Ein neues Feld

Diesen Sommer führt die Goetheanum-Bühne vom 12. bis 16. Juli alle vier Mysteriendramen Rudolf Steiners auf. Gioia Falk hat die künstlerische Gesamtleitung und führt die Eurythmie, Christian Peter führt das Schauspiel. Ein Gespräch mit beiden zum Beginn der Proben. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Um neue Mitglieder für das Schauspiel-Ensemble zu gewinnen, habt ihr letztes Jahr eine Einladung für ein großes Audit ausgesprochen. Wie war die Resonanz?

Christian Peter Es haben sich 40 Interessierte gemeldet, wobei viele zwar zu den Mysteriendramen eine enge Beziehung hatten, aber Deutsch nicht als Muttersprache haben. Zu diesen Sprachproblemen kam häufig auch das Alter. Es ist ja großartig, wenn man in seinen letzten Berufsjahren sich der Kunst widmen will, das ist für den Aufbau eines Ensembles aber selten passend.

Gioia Falk Ja, und manche Interessierte standen noch am Anfang ihrer Ausbildung und ohne Bühnenerfahrung. Deshalb sind wir dann gezielt auf Menschen zugegangen, die Erfahrung mit Schauspiel und Sprachgestaltung haben. Das führte uns zu einem tragfähigen Ensemble. Da sind wir sehr froh.

Wie fügen sich die Jüngeren zu eurer erfahrenen Gruppe?

Falk Sie sind unbefangen und können sich in ihre neuen Rollen erstaunlich gut einfügen. Ich habe den Eindruck, dass die großen Fragen, die Rudolf Steiner in den Dramen aufwirft, existenzieller Teil ihres Lebens sind.

Peter Ja, es ist eine neue Generation, die da jetzt nachkommt. Es sind nicht viele, aber diejenigen, die jetzt einsteigen, verbinden sich sehr schnell mit dem, was schon da ist.

Die Perspektive besteht ja nun in drei Aufführungszyklen – oder?

Peter Ja, jetzt im Sommer, dann Weihnachten 2024 und Weihnachten 2025. Das ist die zweite Hälfte einer Fünfjahresplanung. Wie geht es dann weiter? Diese Frage werden wir rechtzeitig mit der Leitung angehen. Die Dramen sind ein zentrales Anliegen des Goetheanum. So hoffen wir, dass unser neuer Griff tragfähig ist und den Menschen den Zugang zu diesem Werk öffnet.

Was heißt ‹neuer Griff›?

Falk Unser bestehendes Bühnenbild bei den Mysteriendramen ist ja sehr sparsam, offenlassend, sodass die Menschen auf der Bühne das Bild bestimmen. Umso mehr zählt der Dialog, das Miteinander. Das wollen wir intensiver gestalten.

Peter Wir hatten jetzt beinahe hundert Jahre ein und dieselbe Inszenierung, die Rudolf Steiner in München angelegt und Marie Steiner dann übernommen hat. In den späten 80er-Jahren hat Walter Roggenkamp sie neu gemalt und technisch besser umgesetzt, aber es blieb doch die ursprüngliche Inszenierung. Jetzt spielen wir die Neuinszenierung kaum 15 Jahre. Da sollten wir uns weiter die Zeit lassen, diese Inszenierung weiterzuentwickeln. Insofern ist es verständlich, dass 2010 nicht wenige überrascht oder zuerst sogar irritiert waren, weil die Mysteriendramen plötzlich anders erschienen. Uns liegt daran, uns mehr auf das Geschehen auf der Bühne zu richten und den Dialog der Figuren, ihre Interaktion zu zeigen. Das lebt aus den einzelnen Persönlichkeiten und hängt davon ab, wie der oder die Einzelne es macht. Und so denke ich, ist das jetzt doch eine ziemliche Veränderung, wenn Maria und Johannes neu besetzt sind. Ebenfalls neu ist, dass wir Johannes und Maria nach dem zweiten Drama wechseln.

Wie sind da eure Erfahrungen mit neuem Publikum, das die Mysteriendramen noch nicht kennt?

Falk Beim letzten Zyklus, Weihnachten 2021, hatten wir wieder die ungekürzte Fassung gespielt. Da wurde mir erzählt, dass ganze Familien mit drei Generationen im Publikum saßen …

Peter Die Mysteriendramen sind nicht für jeden etwas. Jede Kunstrichtung hat ihr Publikum. Das gilt auch für die Mysteriendramen. Menschen, die sich mit der spirituellen Existenz auseinandersetzen, finden in den Dramen aber unendlich viele Anregungen und Inspirationen zu den Herausforderungen des Menschseins. Durch unsere Tourneen mit einzelnen Szenen der Dramen haben wir neue Interessierte gewonnen, auch solche, die aus verschiedenen Gründen wie Mobilität oder Finanzen nicht ans Goetheanum reisen können.

Gibt es eine bestimmte Idee, die ihr ins Zentrum rücken wollt? Ihr habt der Tagung um die Dramen den Titel ‹Meditation und Gesellschaft› gegeben.

