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Die Ich-Entwicklung des Verstorbenen im Lichte Ägyptens

Die Frage nach den Wurzeln einer modernen Kulturgesellschaft, zu der das Verständnis der Ich-Entwicklung ebenso gehört wie die Selbstbestimmung des Willens, hat Feldbaucharakter, dessen Bearbeitung in die mythische Vergangenheit zurückreicht. (1) In Ägypten deutet der Mythos von der nachtodlichen Feldarbeit auf einen spirituellen Arbeitszusammenhang.


Wird der Grabherr im Jenseits zur Feldarbeit in den ‹Binsengefilden› gerufen, dann soll der Uschebti an seiner Stelle antworten: «Hier bin ich!» (2) Dass es sich bei dem ‹Antworter› um den Diener des Verstorbenen handelt, welcher die von ihm zu leistende Arbeit im Jenseits verrichtet, ist eine gängige Vorstellung.

Verstorbene auf den Feldern

Aus den Totenbüchern kennen wir die Idealvorstellung, die den Verstorbenen bei der Feldarbeit in den ‹Binsengefilden› zeigt. Dargestellt werden der Grabherr und seine Gemahlin beim Pflügen, bei der Aussaat und der Ernte. Das Wort ‹die Erde aufhacken› (‹semata›), bedeutet auch ‹beerdigen›.(3) Als ‹Sema tawy› bezieht es sich auf die Vereinigung der Gegensätze.(4) Das Bild von der Feldarbeit ist demnach keineswegs, wie oft behauptet, eine Übertragung der irdischen Verhältnisse auf das Nachtodliche.

Das gilt auch für den Uschebti, der mit der Arbeit auf den Feldern des Osiris in einem geheimnisvollen Zusammenhang steht. Die kobaltblauen bis blaugrünen Fayence-Figuren aus der 21., 22. Dynastie (1070–730 v. Chr.), welche ursprünglich aus Nilschlamm und Wachs geformt ein Ersatz für die Mumie waren, sind Zeichen der Regeneration. Auf dem Rücken tragen sie ein aufgemaltes Samensäckchen, in den über der Brust gekreuzten Händen die Erdhacken für die Feldarbeit. Die meist auf der Vorderseite von oben nach unten mit schwarzer Farbe aufgetragene Schrift bezeichnet die Rechtfertigung des Verstorbenen durch den Totengott Osiris. Auch tragen die besonders schönen Exemplare aus der 26., 27. Dynastie (550–500 v. Chr.) den für Osiris typischen Götterbart.

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Wesentliche Veränderungen des menschlichen Bewusst­seins fanden erst nach der Lebensrückschau in den ‹Gefilden der Seligen› statt.

Wie in der Landwirtschaft zwischen Aussaat und Ernte die Getreideähre mit ihrem vielfachen Mehrwert an Körnern reift, so gibt es auch für die wachsende Ich-Organisation des Verstorbenen im Nachtodlichen eine Entsprechung. Hier stellt sich die Frage nach dem Mehrwert, der, bildlich gesprochen, auf den Feldern des Osiris reift. Darauf deutet die Ikonografie des Osiris-Ptah-Sokar. Gelegentlich enthielt die Holzfigur des Osiris-Ptah-Sokar einen Kornosiris oder Ausschnitt aus dem Totenbuch. Der chtonische Gott Sokar, dessen Kult eine Verbindung des Erdhackens mit dem Totenritual nahelegt, verkörpert die Lebenskraft der Erde. Mit dem Gott der Handwerker und Künstler (Ptah) steht er in einer solaren Verbindung. Wie Re von Heliopolis repräsentiert auch Ptah als Gott des Ostens den Sonnenaufgang, der sich im Sonnenuntergang mit Osiris, dem Gott des Westens, vereint. (5) Was verbirgt sich hinter diesem Bild?

Acker im neuen Licht

Der mythische Mensch orientierte sich am Lauf der Sonne. Das Erdenleben betrat er mit seelischen Anlagen, die es zum Wohle des gesellschaftlichen Ganzen auszubilden galt. Dafür steht im ‹Totengericht›, dem Schwellenmotiv der ägyptischen Weltanschauung, der ‹Schicksalsziegel›, der das abgelaufene Erdenleben mit den vor der Geburt gefassten Zielen der Seelenentwicklung (Ba) verbindet. Eine persönliche Freiheit gab es in Ägypten noch nicht. Wesentliche Veränderungen des menschlichen Bewusstseins fanden erst nach der Lebensrückschau in den ‹Gefilden der Seligen› statt. Der Verstorbene ist, nachdem er das Totengericht als ‹gerechtfertigt› bestanden hat, ein ‹Verklärter›, der im Licht des Osiris zu sich selbst erwacht. Aus den Willenskräften der Vergangenheit werden jetzt die Bewusstseinskeime der Zukunft mit den neuen Lebenszielen geformt. Das heißt, es wird der Acker für die neue Lebensaussaat des Verstorbenen im Lichtreich des Osiris bestellt.

