form synthetisierten Klanges, existiert in der Natur nirgends. Wenn wir versuchen, die Entstehung eines reinen Sinustones zu verfolgen, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass er zunächst lediglich als abstrakte Vorstellung existiert, als hypothetische Schwingung mit einer bestimmten Frequenz von sagen wir 1000 Hertz (Zyklen pro Sekunde). Diese Vorstellung wird dann mit Hilfe eines Lautsprechers zur Erscheinung gebracht: mit einer schwingenden Membran, die die Luft in der Umgebung 1000-mal pro Sekunde hin- und herbewegt und so eine Schallwelle hervorbringt, die sich in unsere Ohren fortsetzt.

Dieser Vorgang ist wie eine Umkehrung der akustischen Tonerzeugung. Während man bei akustischer Musik durch die materiellen Schwingungen dringen muss, um die unsichtbare Musik zu hören, beginnt man bei elektronischer Musik mit dem Unsichtbaren, mit den Vorstellungen, die man dann mit technischen Mitteln konkretisiert. Bei der akustischen Musik dringt der Mensch also durch den physischen Aspekt des Klanges hindurch, um sich zum Geist zu erheben, während er bei der elektronischen Musik die abstrakten Klänge der geistigen Welt ergreift und sie auf die physische Ebene ‹herabholt›.1

Die Kunst des Zuhörens

Dieses Ergreifen und Konkretisieren eines Geistigen auf der Suche nach einer neuen Art von Musik war maßgebend für meine Komposition ‹Solar System Meditation›. Dahinter steht eine Vision von im Weltraum kreisenden, klingenden Objekten, deren Wesenheit von ihrer jeweiligen Bewegung bestimmt ist. Ausgegangen bin ich dabei von der Bewegung der Planeten um die Sonne in Abhängigkeit von Entfernung, Geschwindigkeit, Winkel usw. Aufgrund dieser Parameter erfolgte die Klangkomposition, wobei jeder Planet kontinuierlich einen entsprechenden Klang mit einzigartiger Frequenz und Bewegung im Raum hervorbringt. Mithilfe einer speziellen Software können diese Bahnen im Raum klanglich simuliert und in einem Mehrkanal-Audioformat wiedergegeben werden, das sich für jede Art von Lautsprecheranordnung eignet. In einem Konzert würden die Zuhörenden entsprechend der zentralen Stellung der Sonne in der Mitte des Saales sitzen, von den himmlischen Melodien und Rhythmen umgeben, als würden die Planeten um sie kreisen. Durch Zuhilfenahme der Technik wird eine Verbindung mit der ‹reinen› Realität und präzisen Mathematik des Himmels hergestellt – eine Leistung, die akustische Instrumente nur bedingt erreichen können. Was also als abstrakte Vorstellung beginnt, nimmt allmählich Gestalt an und wird Musik.

Man braucht kein Komponist zu sein, um eine tiefe Verbindung mit Musik zu erleben. Durch konzentriertes, aktives Zuhören können wir eine Beziehung zu Klängen herstellen – seien es musikalische oder solche, die uns im Alltag umgeben – und spüren, wie ihre Rhythmen in unserem Körper pulsieren und lebendig werden. Wir können diese Rhythmen in jedem Übergang zwischen Einatmen und Ausatmen spüren, im Ausdehnen und Zusammenziehen der Blutgefäße, im Anspannen und Entspannen der Skelettmuskulatur, in den Darmbewegungen und im elektrischen Fluss des Nervensystems. Das Zuhören selbst wird vom bloßen Zeitvertreib zur Kunstform und geistigen Tätigkeit.

Natürlich ist das nicht mit jeder Art von Musik möglich. Man muss nach Musikstücken suchen, die als Brücken zur geistigen Welt gestaltet wurden. Ich komme noch einmal auf Stockhausen zurück: ‹VISION›, die letzte Szene seiner Oper ‹Donnerstag aus LICHT›, erzählt die Erlebnisse des Erzengels Michael, der auf die Erde heruntersteigt, um Mensch zu werden (eine Christus-ähnliche Gestalt also). Michael wird in der Oper als eine Dreiheit von Gesang, Trompete und Tanz dargestellt und von einem Synthesizer begleitet, der die akustische (physische) und die elektronische (kosmische) Welt miteinander in Berührung bringt. In der vorletzten Strophe tut Michael seine Erdenmission kund:

Mensch geworden bin ich,
um mich und GOTT den Vater
als menschliche VISION zu sehn,
um Himmelsmusik den Menschen
und Menschenmusik den Himmlischen zu bringen,
auf dass der Mensch GOTT lausche
und GOTT seine Kinder erhöre.

Zu der oben erwähnten Ablehnung gegenüber elektronischer Musik zurückkehrend lautet die Frage vielleicht nicht, ob elektronische Musik gesund und spirituell ist, sondern eher, wie wir elektronische Musik vergeistigen können. Unser kurzer Ausflug in die Musikgeschichte zeigt, dass elektronische Musik im schöpferischen Streben der Menschheit ein noch recht junger Impuls ist, der um seinen rechtmäßigen Platz in unserem kollektiven Bewusstsein ringt. Um aktiv an diesem Prozess teilnehmen zu können, während wir uns im Alltag der Musik hingeben, können wir uns das Zuhören selbst als eine Kunstform vorstellen, bei der wir durch konzentrierte Aufmerksamkeit und Liebe sowohl das Irdische vergeistigen als auch das Kosmische körperlich werden lassen können. Wenn wir uns das Bild der drei Michael-Figuren in Stockhausens ‹VISION› vor Augen führen, sollten wir in der Lage sein, uns selbst die Frage zu stellen: Können wir unsere musikalische Sensibilität so weit entwickeln, dass wir zu Boten Michaels auf Erden werden können?


Übersetzung aus dem Englischen von Margot M. Saar

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Footnotes

  1. Eine ähnliche Dualität ist denkbar, wenn man das Komponieren mit dem Zuhören vergleicht: Der Übergang vom Konkreten zum Abstrakten ist eher dem Zuhören verwandt, während der Übergang vom Abstrakten zum Konkreten dem Komponieren entspricht, und zwar unabhängig davon, ob es sich um elektronische oder akustische Musik handelt. Allerdings ist diese Dichotomie nicht eindeutig und man kann spüren, dass beide Vorgänge in der elektronischen und in der akustischen Musik, beim Zuhören und beim Komponieren, gleichzeitig ablaufen.

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