Die Farbigkeit des Kreuzes

Nicht zufälligerweise kommen mir, im Kriegsjahr 1942 geboren, manche sehr lebendige Bilder hoch. Unter vielen anderen, auch diese eine Erinnerung: Ein Spaziergang an der Nordmeeresküste, an der Grenze zwischen Flandern und Nordfrankreich entlang.


Neben mir geht mein Vater. Er ist in einem regen Gespräch mit einem mir unbekannten Mann. Zwei Freunde, die einander wiederbegegnen nach dem Krieg. Aber das weiß ich damals noch nicht. Einige Schritte vor uns sehe ich meine Mutter, Arm in Arm mit der Frau des Freundes. Auf dem Strand dürfen wir nicht laufen, es gibt Bunker und noch nicht entschärfte Landminen im Sand. Plötzlich stolpere ich und verletze mir dabei das Knie. Es wird nicht bemerkt. Für einen Moment bleibe ich zurück hinter den Erwachsenen. Knieend schaue ich mir das verletzte Knie an. Es treten einige Tropfen Blut hervor. Ich schreie auf: «Aber es blutet!» Keiner hört es. Weit vor mir, in dem blendenden Hochsommerlicht, dehnt sich der Horizont aus. Die Erwachsenen sind nur noch verschwommene Konturen. Ein Augenblick alles ausblendender Angst. Dann beginne ich zu rennen. Und schon bin ich wieder an der Seite des Vaters. Gerettet.

Rettung: Eine Parole, die umgeht

Unter den vielen, manchmal einander radikal entgegengesetzten Parolen, die in dieser Krisenzeit umgehen, gibt es eine mit einer ganz eigenen Resonanz. Es ist die Parole der ‹Rettung›. Wie ein leuchtender Stern kann sie am Himmel erscheinen und allein das Wort hat eine unmittelbare Wirkung auf diejenigen, die sich in extrem bedrohlichen Lebensumständen befinden. Und sei es nur, dass sie für einen Moment Mut schöpfen können. Nicht selten hängt es von solch einem Moment ab, ob sie gerettet werden können oder nicht. Auch diejenigen, die nicht unmittelbar gefährdet sind, die nur dabeistehen können, atmen auf, wenn sich Rettung ankündigt. Was wir Rettung nennen, bezieht sich vor allem auf das, was in extreme Not geraten ist – ob Menschen, ob Natur oder Werte, die nicht verloren gehen dürfen.

Um Rettung kann ein Mensch beten und bereits während des Betens kann ihm der erste, zarte ‹Anhauch› kommen, tatsächlich gerettet zu werden. Durch das Gebet wird man aus der Verzweiflung und Angst gehoben. Die Bitte, gerettet zu werden, birgt in sich ein Versprechen, dass das Rettende kommt: «Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.» – Kaum ein anderes Hölderlin-Zitat wurde während der Corona-Krise so häufig gebraucht wie dieses!

Wenn es um Rettung geht, gibt es jemanden, der gerettet werden soll, und jemanden, der rettet. Frage und Antwort, Ruf und Hilfe. Als Zwillinge sind sie aus einer ursprünglichen Einheit hervorgekommen. Und dieses Einheitliche ist nicht die Rettung, aber dasjenige, was darüber hinausgeht: die Erlösung. Erlösung enthält nicht nur Rettung, sondern auch Heilung. Dasjenige, was aus dem Zusammenhang herausgefallen ist, sodass Rettung notwendig wurde, soll geheilt werden. Aber nicht als ‹Wiederherstellung› des Vergangenen, sondern in einer neuen lebensgestaltenden Ganzheit. Dann erst wird Erlösung möglich.

In der Rettung liegt bis heute sehr viel Urbildliches. Als reales Bild ist Rettung noch immer wirksam. Wie verschiedenartig der Kontext auch sein mag, die Grundelemente sind klar: Ein Mensch befindet sich in akuter Gefahr. Dieser ist er wehrlos ausgeliefert. Nur ein Wunder kann ihn noch retten. «Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren»! Mit diesem Hilfeschrei eröffnet Tamino beim ersten Auftritt die bekannte Mozart-Oper ‹Die Zauberflöte›:

«Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren,
Der listigen Schlange zum Opfer erkoren.
Barmherzige Götter! Schon nahet sie sich;
Ach rettet mich! Ach schützet mich!»1

Die Rettung kommt von außen, durch einen ‹Deus ex machina›. Während Tamino in Ohmacht gefallen ist, öffnet sich die Tür des Tempels. Sein Ruf um Hilfe wird beantwortet. Es erscheinen drei in Schleier gehüllte Damen, die ihn auf seinem weiteren Weg begleiten werden. Aus der unmittelbaren Gefahr ist er befreit. Er ist gerettet! Ob diese Rettung auch zur Heilung und schließlich zur Erlösung führen wird, ist das zentrale Thema der ‹Zauberflöte›.