 


General von Psammetich I, 26. Dynastie, Privatsammlung

General von Psammetich I, 26. Dynastie, Privatsammlung

 

Stellvertreter des Ich

Ruft die verklärte Seele den Uschebti dann zur Feldarbeit, ergibt das materialistisch gedacht keinen Sinn. (6) Vielmehr handelt es sich hier um ein Mysterium, das als Samenkorn der Wahrheit noch im Inneren der Seele schläft. (7) Der Schöpfergott Ptah, der aus dem Verklärungsleib des Osiris das Wort ‹ich-bin› in die Seele des Verstorbenen spricht, erzeugt in ihm, wenn er zur Sommerzeit (Johanni) den Blick in die Erdentiefe des Sokar, auf sein Grab mit der Mumie richtet, ein Echo, aus dem ihm die Antwort des Uschebti entgegenkommt: «Hier bin ich!» Derart gespiegelt träumte der Verstorbene in der Sonnensphäre von der Geburt seines zukünftigen Ich. (8)

Wie die ‹Verklärung auf dem Berg› im Zusammenhang mit der Auferweckung des Lazarus-Johannes zeigt, war die Zeit in Ägypten noch nicht reif, das seelische Bewusstsein in den Logosaspekt der Auferstehung zu erweitern. Lazarus-Johannes ist der erste Mensch, der im Grab der Erde die Verklärung durch den Christus als die selbstbestimmte Wahrheit erfährt. Auf den Weckruf: «Lazarus, komm heraus!» antwortet er: «Hier bin ich!» (9). Damit haben die Uschebti als magische Stellvertreter des Ich ihre Aufgabe erfüllt.

Die Inspiratoren der ägyptischen Kultur waren sich ihrer Verantwortung bewusst, im Einklang mit den Göttern die seelischen Voraussetzungen für eine sich am Ich orientierende Gesellschaftskultur zu schaffen. Das verbindet sie mit dem Rosenkreuzer-Impuls (Lazarus-Johannes) in unserer Zeit. (10)


Gute Reise

Zum Tod von Karl-Heinz Tritschler

‹Mein lieber Freund Karl-Heinz Tritschler hat freudig auf einer Hochzeit getanzt – in Ägypten, dem Ort seiner Liebe – und ist dabei verstorben. Er wird auch dort bestattet. Lieber Karl-Heinz, gute Reise.› Tom Tritschel

Karl-Heinz Tritschler (1957–2020) beschäftigte sich seit mehr als 20 Jahren mit der ägyptischen Kultur, der Evolution des menschlichen Bewusstseins und dem erweiterten Kunstbegriff. Er hat kaum ausgestellt und im Stillen ein gewaltiges Werk geschaffen. In seinen kleinformatigen Bildern überlagern sich Zeichnungen, Reliefe, Fotografien, Drucke, Malerei, Stickerei, Schrift und Skulpturales zu vielschichtigen Bildräumen, durch die ein anfängliches integrales Bewusstsein zum Ausdruck kommt.


(1) Joseph Beuys, Ich durchsuche Feldcharakter, in: Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, 1984.
(2) Hermann A. Schlögel, Arbeiter des Jenseits. Die Welt der Uschebti, in: In ägyptischer Gesellschaft, 2004.
(3) Sylvia Schoske, Barbara Kreissl, Renate Germer, «Anch», Blumen für das Leben. Pflanzen im alten Ägypten, 1992.
(4) Bruno Sandkühler, Lotus und Papyrus, 2017.
(5) Edmund Dondelinger, Das Totenbuch des Schreibers Ani, 1987.
(6) Ebd., S. 121.
(7) Boethius, Trost der Philosophie, 2010.
(8) Rudolf Steiner, GA 105 und GA 13.
(9) Hermann Beckh, Der kosmische Rhythmus, das Sternengeheimnis und Erden­geheimnis im Johannes-Evangelium, 1930.
(10) Rudolf Steiner, GA 293 und GA 82.

Titelbild: K.-H. Tritschler, Ausschnitt aus Bilder (multimedia), ‹Hier bin ich!›, Ägypten/Gurna 2018

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