Die Geheimnisse der Maria Sophia

Das Mysterium des Weiblichen steht von jeher in Verbindung mit den Schöpfungsgeheimnissen und immer geht es um zentrale Bereiche menschlicher Entwicklung und Erkenntnis. Seien es Göttinnen wie Isis und Demeter oder die Mütter im ‹Faust›, im ‹Demian›. Maria jedoch als der Gottesmutter kommt in diesem Zusammenhang eine bedeutende Stellung zu. Sie wird im neu aufgelegten Buch von Michael Debus sehr komplex und tiefgehend dargestellt.


Schon in den Anfängen der Bibel zeigt sich, dass das Weibliche äußerst rätselvoll behandelt wird. Denn Eva ist keineswegs die erste Frau. Vor ihr gibt es die ‹Männin›, die Adam zugesellt ist. Davor ist vom Urmenschen die Rede, wo männlich und weiblich als ein Mensch auftreten, also zweigeschlechtlich, androgyn.

Michael Debus unternimmt es in seinem Buch, dieses Rätselvolle nicht nur zu entschleiern, sondern zugleich einen Schlüssel zu gewinnen, der die gesamte Menschheitsentwicklung hinsichtlich des Weiblichen neu beleuchten kann, einschließlich der Mariengeheimnisse und ihrer Bedeutung für die Zukunft. Ein solches Unterfangen wäre ohne die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse Rudolf Steiners wohl unmöglich. Doch auch wenn der Autor sich explizit darauf bezieht und vor allem die Vorträge Steiners zum ‹Fünften Evangelium› und zum ‹Johannesevangelium› im Zentrum dieser Thematik stehen, so ist es doch bewundernswert, mit welcher gedanklichen Stringenz und Klarheit er diese komplexe und umfangreiche Materie bewältigt. Darüber hinaus werden die geisteswissenschaftlichen Darstellungen in sehr eigenständige Zusammenhänge gebracht und außerordentlich erweitert und vertieft.

Die Schlüsselerkenntnis aus Genesis 1 und 2 ist das Verstehen des Weiblichen als Spiegelfunktion. «Die Männin ist also dem Adam zugeordnet, als die Jungfrau, der reine Spiegel, in dem er nun die Schöpfung erkennen wird. Die Jungfrau ist das mythische Bild des reinen Bewusstseinsspiegels.» (S. 23) Es mag deutlich sein, dass die drei weiblichen Qualitäten unterschiedliche Entwicklungsstadien betreffen. So bringt der Autor diesen reinen Bewusstseinsspiegel mit der Aufrechte des Menschen in Zusammenhang, sodass die Jungfrau den oberen Menschen repräsentiert. Diese Phase könnte man als das Paradies verstehen.

Das mütterliche Prinzip

Mit Eva beginnt eine neue Phase. Durch den Biss in den Apfel wird die Jungfrau getötet und Irrtum, Krankheit, Tod halten Einzug in die menschlichen Geschicke. Damit aber auch das mütterliche Prinzip, das nicht mehr als der reine Spiegel im objektiven Gegenüber, sondern als das empfangende und innerliche Prinzip auftritt.

Bevor der Autor mit diesen Erkenntnissen auf die Marienmysterien näher eingeht, wirft er einen erhellenden Blick darauf, wie sich das Verständnis und Verhältnis zu Maria im Christentum entwickelt hat. Dabei sind die Ausführungen zum Streit von Arius und Athanasius über die Gottessohnschaft sehr aufschlussreich. Athanasius vertritt die sogenannte Deszendenztheorie – Christus als der Sohn Gottes ist ungeschaffen und existiert von Anfang an. Arianus dagegen vertritt die sogenannte Aszendenztheorie, wo Jesus sich erst zum Christus entwickelt und in der Jordantaufe die Reife erlangt, als Gottes Sohn angenommen zu werden. Da sich durch Kaiser Konstantin die Deszendenztheorie auf dem berühmten Konzil zu Nicäa durchsetzt, fällt der gesamte Aspekt der Entwicklung weg. Auch wenn im weiteren Verlauf (Konzil zu Ephesus 431) Maria als die Jungfrau und Gottesgebärerin per Dogma bestimmt und damit der Deszendenzanschauung Vorschub geleistet wurde, entwickelte sich in den nachfolgenden Jahrhunderten ein regelrechter ‹Marienboom›. Das zeigte sich in vielen neu erbauten Marienkirchen und einer sich immer weiter verbreitenden Marienverehrung.

Debus weist einleuchtend darauf hin, wie im Laufe der Zeit und im Grunde bis heute die Marienverehrung die menschliche Seite der Christusanschauung ersetzt. Sie steht dem Menschen näher, über sie ist der Zugang zu Christus eher möglich. Maria wurde praktisch die Mittlerin zu Christus und Gott.

Zwei Marien

Das Motiv der Unschuld wird vom Autor auch für das Marienverständnis fruchtbar gemacht und zwar in Anlehnung an das ‹Fünfte Evangelium› bei der Charakterisierung der beiden Jesusknaben sowie der beiden Marien: die Unschuld des nathanischen Knaben, dessen himmlische Seele sich bis dahin nicht inkarniert hatte, und die Schuld des salomonischen Knaben, der viele Inkarnationen hinter sich hat und zu einem hoch entwickelten Menschen geworden war. Der Autor verbindet hier also Schuld und Unschuld mit Reife und Unreife, mit Entwicklung und Nichtentwicklung. Das gilt auch für die Mütter der beiden Knaben, die junge Maria, Mutter des nathanischen Jesuskindes (Lukasevangelium), und die ältere, reifere Maria als Mutter des salomonischen Jesuskindes (Matthäusevangelium). Im Geschehen des zwölfjährigen Jesus im Tempel verbindet sich die salomonische Seele mit der nathanischen.

