Diverse Menschengemeinschaft

Es war ein Fest der Freude, an dem die Menschheit im Goetheanum zu Gast war. Divers und doch geeint in dem Willen, die Zukunft der Kindheit zu gestalten.


Montag, 10. April, 20.30 Uhr – 995 Pädagoginnen und Pädagogen aus 61 Ländern haben gerade den Vortrag des Spanischen Philosophen Josep Esquirol gehört, da betritt ein Mann mit Lederjacke und Fernrohr die Bühne. Von extravaganten Damen und Herren und einem Harlekin gefolgt, sprechen sie mehrere Tagungssprachen nach- und durcheinander, schließlich versteht man doch: sie möchten weg von hier, nichts wie weg von diesem problematischen, verschmutzten, langweiligen Planeten Erde. Glücklicherweise kann der Mann mit dem Fernrohr Raumschiffe steuern und landet mit seiner Truppe bald auf dem Mars, das heißt, in einer anderen Ecke des Saales. Doch auch dieser Planet wird schnell unwirtlich und uninteressant, die Flucht geht weiter, bis nach einem letzten Flug, begleitet von einem Rachmaninov-Klaviersatz, die Einsicht auftritt: Was zum Bleiben einlädt, sind nicht die mehr oder minder angenehmen Verhältnisse, sondern es ist die Liebe. Esquirol hatte auf seine Weise Ähnliches gesagt wie die jungen Schauspielerinnen und Eurythmisten der Goetheanum-Bühne. Die Einladung, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, erfolgt durch Pädagoginnen und Pädagogen, die sich Zeit nehmen, die einen besonderen Ort gestalten und dort eine herzliche Beziehung zu Kindern und Jugendlichen aufbauen.

The body we are

Dienstag – Es vibrieren wieder viele Sprachen durch den Großen Saal, Englisch und Holländisch als kräftige Melodie, mit spanischer kräftiger Begleitung und einem Chor nordischer Sprachen, mit italienischen, französischen, ungarischen, chinesischen und vielen anderen Harmonien und einer zarten Doppelstimme aus Russisch und Ukrainisch. Deutsch? Ein diskreter Basso continuo. Bevor die Vorträge beginnen, breitet sich Stille aus. Eine junge Frau aus den Niederlanden steht auf der Bühne und schweigt. Dann beginnt sie zu singen, sie bringt den Großen Saal zum Singen, ohne Worte. Thomas Fuchs, Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, drückt das Thema der Tagung mit einem Begriffspaar aus, das so markant ist, dass es in der Folge immer wieder auf der Tagung zu hören ist, mehr noch in der englischen Übersetzung. Er erklärt den Unterschied zwischen Leib («the body we are») und Körper («the body we have»). Das kleine Kind erlebt sich unbewusst als lebendige leiblich-seelische Einheit, es ist ganz Leib und ist da in leibhaftiger Gegenwart. Der pubertierende Jugendliche hingegen fühlt sich verschieden von seinem Körper, der ihn stört, den er versteckt, den er stylt. Der Körper wird zum physischen Gegenstand, der einem fremd werden kann, den man als Objekt beliebig verändert oder manipuliert. Der Entfremdung vom Körper, der zum manipulierbaren Objekt, zur Ware wird, könne man durch Erziehung und Selbsterziehung entgegenwirken. Spontane leibliche Existenzweisen und ein ‹Sich im Leib auf der Erde zu Hause fühlen› müssten heute bewusst angestrebt werden.

Aber wie? Wilfried Sommer, Dozent am Waldorflehrerseminar Kassel, macht einen Vorschlag für den naturwissenschaftlichen Unterricht der Oberstufe. Der Vortrag ist detailliert, präzise, konkret. Es geht darum, wie bei den Versuchen, den Versuchsbeschreibungen und bei der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit an das leibliche Erleben in der frühen Kindheit und an die Sinneserfahrungen der Jugendlichen angeschlossen werden kann.

Ganz praktisch

Mittwoch – Weitere Anregungen für die tägliche Erziehungspraxis werden gegeben. Beide Rednerinnen führen aus, wie die allgemein formulierte Idee von Thomas Fuchs im Kindergarten und in der Schule umgesetzt werden kann. Kathy MacFarlane, Waldorferzieherin aus Neuseeland, spricht von einem «Angriff auf das rhythmische System», der durch die digitalen Medien und durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung stattgefunden habe. Durch Verlangsamung und Vereinfachung der Abläufe in den Kindergärten, durch die Zeit, die man sich für sorgfältige Pflege der Umgebung nehme, könne man den Kindern helfen, atmen zu lernen, und ihre Lebenskräfte stärken. Michal Ben Shalom, Klassenlehrerin und Dozentin aus Israel, formuliert ein philosophisch-poetisch-pädagogisches Plädoyer für das Gehen. Wie viele Kinder und Jugendliche kommen «vom Bett direkt in die Schule» mit minimaler leiblicher Bewegung. In dieser Situation müssten Eltern und Lehrende Fantasie aufbringen für Lösungen, wie jeden Tag gelaufen und gewandert werden kann. «Es fördert Rhythmus, vertieft die Atmung, unterstützt den Kreislauf, ermöglicht Harmonisierung des rhythmischen Systems, des mittleren Menschen, fördert Leben.» «Dieser Vortrag hat mich erschüttert», sagte ein Teilnehmer der Gesprächsgruppen, in denen vormittags noch einmal die Themen in kleinerem Kreis bewegt werden konnten. «Ich arbeite in einer Schule in einer riesigen Großstadt, in der Wanderungen unangenehm, ungesund und gefährlich sind. Bin ich mit meinen Schülern zum Kranksein verurteilt?» «Denk doch an gestern Abend», wurde ihm geantwortet, «die Bothmer Gymnastik von den ungarischen Schülern und Schülerinnen, wie die Schönheit, die Kraft und die Durchseelung des Leibes da zu erleben war, Freude, im Leib zu Hause zu sein – und gleichzeitig eine meditative Stimmung.» Weitere Stimmen dazu: «Eurythmie, Gymnastik, Musik, Sprache – alles das sind Tätigkeiten in der Waldorfschule, die Gesundheit und Embodiment emöglichen – damit deine Seele sich in deinem Leib ausdrücken kann.» «Diese Gesprächsgruppen sind das Beste: dass wir hier miteinander sprechen, einander zuhören und die Vortragsthemen viel besser verstehen können.»

