Die Krankheit zeigte früh ihren Charakter

Leserbrief zum Artikel ‹Impfpass – Ein Weg in die Freiheit oder in die geschlossene Gesellschaft› von Michael Esfeld in ‹Goetheanum› 18/2021.


Michael Esfeld hat einen wichtigen Beitrag zum aktuellen Thema gegeben, wie kurzschlüssig und einseitig politische Entscheider bestimmten wissenschaftlichen Positionen eine dominante Stellung im öffentlichen Diskurs verschaffen und damit eine Vielfalt von Perspektiven ausschließen, die die Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft und geistigen Kreativität bildet. Wir begegnen dem auch innerhalb des Wissenschaftsbetriebes, in dem Minderheitspositionen etwa zur Homöopathiefrage mit wachsender Intoleranz begegnet wird. Dies erinnert auf geistiger Ebene an landwirtschaftliche Monokulturen und zeitigt vergleichbare Probleme, weil sich dieser Form der Krisenbewältigung die lebendige Erde zunehmend verweigert. Esfeld fordert zu Recht den Respekt vor der Freiheit des Menschen und seiner geistigen Schöpferkraft. Was seiner Argumentation aber Abbruch tut und aus meiner Sicht einer Neujustierung bedarf, ist sein Umgang mit der Welt der ökologischen und medizinischen Tatsachen. Das möchte ich an wenigen Beispielen darlegen.

«Die Fakten zeigen schon jetzt, dass der CO₂-Ausstoß in Industrieländern ohne Energiewende (wie Frankreich, Großbritannien, USA) in den letzten 20 Jahren prozentual in gleicher Größenordnung zurückgegangen ist wie in Ländern, die mit enormem finanziellem Aufwand eine Energiewende betrieben haben (Deutschland).» Es ist richtig: Die CO₂-Emissionen Deutschlands und Frankreichs sind in den letzten 20 Jahren gleichsinnig gesunken und Deutschland emittiert mit dem Erbe der Kohleverstromung immer noch mehr CO₂ pro Kopf als Frankreich. Jedoch: Im Jahr 2019 wurde in Frankreich 71 Prozent der Stromerzeugung aus Atomkraftwerken betrieben. In Deutschland betrug der Atomstromanteil 2018 12 Prozent – 2003 waren es noch mehr als 31 Prozent. Der Anteil der erneuerbaren Energien ist bei der Stromerzeugung auf 46 Prozent gestiegen; Deutschland erzeugt ca. viermal mehr erneuerbare Energien als Frankreich. Fragen wir nicht nur nach dem Resultat, sondern auch nach dem Prozess, dann zeigt sich ein etwas anderes Bild, das für künftige Generationen gewichtige Auswirkungen haben wird, die wir über Jahrtausende an die Bewältigung unseres nuklearen Abfalls binden: ein klassisches Beispiel «negativer Externalitäten» zulasten Dritter: Esfeld argumentiert, dass derzeit etwa in der Impffrage von Seiten der Politik mit dem Argument «negativer Externalitäten», der unsolidarischen Belastung Dritter durch das eigene Handeln, die Freiheit abgeschafft werde. Er warnt vor einer technokratischen Expertenherrschaft, die den Menschen sagt, wogegen sie sich zu impfen, welche Solaranlage sie auf dem Dach zu installieren haben usw. Dem stellt er in der Tradition des Naturrechts und mit dem Rekurs auf die Theorie der Gerechtigkeit von Rawls u. a. die Freiheit, die Würde des Menschen gegenüber und das Vertrauen, dass dessen verantwortungsvolles Handeln ohne Gängelung durch Experten und Expertinnen mit der Klimakrise und der Pandemie viel besser fertig werde als eine Angst schürende Herrschaft der Politik, die mit Lockdown und Klimazielen letztlich das genaue Gegenteil ihrer Ziele erreiche und die Freiheit zerstöre.