Robert Campin, Verkündigung, um 1425, Wikimedia

Jesus macht nun 18 Jahre lang eine Entwicklung durch, die ermöglicht, dass sich Christus mit der Taufe am Jordan in diesen so vorbereiteten Leib inkarnieren kann. Hier steht also die Entwicklung, die Schulung im Vordergrund und es ist unschwer zu erkennen, dass die Aszendenztheorie dieser Seite Rechnung trägt. Im Weiteren wird aufgezeigt, wie die lukanische Maria «in gleicher Weise jüngste Seele ist wie ihr Kind» und ihre Verbindung deshalb nicht karmisch zu verstehen ist, sondern sie «so einander zugeordnet sind wie Adam und die Männin im Paradies» (S. 75). «Sie haben diesen Urzustand des Männlich-Weiblichen bewahrt». Damit wird ein Hinweis auf die ‹jungfräuliche Geburt› gegeben, die eben nicht biologisch zu verstehen ist.

Die Mutter wird Jungfrau

Die Maria des Matthäusevangeliums ist eine reife, schon oft inkarnierte Seele. Sie muss nach dem Geschehen im Tempel verkraften, dass ihr Sohn stirbt und auch ihr Mann. Sie hat noch mehr Kinder und lebt weiter als Witwe. Da auch die lukanische Maria stirbt, zieht sie mit ihren Kindern zu dem Witwer Joseph. Da nimmt sie aufs Intensivste teil am Leben ihres Stiefsohnes. Der Autor weist auf die sich bei ihr vertiefende Entwicklung des Hörens und Verstehens hin, so weit, dass eine innige Verbindung besteht, unabhängig von Blutsbanden, die sie auf eine neue Stufe bringt, worauf besonders das letzte Gespräch zwischen ihr und Jesus vor dem Gang zur Taufe hinweist: «Die Mutter wird Jungfrau» (S. 86).

Wenn man das Christusgeschehen mit dem ‹Fünften Evangelium› verbindet, erscheinen die Deszendenz- und die Aszendenztheorie in neuem Licht. Sie verbinden sich. Die kleine Nebenbemerkung des Autors, dass die Anthroposophie den Entwicklungsprozessen bis zur Jordantaufe entspricht, weil sie Erkenntnis und Schulung in den Mittelpunkt stellt, stellt die gesamte Geisteswissenschaft in eine weltgeschichtliche Dimension.

Die Sophia

So wie das Thema vom Autor bis hierher aufgegriffen und behandelt wurde, ist es nur konsequent, dass die Sophia Anteil hat im gesamten Schöpfungsgeschehen, wie es in der ‹Geheimwissenschaft› dargestellt wird. Sophia ist vor aller Schöpfungstätigkeit der Spiegel, «in dem sich der [Logos] spiegeln und so die Welt erschaffen kann» (S. 128). Mehr noch: «die geschaffene Sophia wird damit […] dem Schöpfergott zugeordnet, mit ihm eine männlich-weibliche Syzygie1 bildend.» Mit der Menschwerdung wird Sophia der befruchtende Geistkeim der oberen Wesensglieder. Das bedeutet, das jeder höhere Erkenntnisvorgang ein solcher Spiegelungsvorgang ist, an dem Sophia beteiligt ist.

Auf der menschlichen Ebene finden wir wieder Entsprechungen. Die ‹junge Adam-Individualität› wird in der Beschreibung von Rudolf Steiner auch die ‹Mutterseele der Menschheit› genannt. Diese verkörpert sich männlich-weiblich als die lukanische Maria und der Jesusknabe. «In der Madonna mit dem Kind erscheint die menschliche Sophia als Maria Sophia und Jesus-Sophia, es ist eine Syzygie als Wesenseinigkeit von Mutter und Kind» (S. 138). Die andere ältere Maria wird durch ihren Reifungsprozess die ‹Mutter Jesu› und entwickelt sich in den drei Jahren des Christuslebens «zum Spiegel des Mensch gewordenen Logos» (S. 147).

Die Worte am Kreuz, wo Christus der Mutter Johannes als ihren Sohn übergibt, werden in diesem Zusammenhang verständlich. Johannes und die Mutter Jesu, die Maria Sophia, werden zu einer Syzygie als Urbild des zukünftigen schöpferischen Menschen.

Sehr umfassend und mit vielen Belegen der Kirchenväter und mit anderen Quellen entwickelt und begründet der Autor seine Erkenntnisse. Das gilt auch für die Schlussbetrachtungen zur zukünftigen Gemeinschaftsbildung und zum Verhältnis Heiliger Geist und Maria Sophia, die herausragend sind. Im Buch wird eine hochkomplexe Materie so klar und einleuchtend vorgestellt, dass es ein großer Gewinn ist, sich damit zu beschäftigen.

Insofern kann man sehr dankbar sein, dass der Verlag nach 20 Jahren eine Neuauflage gewagt hat. Denn eine so fundamentale Arbeit, wie sie in diesem Werk vorliegt, findet man zum Thema weit und breit nicht.


Buch: Michael Debus, Maria Sophia. Das Element des Weiblichen im Werden der Menschheit, Verlag Freies Geistesleben, Neuausgabe, 2. Auflage, Stuttgart 2020

Titelbild: Hildegard von Bingen, Makrokosmos und Mikrokosmos (Vision von Liber divinorum operum). Codex Latinus 1942 in der Bibliotheca Governativa di Lucca.

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Footnotes

  1. Syzygie: griechisch für ‹Gespann›, ‹Zusammenfügung›; in der Astronomie eine Konstellation, bei der die Sonne einerseits sowie der Mond oder einer der Planeten andererseits auf gleicher geozentrisch-ekliptikaler Länge stehen.

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