Ein je konkreter Mensch

Es sind Nationen, die in den Krieg ziehen. Ein nationales Denken hat die Negierung des Individuums und die Rekrutierung von Massen als Anlage in sich. Was überwindet heute das ‹Volksgötterzeitalter›? Der Geist unserer Ichheit schafft es, Menschen zur Menschheit zu führen.


Der Maßstab einer Ethik im 21. Jahrhundert ist das Individuum, dieser Mensch – nicht die Masse. Die Masse von Soldaten, eine Armee, ist ein Fehlmaßstab und eine Missachtung des Individuums. Im Ersten Weltkrieg wurden die Rekrutierungszahlen in die Höhe getrieben. Die Entente setzte knapp 42 Millionen und die Mittelmächte fast 24,5 Millionen Soldaten ein. Am Ende dieses Ersten Weltkrieges waren 17 Millionen Tote zu verzeichnen. An der Front zählte die Masse. Daheim geliebte Persönlichkeiten starben wie die Fliegen im Schicksal des anonymen Soldaten. Der Ort des Individuums ist die überschaubare soziale Gemeinschaft. Das war früher die Familie, heute vielleicht noch das ‹Zuhause›: das Lebensumfeld, in dem ich mein Schicksal auszuleben versuche, Beruf, Partner, Kinder, Hobby, Garten. In dieser Gemeinschaft werde ich durch die anderen zum Individuum. Ihre Anerkennung holt mich aus der Anonymität der Menschenmasse heraus. In dieser Gemeinschaft wurden die anonymen Soldaten zu Vermissten. An der Front waren sie einer von unfassbar vielen, der durch einen Nachrückenden möglichst bald zu ersetzen war. In der Gemeinschaft zu Hause eine klaffende Lücke, die nicht mehr gefüllt werden konnte; unersetzlich. Diese Lücke muss uns selbst durch und durch als ganzen Menschen erfassen, muss uns zu Herzen gehen – erst dann werden wir dieser individuellen, unersetzbaren Lücke gerecht, und auch einer Ethik des Individuums.

Eine Szene aus dem Film ‹Die Kinder des Monsieur Mathieu›: Der kleine Pépinot wartet 1949 vor dem Internat darauf, dass ihn sein Papa abholen werde. Aber nicht nur der Vater, auch seine Mutter waren im Krieg umgekommen. Auf immer wird dieses Kind auf seine Eltern warten – eine ewig stumme Lücke wird bleiben, eine Unerfülltheit, ein Sehnen, das nur hier auf Erden erfahrbar ist: die sinnlich-leibliche Gegenwart der geliebten Seelen. Die Rührung dieser Szene senkt sich zum Ende des Filmes noch tiefer ins Herz – und erst in dieser Herzenstiefe findet sich der Ort einer Ethik des Individuums. Pépinot entschließt sich, dem aus dem Internatsdienst ausscheidenden Monsieur Mathieu zu folgen und ihn zu seinem Vater zu nehmen. Die kleine Hand des verwaisten Kindes in der großen Hand des neuen Vaters. Ein Neubeginn aus der freien Tat zweier liebender Seelen, die sich gegenseitig überantworten durch diese individuelle Tat.

Die grundsätzliche Unersetzbarkeit des Individuums muss zum Maßstab des gesellschaftlichen Miteinanders werden. Kein Mensch darf heute mehr als ein Anonymer unter uns wandeln, geschweige denn als ein solcher wieder von uns gehen. Wer war er? Was bewegte und begeisterte ihn? Was plagte ihn? Das Nichtwissen darum hinterlässt eine unerfüllte Lücke. Wahres Interesse am anderen erst installiert dessen Individualität. Ein solches Interesse muss sich in das Drama, in Leid und Freude eines anderen Menschen einleben können. Ob jemand für die eigenen Anliegen brauchbar oder einsetzbar ist, blickt am Individuum vorbei und ruft die Tragik der anonymen Lücke für denjenigen hervor, der durch ein solches Fehlinteresse ins Schattendasein gerät. Und genauso entsteht eine Lücke, wenn man mit sich selbst hinterm Berg hält – sei es aus Verstandeskalkül, sei es aus gemütshafter Zurückhaltung.

Eine Ethik, die das Individuum als Maßstab hat, bedarf der Bejahung einer echten Begegnung, das heißt einer solchen Begegnungskultur, in der alle Beteiligten geistesgegenwärtig und damit zugleich zukunftsoffen werden. Dass Milliarden Menschen hungern, dass das heute noch möglich ist, schreit zum Himmel. Aber nicht durch die Milliardenzahl, sondern durch die zigfache Wiederholung eines einzigen Falles: dass dieser konkrete Mensch, dieses Individuum an Hunger stirbt. Und wäre es nur ein Mensch, der Hungers stürbe, der Schrei gellte genauso aufwärts zum Himmel. Es ist die Missachtung des Individuums, die Missachtung seines Wollens, die da schreit. Es entsteht eine Lücke, die dort bleibt, wo ein Mensch kein Zuhause finden konnte, in dessen Gemeinschaft er oder sie sich hätte entwickeln dürfen. Aber die Masse hat ausgedient, es gilt das Individuum, der Mensch.


Titelbild Die weißen Gräber gefallener Soldaten aus dem Weltkrieg 1914–18 auf einem belgische Soldatenfriedhof in Westflandern. Foto: CC0 Public Domain.

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