Falk Den Prozess haben wir im Auge. Wir wünschen uns, dass die Darsteller in die Bilder einsteigen und dabei das Publikum mitnehmen. Da geschieht viel, bevor überhaupt gesprochen wird. Da geht es darum, den Pausen Inhalt zu geben. Ich habe das Gefühl, mit diesem Neuanfang können wir uns noch einmal dieser Frage widmen, sowohl in der Eurythmie als auch im Schauspiel. Wieso erscheint in diesem Moment diese Figur? Was löst es aus und was ist da vorausgegangen? Das Interesse der Neuen hilft uns, noch mal frisch dranzugehen. Es ist also überhaupt keine Routine, sondern eher noch einmal eine neue Feldbegehung. Das hängt mit dem Tagungsthema ja eng zusammen. Denn meditative Erfahrung ist ja ebenso ein offener Prozess.

Das bedeutet viel Textarbeit?

Falk Aber nicht nur gedanklich, sondern situativ. Was ist denn das für eine Situation? Finden wir ein inneres eigenes Bild für das, was Rudolf Steiner szenisch schreibt.

Peter Jeder dieser Protagonisten geht einen ganz eigenen Weg, unglaublich verschieden von jedem anderen. Diese Einseitigkeiten machen ihn menschlich aber auch verletzlich.

Im gewöhnlichen Gespräch wechseln sich Bedeutung und Belanglosigkeit ab. Anders in den Mysteriendramen: Hier scheint jede Zeile Gewicht zu haben. Wie lässt sich das dramatisieren?

Peter Interessant ist ja, dass man bei Rudolf Steiner sehen kann, dass sich im Fortlauf der Dramen etwas entwickelt. Die Texte sind am Anfang eher lang und dadurch geht das Dialogische etwas verloren. Die stärksten Momente sind der Übergang von einer Replique zur nächsten. So macht es einen großen Unterschied, ob eine vierseitige Szene aus vier oder aus zehn Repliken besteht.

Falk Ich habe dieses Problem stark in der Eurythmie, wir haben ja noch weniger Dramatik und das müssen wir lösen, indem wir die einzelnen Momente, das Situative entschlüsseln. Dabei zeigt sich, wenn du in einen Gedanken einsteigst, dann bleibt häufig eine Frage offen, die ist dann Thema des nächsten Gedankens.

Peter Wenn wir mit den Mysteriendramen auf Tour sind und thematische Szenencollagen an den verschiedenen Orten spielen, dann sind das gekürzte Szenen. Dabei beobachten wir, dass Szenen durch eine Kürzung an Dramatik tatsächlich gewinnen, manche mehr, manche weniger. Die Mysteriendramen ungekürzt zu spielen, ist ja kein Diktum von Rudolf Steiner, im Gegenteil, er hat oft Texte und Musikstücke für die Eurythmie gekürzt. Speziell ist nun bei uns, dass alle Darsteller aus dem Wissen und dem Umgang mit dem ungekürzten Werk dann einzelne Szenen komprimiert spielen. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man nur mit einer gekürzten Fassung umgeht.

Bei dem Gespräch mit dem ehemaligen Schauspieldirektor von Biel, Hans Ammann, zu den Mysteriendramen sagte er, dass ihm in der Inszenierung die Stille fehle. Es werde ständig gesprochen.

Falk Das sehe ich auch so. Ich denke, das kommt. Wir haben heute Sehnsucht nach der Stille und empfinden sehr genau, wie viel in der Stille geschieht.

Peter Rudolf Steiner hat alles in Worte gefasst, alles, was geschieht, wird kommentiert. Wenn wir Stille in den Mysteriendramen haben wollen, dann muss etwas unausgesprochen bleiben.

Falk Es gibt eine Form der Stille, die wir neu ergreifen: Bevor etwas passiert, wenn ein Bewusstseinswechsel geschieht, der Protagonist im Tagesbewusstsein ist und plötzlich tritt was anderes ein. Das ist ein Moment der Wandlung, der mich aufhorchen lässt.

Was bedeutet es für euch, jetzt in dieser Zeit die Dramen zu spielen?

Falk Wie gehen die miteinander um? Diese Kernfrage unserer Zeit stellen die Dramen fortwährend. Die Dramen rufen uns zur Friedensarbeit auf. Frieden nicht nur zu wünschen, sondern etwas dafür zu tun. Nach dem dritten Drama müssten eigentlich alle Figuren auseinandergegangen sein, doch sie halten die Verbindung.

Peter Überhaupt hebt der Reinkarnationsgedanke, der sich durch die Dramen zieht, alle heutigen Fragen um Nation und Volkszugehörigkeit auf eine völlig andere Ebene. Neben dieser enormen Weite sind die Dramen immer ganz nah an der einzelnen Seele, wenn sich die Figuren gegenseitig erzählen, was sie fühlen. Das ist die naheliegendste Form von Friedensarbeit.


Titelbild von links: Christian Jaschke, Christian Peter, Darius Matthies, Gioia Falk, Thomas Ott, Ioana Fărcăşanu, Andreas Heinrich. Foto: Simon Peter

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