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Eine in sich ruhende Sphäre

Damit das Schöne uns erheben kann, damit es «den ganzen Menschen über sich selbst hinaushebt, […] muss es nach dem Muster der Idee aufgebaut sein», so Rudolf Steiner in seinem Autoreferat von 1888 über Goethes Ästhetik. Denn die Ideenwelt birgt in sich «die innere himmlische Ruhe und Vollkommenheit». Dort ist «kein Widerspruch, kein Misston» zu finden, «weil sie ein Unendliches in sich ist».


Soll sich der Künstler also einem Ideell-Allgemeinen unterwerfen und seine originelle Individualität aufgeben? «Nach dem Muster der Idee aufgebaut sein» bedeutet aber das Gegenteil: Was das Bild dieser Ideenwelt «zu einem vollkommenen macht, liegt in ihm selbst». Mit anderen Worten, «der Gegenstand, den der Künstler vor uns stellt», trägt «keine andere Vollkommenheit als seine eigene an sich».

Jedes gelungene Werk wird somit zum individuellen Kosmos, der in sich selbst ruht. Vom Kunstbetrachter verlangt solch eine Kunst eine Überwindung, eine innere Tätigkeit und Hingabe, um sich dem Kunstwerk anzunähern, um es innerlich zu betreten. Denn er wird einen neuen Kosmos entdecken müssen, eine neue Sprache, die er zuerst erlernen muss. Wenn ich vor einen Kosmos trete, der in sich selbst ruht, fühle ich mich zuerst weggestoßen, weil er zuerst als in sich geschlossen erscheint. Es ist also auch für mich ein Weg der Veränderung.

Wenn wir es hier nicht mit einer Kunst zu tun haben, die das Göttliche «in die Welt einfließen lässt» (von oben herab), sondern die «die Welt in die Sphäre der Göttlichkeit erhebt» (von unten herauf), so muss man sagen, dass diese Erhebung auch vom Betrachter abhängt, der sich aus eigenen Kräften hineinsteigern muss. Nicht etwa, weil er besondere Bücher gelesen haben sollte, um das Werk zu verstehen, sondern weil er mit seinem Empfindungsvermögen in ein ganz Besonderes, in eine in sich ruhende Sphäre eintreten muss, wenn er dort das Universelle finden soll.


Alle Zitate aus Rudolf Steiner, GA 271, Autoreferat von 1888

Titelbild: Gerhard Wendland, ‹Bunte Sonne I›, erstes Blatt einer Radierungsserie von zwölf ‹Gestirnen›, 1964

Korrigendum (1.2.2019): Leider war das Bild von Gerhard Wendland vorher unkorrekt bezeichnet worden. Dies wurde oben angepasst.

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