Der gnostische Mythos von Rettung und Erlösung

In vielen gnostischen Strömungen ist ‹Rettung› ein zentrales Motiv, um das sich nicht nur eine Lehre, sondern eine Praxis gebildet hat. Im Selbstverständnis der Gnosis heißt Menschsein, den Finsternismächten ausgeliefert zu sein. Herausgefallen aus der ursprünglichen Lichtheimat, befindet sich jeder Mensch schon durch seine Geburt auf Erden in einem auferlegten Exil. Hans Jonas charakterisiert die gnostischen Strömungen als ein tiefes Empfinden der Tragik jeder menschlichen Existenz und als Äußerung eines nostalgischen Bedürfnisses, sogar als ein unstillbares Heimweh nach einer Welt, in der das vom Bösen verursachte Leiden keinen Platz hat. Ein Schlüsselbegriff dafür ist Entfremdung, die schmerzvolle Erfahrung, ein Fremder, ein Verbannter hier auf Erden zu sein. Das wirkliche Leben, das wahre Zuhause ist woanders. Dahin sehnt sich der Mensch, dahin will er gerettet werden. Rettung heißt Befreiung aus der existenziellen Not der Verbannung auf Erden und Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands im Lichtreich. In der Bildersprache der gnostischen Lehren wird dies als Rückkehr zur uranfänglichen Lichtheimat dargestellt. In dieser wieder aufgenommen werden zu können, wird zum Ziel einer übenden Praxis, wobei sowohl Erkenntnis als auch ein gewisser Asketismus eine Rolle erfüllen. Zahlreiche gnostische Lehren verkündigen deswegen eine Heilslehre, die sehr oft eingebettet ist in eine ausführliche Kosmogonie. Der Schöpfungsmythos fängt an mit einem einzigen Prinzip, mit dem Lichtreich – eine heile, in sich selbst ruhende Welt, in der nur Frieden herrscht. Nichts stört dieses In-sich-selbst-ruhen-Können. Durch den ‹Sündenfall› einer Lichtwesenheit, einen Unfall, der niemals Teil der göttlichen Intentionen war, entsteht das Reich der Finsternis. Dem Lichtreich gegenüber repräsentiert die Finsternis eine abgründige Welt, wo Gier, Hass und Angst herrschen. Sie ist die Materie schlechthin, die ‹Hylè›. In der Materie wirkt das zweite Prinzip, das aus dieser unheilvollen Tat entstandene Reich der Finsternis, wo jetzt die Schöpfung des Kosmos, der Erde und des Menschen auf Erden ihren Anfang nimmt. Insoweit die Menschen in dieser finsteren Welt erwachen und zur Erkenntnis ihrer Lage kommen, beten sie um Hilfe und Rückkehr zum Ursprungsort. Ursprung heißt die ‹heile Welt›. Aber das Lichtreich hat sich seit dem Sündenfall abgegrenzt. Um sich selbst weiterhin gegenüber den Mächten der Finsternis zu schützen, haben die Lichtwesenheiten den Zugang gesperrt. Nur die Allerwenigsten und unter den strengsten Bedingungen finden den Weg zurück. Für die anderen gibt es keine Rettung. Die Götter haben sich aus der Schöpfung zurückgezogen. Wer zurückgeblieben ist, wird sich selbst überlassen.

In seiner grundlegenden Schrift weist Hans Jonas auf eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen der gnostischen Lehre und Lebenserfahrung und gewissen philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts hin. Seitdem Nietzsche den Tod Gottes proklamierte, hat Gott sich aus der Welt zurückgezogen, so Jonas. Es gibt keine sichtbaren Zeichen mehr von einem ‹Anderswo›, vom Transzendenten, und der Mensch ist sich selbst überlassen, «zur Freiheit verurteilt», wie es später Jean Paul Sartre formulierte. Jonas erkennt in Heideggers Begriff ‹Geworfenheit› ein Echo der bekannten Formulierung aus der Schule der Gnosis von Valentinus, in der das Wort ‹geworfen sein› bereits angewendet wurde: poû eneblēthēmen (ποῦ ἐνεβλήθημεν).