Die Zukunft beleuchten

Der Geschichtsunterricht hat die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen bei ihrem Ankommen im Hier und Jetzt zu begleiten, aus der Vergangenheit das Gewordene zu beleuchten. Aber nicht nur das, auch aus der Zukunft muss es beleuchtet werden, unterstreicht Michael Zech vom Lehrerseminar in Kassel. Und dann nicht nur Narrative geben, sondern den Jugendlichen ermöglichen, ihre Narrative zu erzählen. Die wichtigste Aufgabe: nicht nur die Verbindung zur eigenen Kultur bewusst machen, sondern: «Lernen, in der eigenen Kultur ein Fremder zu werden. Heimat finden im Unterwegs-Sein.»

Die Eurythmistin und ehemalige Klassenlehrerin aus Taiwan, Ya Chih, beeindruckte die Teilnehmenden durch ihren Vortragsstil, der so ganz anders war als das, was man bisher gehört hatte. Sie erzählte aus ihrem Leben, zeigte und interpretierte das chinesische Schriftzeichen für ‹Zen›: ein Pictogramm, eine Aufforderung, ein Menschheitsideal, das Göttliche im Weltall mit dem Individuellen zu verbinden. Im individuellen Bewusstsein, so die Zen-Philosophie, seien im Laufe der Kulturentwicklung eine Art von Leb- und Lieblosigkeit aufgetreten, die auch den menschlichen Leib korrumpiert habe. In der christlichen Tradition wird gesagt, dass durch den Tod und die Auferstehung des Sonnengottes ‹eine therapeutische Quelle› oder ein Keim für Heilungskräfte in den menschlichen Leib gelegt worden seien. Diese können aber nur durch die bewusste Aktivität der Ichkräfte wirksam gemacht werden. In der Zen-Philosophie würde man sagen: durch das Bemühen, gleichzeitig das Aufwachen und Verstärken des Individuellen und das Sich-Vergessen im Kosmisch-Geistigen zu üben. «Wenn jemand anders und zu Beginn der Tagung so etwas gesagt hätte, wären wir nicht bereit gewesen, uns für solche Perspektiven zu öffnen», meinte ein italienischer Klassenlehrer nach dem Vortrag.

Lernen, in der eigenen Kultur ein Fremder zu werden. Heimat finden im Unterwegs-Sein.

Weitere Vorträge umkreisten das Thema Heilung und Therapie: Tomáš Zdražil (Freie Hochschule Stuttgart) sprach von Natur, Sinn und Gemeinschaft als pädagogischen Mitteln, Gesundheitskräfte für Leib und Seele im Menschen anzulegen. Das Thema von Linda Williams (Detroit, USA) war die intergenerationelle und interkulturelle Solidarität und Sozialgestaltung und die Pflege des Gefühls: «I am because we are, we are because I am.» Eine erfrischende dynamische Stimmung kann sich in der ganzen Schule ausbreiten, wenn unter Pädagogen, Eltern und Kindern das Gefühl lebt: «Ich möchte derjenige werden, der die anderen zu sich selbst aufwecken kann.»

Fazit

«Die Waldorfbewegung als weltweite, diverse Menschengemeinschaft real zu erleben, war ein aufrüttelndes Schockerlebnis, ein Aufwachen.» Menschen erlebten und spiegelten, dass der Wille zur Verantwortung vorhanden ist. Jede Schule versucht diese an ihrem Ort in der Welt in ihrer Weise umzusetzen. Aber es brauche mehr Flexibilität, war auch zu vernehmen. Es braucht ein Öffnen für die Stimmungen und Notwendigkeiten der Zeit. Manchmal fühlen sich junge Lehrende durch ältere gebremst. «Eine weniger schulische Form der Schule ist erlebbar geworden: ein Lebensraum, ein Ort für soziales Üben und für moralische Entwicklung.» Es herrschte Freude und Begeisterung, auch in den Begegnungen, «als würde das Goetheanum lachen», sagte eine Teilnehmende. «Die Menschheit war im Goetheanum zu Gast.» Vielen Dank also allen Gästen und Beitragenden, dem Orga-Team und den vielen Helfenden vor Ort im Namen der Pädagogischen Sektion.


Foto Xue Li

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