Ist Kunst wirksam oder wird sie zum politischen Mittel deklassiert? Unser Autor reiste zur weltbekannten Kunstausstellung nach Italien und fand eine Ausstellung, die vermittelt, uns ‹fremd› und transparent zu werden.
Im April eröffnete die 60. Ausgabe der Biennale di Venezia unter dem Motto ‹Stranieri Ovunque› (Fremde überall) mit fast 90 Pavillons und 331 Künstlerinnen und Künstlern, darunter viele, die zum ersten Mal international ausstellen. Der Fokus liegt auf wenig beachteten, queeren und indigenen Kunstschaffenden, Autodidakten und Volkskünstlerinnen, die zwischen globalem Norden und Süden migriert sind oder in Exil und Diaspora leben. Ein feierlicher Akt für Außenstehende.
Das Politische der Kunst oder die Politik der Kunst
Kunst kann die Welt nicht verändern, aber unseren Blick darauf. Diese Aussage des brasilianischen Kurators Adriano Pedrosa ist in ihrem Realismus nachvollziehbar, aber zugleich enttäuschend. Kann die Kunst nicht mehr? In Krisenzeiten wie unseren erscheint das Statement wie eine Rechtfertigung dafür, dass die Kunst trotz ihrer Hilflosigkeit angesichts von Terroranschlägen, Gleitbomben und schmelzenden Gletschern einen Wert hat. Wenn die Kunst das sinnlose Töten von Menschen nicht verhindern kann, kann sie wenigstens daran arbeiten, den Ausschluss von Andersdenkenden und -lebenden aufzuheben. Sie kann den Blick schulen und erweitern, sodass wir lernen, inklusiver zu denken.
Hat die Kunst nicht schon verloren, wenn sie sich rechtfertigen muss? Mehr noch: Mit allem Verständnis für Kunst als mentale Übung und intellektuelles Diskursfeld, ich meine, sie kann mehr als unsere Sehgewohnheiten verändern und sie tut es auch. Die subtile und mitunter subversive Wirkung der Kunst ist im Alltag allgegenwärtig und nicht nur beim Museums- oder Konzertbesuch. Stellen wir uns eine Gesellschaft gänzlich ohne Kunst vor. Wie öde und wie trist. Etwa wenn nur noch der Ausschluss, die Überwachung und das Verbot herrschen und jeder Kunstausdruck verdächtig geworden ist, weil die Kunst kein Spiel ist, oder gerade ein Spiel, aber ein ernstes und nicht kontrollierbares Spiel, über das niemand verfügt, nicht einmal die, die es hervorbringen. Die enorme Kraft, die hier in Konkurrenz zum Gesetz auftritt, ist die Freiheit. Deshalb braucht die Kunst die Politik nicht. Und ja, natürlich, wenn sich die Kunst in ihrem eigenem Recht entfaltet, dann wirkt sie auf die Gesellschaft ein und wird, wenn man so will, ‹politisch›.
Wenn sich die Biennaleleitung rechtfertigt und sich vor dem politischen Druck der Gesellschaft legitimieren muss, dann werde ich misstrauisch und frage mich, ob die Kunst nicht zum Mittel der Politik geworden ist. Dass Pedrosa noch hervorhebt, dass er mit dem Titel ‹Stranieri Ovunque› (Fremde überall) den politischsten Titel in der Geschichte der Venedigbiennale gewählt hat, unterstützt diese Tendenz.
Verpasse ich gerade etwas Wesentliches? Halten wir einen Moment inne. Es ist gut möglich, dass mein geerbtes und erworbenes Weltbild mich daran hindert, zu sehen, wie sich die Kunstwelt gerade transformiert. Ich beginne von vorne.