«Was uns Menschen frei macht, ist die Einsicht darin, wer wir waren, wer wir geworden sind, wo wir waren und worin wir geworfen sind, wohin wir uns eilen und wovon wir befreit werden wollen.»2

Wichtig ist auch, wie in dieser Formulierung Rettung und Befreiung miteinander verknüpft werden und wie Einsicht zum befreienden Faktor wird. Befreiung bleibt eine individuelle Angelegenheit – sei es eine offene Möglichkeit, sie ist dem Menschen vorbehalten, der zur Einsicht kommen kann. Wer nicht über diese Möglichkeit verfügt, wird sich selbst überlassen und ist von jeder Rettung ausgeschlossen.

Eine besondere Seelenfarbe

In seiner historischen Manifestation (3. bis 17. Jahrhundert) weist die Lehre des Manichäismus in der Kosmogonie und der Eschatologie viele Ähnlichkeiten auf mit den damaligen gnostischen Strömungen. Auch im Manichäismus ist die Frage nach der Erörterung des Bösen und nach der Stellung des Menschen in einer Welt, in der die Kräfte des Bösen wirksam sind, zentral. In den philosophisch-religiös tief bewegten ersten drei Jahrhunderten nach Christi legt der Manichäismus, auch in seiner späteren Entwicklung, Zeugnis ab von einer ganz anders gefärbten Seelenstimmung. Obwohl radikal in seiner Darstellung der beiden Prinzipien, Licht und Finsternis, gibt es keine prinzipielle Ablehnung der Welt als gefallenes Produkt eines Unglücks. Die Schöpfung wird nicht zurückgewiesen. Im Gegenteil, da wo ihre Schönheit zur Erscheinung kommt, wird sie gepriesen und in den unterschiedlichen Kunstformen, in Musik, Malerei und Hymnen, veranschaulicht. Gewiss, die Materie, die Hylè, hat einen bitteren Geschmack. Aber weder Verzweiflung noch Angst gewinnen die Oberhand. In den manichäischen Miniaturfragmenten zum Beispiel, aus der Kultur des zentralasiatischen Manichäismus (8. bis 13. Jahrhundert), findet man in dem lebendigen Ausdruck der Farben und der ausgeglichenen Anwendung der Kalligrafie einen Nachglanz dieser Schönheit. Woher rührt diese Stimmung? Eine Stimmung, die einem entgegenkommt wie eine Ahnung, wie ein erster Frühlingstag, und die darauf hindeutet, dass im Manichäismus noch anderes wirksam ist.

Noch bevor da von Schöpfung gesprochen wird, erscheint nicht die Einheit, sondern die Zweiheit. Licht und Finsternis sind vor aller Ewigkeit da, einander in jeder Hinsicht ebenbürtig. Diese Perspektive der Zweiheit in der manichäischen Kosmogonie bedeutet unter anderem, dass nicht ohne Weiteres von einer Rückkehr zu einem ursprünglichen ‹Einheitlichen› gesprochen werden kann. Die beiden Urprinzipien, das Licht wie auch die Finsternis, durchlaufen eine gemeinsame Entwicklung, wobei ein Prozess der Verdichtung, des Sich-Gestaltens in der Materie, von einem Prozess des Sich-wieder-Auflösens gefolgt wird. Der Blick geht in die Zukunft, nicht nur rückwärts. Es geht um die Intention einer Umwandlung, nicht um ein Wiederherstellen des früheren Zustandes.

Der Mensch als Träger dieser Intention ist dazu berufen, an ihrer Verwirklichung teilzunehmen. Erst dann können Licht und Finsternis ihre moralische Dimension erlangen. Diese kann sich erst zeigen in dem Augenblick, wenn der Mensch sich bewusst wird, dass die beiden ‹Naturen› – Licht und Finsternis – als Grundtendenzen in seiner Natur anwesend sind. Rudolf Steiner hat ganz besonders auf diese Intention zur Zukunft im Manichäismus hingedeutet. Die Intention ist wie ein Samen, der darauf wartet, zu keimen. Aber ist nicht gerade diese Potenz zu keimen das, was sich schon im Vorfeld erahnen lässt? Ist sie es, die uns als eine ganz eigenartige Seelenstimmung entgegentritt?

«Ein Kernpunkt der manichäischen Lehre ist der Satz vom Guten und vom Bösen. Für die landläufige Anschauung bilden das Gute und das Böse zwei absolute, miteinander unvereinbare Gegensätze, von denen das eine das andere ausschließt. Dagegen ist das Böse nach der Ansicht der Manichäer ein integrierender Bestandteil des Kosmos, es arbeitet an dessen Evolution mit und muss zuletzt durch das Gute absorbiert, verwandelt werden.»3

Konflikt versus Schöpfung: die gekreuzigte Lichtseele

Das Herzstück des Manichäismus ist die Vermischung des Lichtes und der Finsternis. Diese Vermischung, ‹Gumezishn›, ein wichtiges Motiv im iranischen Manichäismus, kommt dadurch zustande, dass, nachdem der Urmensch den Finsternismächten entgegengegangen war, seine Lichtseele sich der Finsternis ausliefert und von ihr zerstückelt wird. Die Lichtseele wird in unzählige Lichtpartikel auseinandergerissen. Die Finsterniswesen bemächtigen sich dieser und verschlingen sie. Es entsteht eine dritte Substanz: die Mischung von Licht und Finsternis.