Atomkraft wird verharmlost

Nochmals Frankreich: Es gibt keine zentralistischere, kapitalintensivere Form der Energieversorgung als Atomkraftwerke. Für die Herrschaft einer technokratischen Elite, die sich vom Sonnenbezug des Lebens lösen und das Handeln vieler künftiger Generationen an ihre Entscheidungen binden möchte, gibt es kein schlagenderes Beispiel als die Atomkraft. Sonnenkollektoren und Windkraftanlagen lassen sich von künftigen Generationen vergleichsweise leicht ‹verstoffwechseln› und schaffen keine Großrisiken wie Fukushima oder Tschernobyl, die ein bisher ungekanntes Maximum an «negativen Externalitäten» geschaffen haben. Das oben genannte Beispiel, in dem die Argumentation Esfelds die Energiewende in Deutschland trifft und gleichzeitig die Atomkraft ebenso verharmlost wie den Kurs der US-Regierung 2016 bis 2020 mit Fracking, Umweltzerstörung und fossilem ‹weiter so›, zeigt einen selektiven Umgang des Autors mit der Wirklichkeit und schwächt das Gewicht seines Leitgedankens. Das Gleiche gilt etwa für seinen Ländervergleich der Covid-19-Mortalität von Deutschland und Schweden, ein beliebtes Thema: «Zwischen Schweden ohne Lockdown und Deutschland mit Lockdown gibt es seit Mai 2020 keinen statistisch signifikanten Unterschied im Erfolg der Bekämpfung der Pandemie.» Jeder, der die Infektionszahlen und die Todesfallstatistik Deutschlands im Detail zur Kenntnis genommen hat, weiß, dass die Nähe zu dem Land, das weltweit eine der höchsten Zahlen pro Einwohner an Covid-19-Todesfällen aufweist, nämlich Tschechien, sehr wesentlich die Todesstatistik Deutschlands mitgeprägt hat, deutlich ablesbar etwa in den Grenzbezirken Sachsens, Thüringens und Bayerns. Auch andere Nachbarländer Deutschlands wie die Schweiz und Frankreich, insbesondere das Elsass, weisen oder wiesen hohe Covid-Fallzahlen auf. Warum die Zahlen in Tschechien so hoch sind, hängt sicher nicht mit einer effizienten technokratischen Regierung, sondern eher mit deren Gegenteil zusammen. Die Alkoholkrankheit Milosz Zemans, des tschechischen Staatspräsidenten, ist ebenso eine öffentlich bekannte Tatsache wie die Interessenkonflikte des Ministerpräsidenten Andrej Babis, eines populistischen Geschäftsmannes in der Rolle des Politikers. Schweden befindet sich demgegenüber mit einer knapp 40 Prozent höheren Pro-Kopf-Covid-Sterblichkeit als Deutschland in der Nachbarschaft von Norwegen, mit dem das Land eine lange Grenze teilt. In Norwegen verstarben an Covid-19 758 Menschen, in Schweden 14 000. Die Bevölkerungszahl der beiden Länder unterscheidet sich um den Faktor 2, die Zahl der Toten um den Faktor 20. Das Nachbarland Finnland mit etwas mehr als der Hälfte der Bevölkerungszahl Schwedens hat 914 Covid-Todesfälle zu beklagen. Hier wird deutlich, dass ein genauerer Blick erforderlich ist, um zu einem wirklichkeitsgesättigten Urteil zu kommen. Stimmt es im Übrigen, dass Schweden «keinen Lockdown» hat? Öffentliche Veranstaltungen sind seit Beginn der Pandemie stark eingeschränkt (Konzerte, Vortragsveranstaltungen). Am 15. März 2021 war zu lesen, dass mit Ausnahme von Bestattungen in Schweden die Anzahl von Besuchenden an öffentlichen Veranstaltungen auf acht Teilnehmende beschränkt war. Sicher hat Schweden etwa im Schulbereich manches besser gemacht als Deutschland, aber es kann keine Rede davon sein, dass es in Schweden nicht empfindliche Einschränkungen gerade im Kulturleben gäbe.