Lernen, sich zu befremden
Der englische Titel der Biennale ‹Foreigners Every-where› ist einer Arbeit des feministischen Kunstkollektivs Claire Fontaine entnommen. Seit 2005 setzt es den Ausdruck in einer wachsenden Zahl von Sprachen als Neonschrift ein. Die beiden Wörter verbinden die Ambiguität des Fremden mit dem Universalen, das uns verbindet, nämlich, dass wir alle Fremde eines anderen sind. Die Fremdheit verbindet und trennt uns zugleich. Der Riss der Fremdheit ist allgegenwärtig, unkalkulierbar und er tut sich nicht nur da auf, wo wir ihn erwarten. Die erwartete Fremdheit zeigt sich sogar als oberflächlich im Verhältnis zur spezifischen Fremdheit. Dass ich mir in einer unbekannten Kultur, in einer fremden Stadt fremd vorkomme, ist gegeben und ein Phänomen der Opazität. Wir haben gelernt, damit umzugehen, wir haben Tricks und Begriffe zur Hand, um durch Ausgrenzung und Fremdbestimmung die eigene Identität zu schützen und zu bekräftigen. Hierin liegt die Wurzel der Fremdenfeindlichkeit. Dagegen ist die Fremdheit vor der eigenen Lebenspartnerin, vor dem engen Freund, mit dem du über zwanzig Jahre Freundschaft verbindest, und gar vor dir selbst, unheimlich und transparent. Wenn sie auftritt, dann zieht ein Schleier ein zwischen mir und dem Fremden – eine transparente Grenze. Diese Form der Fremdheit ist herausfordernd und verunsichernd, aber sie ist produktiv und sie tötet die Xenophobie im Keim.
Der Begriff der Fremdheit – so verstanden – scheint mir eine treffende Lagebestimmung der heutigen Menschheit zu sein. Eine Menschheit, die sich jenseits von Konvention und abgelebten Traditionen, von eingeschliffenen Idiomen und Phrasen sucht. Eine Menschheit, die weit zurückfällt, wenn sie der transparenten Grenze ausweicht und stattdessen in die Sicherheit und Eindeutigkeit der Ausgrenzung, des Nationalen, des Lokalen flüchtet.
Mit dieser Perspektive auf die Fremdheit lassen sich die identitätspolitischen Bemühungen und die Einengung der Kunst als Repräsentation für eine Nation, für eine Gruppe, seien es Frauen, queere Personen oder Indigene, besser einordnen. Pedrosas Statement («Kunst kann die Welt nicht verändern, aber unseren Blick darauf») würde sich jetzt so lesen: eine Ausstellung als Übung in Toleranz und Inklusion, aber auch eine Ausstellung gegen das Vergessen und eine Aufforderung an die Kunstgeschichte, sich neu zu ordnen. Keine große Aufregung, aber ein kleiner, geduldiger Schritt weiter. Wie der ghanaische Schriftsteller Ayi Kwei Armah einmal geschrieben hat: «Kultur ist ein Prozess und kein Event.»1
Wer bekanntere Namen in der Hauptausstellung und in den Länderpavillons vermisst, findet ein reiches Angebot an anspruchsvollen Begleitausstellungen, zum Beispiel Berlinde De Bruyckeres Erzengel-Skulpturen in der Basilika San Giorgio Maggiore, Pierre Huyghes Werke in der Punta della Dogana, eine umfassende Ausstellung mit der US-amerikanischen Malerin Julie Mehretu im Palazzo Grassi oder Christoph Büchel, der drei Stockwerke des Palazzo der Fondazione Prada in ein Pfandhaus umgewandelt hat – eine geniale Inszenierung.
Die Venedigbiennale läuft noch bis 24. November 2024.
Footnotes
- Aus: Eric Otieno Sumba, Africa Out of Venice, in: Frieze, Nr. 242, April 2024, S. 110. Übersetzung aus dem Englischen: J. Nilo. Das Zitat im Original: «Culture is a process, not an event. […] The development of culture depends on a steady, sustained series of supportive activities whose primary quality is not a spectacular extravagance but a calm continuity.»