Licht und Finsternis sind im Manichäismus nicht, so wie in mancher gnostischen Lehre, dadurch entstanden, dass sich im Lichtreich ein ‹Unfall› ereignet hat, der eine Hinabentwicklung des Lichtes ‹von oben nach unten› erzeugt hat. Wobei aus dem Abnehmen der Lichtsubstanz als eine Art Verfinsterung das Reich der Finsternis sich gestaltet und in diesem die Schöpfung ihren Anfang nehmen konnte. Hans Jonas spricht von einem ‹vertikalen› Dualismus.

Dagegen sind im Manichäismus Licht und Finsternis als uranfängliche Prinzipen schon ‹vor aller Ewigkeit› gegeben, noch ehe von Schöpfung die Rede ist. Sie sind ihrer Natur nach einander entgegengesetzt, aber ihrer Wesenssubstanz nach einander in jeder Hinsicht ebenbürtig. Deswegen nennt Hans Jonas den manichäischen Dualismus ‹horizontal›. Es gibt also keinen Sündenfall als primären Anlass zur Entstehung der beiden Reiche und keine Verfinsterung des herabfallenden Lichtes.

In der manichäischen Kosmogonie entsteht die Schöpfung aus dem Konflikt zwischen Licht und Finsternis. Die Schöpfung entsteht nicht trotz des Konfliktes, sondern wegen des Konfliktes. Der Konflikt geht der Schöpfung voraus und nicht umgekehrt. Es geht nicht um einen Kampf innerhalb der Schöpfung. Der Konflikt, mit seinem ganzen Streit und Verlust an Sicherheiten, die daraus entstehen, dauert während der ganzen Zeit des Schöpfungsvorgangs an. Es gibt also nicht erst eine Schöpfung, worin dann auf einmal ein Konflikt auflodert. Erst ist der Konflikt da, ein Streit, der zwischen zwei radikal gegenübergestellten Prinzipien entflammt, und aus diesem immer weiter wütenden Streit entsteht die Schöpfung. Weil die Schöpfung ihren Ursprung im Konflikt findet, könnte das Schöpfungsgeschehen negativ gedeutet werden. (Was sich aus einem Konflikt entwickelt, kann nicht im Zeichen des Guten stehen!) Aber die Schöpfung ist die Antwort auf den Konflikt. Erst aus dem Konflikt wurde sie ermöglicht.

In der Anschauung des Manichäismus ist die Schöpfung vielmehr ein Instrument, durch das die Transfiguration des Kosmos am Ende des dritten großen Zeitalters möglich wird. Die Schöpfung ist ein Mittel zur Heilung und Erlösung. Auch das Opfer der lebendigen Lichtseele, Urbild des noch zu erschaffenden, ersten Menschen auf Erden, ist nicht ein tragisches Unglück, das hätte verhindert werden müssen. Die Lichtseele wird nicht gerettet. Anders als für das Geistprinzip, den Licht-Nous, gibt es für sie keine Rückkehr zur Lichtheimat. Notwendigerweise wird dieses Opfer von unsäglichem Leid der Lichtseele begleitet, sie leidet in den Lichtteilen, die in die unschuldigen Geschöpfe der Natur hineingemischt worden sind. In zahllosen Hymnen lässt sie ihre drängende Not erklingen und bittet darum, befreit zu werden.

Gerade wegen dieses Opfers fängt jedoch die Vermischung von Licht und Finsternis an und dank dieser eröffnet sich die Möglichkeit einer zukünftigen Heilung und Erlösung. Durch die verschiedenen großen Schöpfungsphasen hindurch wird diese Substanz der Vermischung sich verdichten, bis zu dem Punkt, an dem Materie entsteht. Dies bedeutet, dass auch in der Materie noch Elemente der Lichtseele anwesend sind.

Materie ist also nicht ein zu Ende gekommenes Ergebnis, das aus der Wirksamkeit der Finsternis entstanden ist, sondern sie ist hervorgegangen aus dem Vermischungsprozess, an dem sowohl Licht als auch Finsternis beteiligt waren. Die zerstreuten Teile der Lichtseele bilden ein Lichtkreuz, an dem die Seele gekreuzigt erscheint und das die ganze erschaffene Welt umspannt.