Mit dem Titelbegriff «Impfpass» erwarte ich als Leser, dass Esfeld sein Plädoyer für die Freiheit fokussiert auf den Umgang mit dem Impfthema bei COVID-19, das sachlich und ethisch anspruchsvolle Fragen aufwirft. Just dazu habe ich in dem Artikel wenig gefunden. Ich will keineswegs leugnen, dass wir es mit einer Fülle fragwürdiger Corona-Schutzmaßnahmen zu tun hatten und haben, insbesondere was Kinder betrifft. Auch die zum Teil extreme Isolation von Heimbewohnenden und Schwerkranken verletzt elementare Menschenrechte. Es ist aber nicht akzeptabel, dass der Autor den Eindruck vermittelt, Covid-19 wäre einer Grippe gleichzusetzen, und dass sich im Grunde alle Schutzmaßnahmen der Willkür politischer Machthaber und willfähriger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verdanken würden. Dass Massnahmen doch erforderlich sind, das zeigt sich überall da, wo man es «einfach laufen lässt». Ein trauriges Beispiel bietet Brasilien. Esfelds Position könnte Präsident Bolsonaro als Rechtfertigung verwenden: «Statistisch gesehen liegt für alle (!) unter 70 Jahren das Risiko, infolge einer Infektion mit dem Coronavirus schwere gesundheitliche Schäden zu erleiden, im Bereich alltäglich akzeptierter Risiken.»

Die Krankheit zeigte früh ihr Gesicht

Diesem Statement des Autors möchte ich den Bericht einer Kollegin im Süden Deutschlands entgegenstellen, die sich keineswegs auf Menschen bezieht, die alle über 70 gewesen wären: «In […] kam es während der dritten Welle zu einem Ausbruch in einem Wohnheim für geistig behinderte Erwachsene, fast alle 38 Bewohnerinnen und -bewohner und mehrere Mitarbeitende sind erkrankt, 11 Bewohnende sind bisher gestorben, mehrere sind noch stationär, zum Teil in kritischem Zustand. Bis jetzt ist nicht endgültig geklärt, warum die Bewohnenden dieses Heims bisher nicht geimpft worden sind.». Auch Organisationen für Menschen mit Down-Syndrom betonen zu Recht, dass Impfen freiwillig bleiben muss, aber auch, dass ein 40-Jähriger mit Down-Syndrom das Covid-Risiko eines 80-Jährigen hat, und das bedeutet für ihn eine zweistellige prozentuale Wahrscheinlichkeit, an einer Infektion zu sterben. Deshalb sollte man ihm ein Impfangebot machen, wenn ihm dadurch wieder ein Zusammenleben mit anderen zu den normalen Risiken möglich wird, von denen Esfeld spricht, da keine Covid-Impfung vollständig die Erkrankung oder Übertragung ausschließen kann. Das Beispiel zeigt, dass der Diskurs über Freiheit und Verantwortung differenziert und sorgfältig geführt werden muss. Mit Andacht und Liebe auch zu den Tatsachen, mit Respekt für alle von den Schutzmaßnahmen und der Erkrankung Betroffenen. Esfeld hat recht, wenn er auf die enormen und langfristigen Schäden hinweist, die die Art und Weise der Pandemiebekämpfung mit sich bringt. Er hat recht, wenn er angesichts grassierend indirekter Impfpflichten die Frage nach Grundrechten und Freiheit für jeden Menschen, die Frage nach der offenen Gesellschaft stellt. Wenn er an das enorme Leid unter den Pandemiemaßnahmen erinnert. Wir müssen hier ebenso sorgfältig hinschauen lernen wie auf die Pandemie selbst. Aber: Als Covid-19 im Frühjahr 2020 Oberitalien heimsuchte, starben mehr als 150 Ärztinnen und Ärzte, praktisch alle unter 70. Niemand kann sich an Vergleichbares erinnern. Man sollte mit Vergleichen von Covid-19 mit Risiken beim Autofahren und einer Grippewelle vorsichtig sein. Diese Erkrankung hat sehr früh ihren spezifischen Charakter gezeigt. Um ihr angemessen zu begegnen im Geiste der Freiheit, bedarf es einer an der Praxis der Patientenversorgung geschulten Einsicht in die Notwendigkeit. Dann erst können wir verantwortungsvoll handeln. Dann erst werden wir ernst genommen.


Grafik: Fabian Roschka

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