Im westlichen Manichäismus wurde dieses Lichtkreuz als ‹Jesus patibilis›, die Summe des in der Welt gefesselten Lichtes, angerufen. Zu den zentralen Aufgaben in einer manichäischen Gemeinschaft gehörte es, diese zerstreuten Lichtelemente aus ihrem Gefesseltsein während des kultischen Abendmahls der Electi zu befreien, damit sie wieder ‹eingesammelt› werden könnten. Auf diese Weise wurden sie in einen heilenden, neuen Zusammenhang, in die sogenannte ‹Säule der Herrlichkeit›, aufgenommen, als Vorbote und Zeichen einer zukünftigen Schöpfung.

Eine nie endende Tat

Das Kreuz, das auf Golgatha aufgerichtet wurde, ist eine Tat. Am Kreuzholz, das heißt an der Hylè, an der Materie, wurde Derjenige gehängt, der diese Tat vollzieht. Weder wurde Er gerettet noch konnte Er sich selbst retten. Die sieben Worte, die am Kreuz gesprochen wurden, sind Worte eines Gekreuzigten im Vollziehen dieser Tat. Nirgendwo sonst als am Kreuz konnten sie gesprochen werden. Das Kreuz ist Zeichen und Bild in einem.

Das Kreuz als Zeichen lässt die Wirksamkeit der Tat auf Golgatha jedes Mal neu entspringen. Das Kreuz als Bild offenbart die Wirklichkeit des Wesens, im unaufhörlichen Vollziehen dieser Tat. Jede geistige Wirksamkeit zieht ihre Spur. Ein Zeichen ist ein Mittel, wodurch diese Spur in der Welt des Sichtbaren bleibend verweilen kann. Und wirksam werden. Als Zeichen be-zeichnet das Kreuz die ununterbrochene Wirkung der Tat, die auf Golgatha vollzogen wurde. Ein Zeichen verweist nicht, sondern vollzieht. Im Zeichen des Kreuzes wird die Tat auf Golgatha in ihrer Wirkung neu vollzogen. Jedes Mal. Eine geistige Wirksamkeit kann in ihrer Wahrheit unmittelbar erfahren werden. Die unmittelbare Erfahrung der geistigen Wirklichkeit des Kreuzes ist unerschöpflich. Das Bild vermittelt dieses Unerschöpfliche. Es lebt. Es lebt überall da, wo das Vertikale und das Horizontale einander kreuzen. In jeder menschlichen Gestalt, so wie in jedem Baum, kommt es uns entgegen.

Kreuzen ist weder berühren noch aneinander vorbeigehen. Kreuzen bedeutet: durchdringen. Und in diesem Durchdringen die Möglichkeit einer Umwandlung zu eröffnen. Im kreuzend Sich-Durchdringen wirkt eine Potenz, die jedes Erfassungsvermögen übersteigt. Eine Potenz, die aber in dem Kreuz als Zeichen und als Bild anerkannt werden kann. Es geht um die Kraft, die imstande ist, alles Lebendige zu umspannen und zusammenzuhalten.

Auf eine solche Weise zu umspannen, dass keiner verloren geht. Das ist die horizontale Dimension des Kreuzes. Und diese Dimension wird unaufhörlich von dem durchzogen, was aus den Höhen zu den Tiefen herabsteigt. Und das nach dem Kreuzen mit der Dimension des Horizontalen aus den Tiefen wieder aufsteigen kann: die vertikale Dimension.

Da, wo beide sich kreuzen, begegnen sich sowohl das Bedürfnis, gerettet zu werden, als auch die Notwendigkeit einer Heilung, die alle Geschöpfe betrifft. Erst da wirkt die Kraft des Erlösers. Und werden wir gerettet und geheilt.


Zur Gestaltung Zu Ostern 2022 gehört – so unser Empfinden – die Stille, der Karsamstag. Christine Gruwez holt das Wort aus der Stille. Mit den Farbstimmungen folgen wir dem.
Gestaltung: Fabian Roschka.

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Footnotes

  1. Erster Aufzug, erster Auftritt. W. A. Mozart, Die Zauberflöte, Reclam 1991, S. 7.
  2. Hans Jonas, The Gnostic Religion. The message of the Alien God and the beginnings of Christianity, Religion. London 1992, S. 334 ff.
  3. Rudolf Steiner, Kosmogonie. Zweiter Vortrag, 26. Mai 1906, in: ders. Kosmogonie (GA 94), Dornach 2001, S. 23.

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