Die Christen­gemeinschaft im National­sozialismus­

Zum 100. Jubiläum der Gründung der Christengemeinschaft erschien im Herbst 2021 im Verlag Urachhaus dieses gewichtige Buch, das eine Lücke im Umgang mit der Geschichte der Christengemeinschaft schließt.


Frank Hörtreiter, Pfarrer der Christengemeinschaft, Theologe und Altphilologe, hat sich in jahrelanger Arbeit eines schwierigen, bislang weitgehend unbehandelten Themas angenommen: wie die Priesterschaft und die Mitglieder der Christengemeinschaft zum Nationalsozialismus standen und wie die damals noch sehr junge Bewegung die Zeit vor und nach dem Verbot im Juni 1941 erlebte und überstand. Das Buch ist klar gegliedert. Ein erster Teil, bestehend aus sechs Kapiteln, behandelt in chronologischer Reihenfolge die wichtigsten Akteure, Themen und Schritte: 1. Friedrich Rittelmeyer (erster geweihter Priester und Erzoberlenker der Christengemeinschaft); 2. Das Verhältnis zwischen F. Rittelmeyer und der damaligen Priesterschaft; 3. Die Mitglieder; 4. Die Nähe und Ferne der Christengemeinschaft zum Nationalsozialismus; 5. Das Verbot; und 6. Die Zeit zwischen Verbot und Kriegsende. Jedes Kapitel besteht aus ebenso klar gegliederten Unterkapiteln, die auch für sich gelesen werden können und das Herangehen erleichtern. Es folgen im zweiten Teil zahlreiche historische Dokumente (z. T. als Faksimile), die im ersten Teil bereits erwähnt und kommentiert worden sind. Ein Anhang mit ausführlichen Listen, unter anderem von Gemeindechroniken und Literaturhinweisen, rundet das gut 400 Seiten starke Buch ab und gibt Anregungen für eine weitere Beschäftigung mit der Geschichte der Christengemeinschaft im weitesten Sinne.

Sowohl inhaltlich als auch stilistisch stellen für jüngere Menschen die abgedruckten und erläuterten Stellen aus dem Buch ‹Deutschtum› von Friedrich Rittelmeyer (1934) gleich zu Beginn des Buches eine schwere Kost dar. Einerseits beschäftigen sich heutzutage wohl nur noch Philosophen oder Historiker mit dieser Thematik, andererseits ist auch die Ausdrucksweise von Rittelmeyer schwer zugänglich. Doch ist diese Darstellung von grundlegender Bedeutung, um die Stellung der damals prägenden Führungsfigur der Christengemeinschaft zum Nationalsozialismus verstehen zu können. Es lohnt sich, die sehr differenzierte und genaue Analyse von Frank Hörtreiter zu lesen, welche nicht versucht, Rittelmeyer von zeitbedingten Vorurteilen freizusprechen, und gleichzeitig klarstellt, wie die damalige Begriffsbildung und das Wortverständnis in Bezug auf ‹die Juden› oder auf ‹Rassen› bestellt waren. Erleichtert lesen wir, dass für Rittelmeyer ganz eindeutig der Nationalsozialismus nicht ‹deutsch genug› war, weil der erste Erzoberlenker der Christengemeinschaft die (geistige) Bestimmung des Deutschen ganz anders verstanden hatte als der Nationalsozialismus, nämlich als Ideal, welches auf äußere Machtausübung gänzlich verzichtet.

Eine der großen Stärken des Buches besteht meines Erachtens darin, dass Frank Hörtreiter allen Lesern und Leserinnen, welche nicht der Priesterschaft der Christengemeinschaft angehören, relevante Stellen aus Priesterrundbriefen sowie aus Nachlässen und allerlei bisher unveröffentlichten Dokumenten zugänglich macht. Ohne sie wäre es nämlich schier unmöglich, dieses Thema verständlich zu machen.

Mut zum Sehen

Dieses Buch zu schreiben, auch über 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erfordert Mut, denn es bedeutet unter anderem, sich mit Schattenseiten der eigenen Bewegung auseinandersetzen zu müssen und so objektiv wie möglich über Mitpriester zu berichten, welche nach ihrer Weihe Nationalsozialisten wurden (Johannes Werner Klein, der jedoch schon 1929 aus der Priesterschaft ausgeschieden war und daher für die beleuchtete Zeit keine Rolle spielt, und vor allem der Holländer Jan Eekhof) oder aber Nationalsozialisten waren, es jedoch später verschwiegen und nach dem Krieg geweiht wurden (Friedrich Benesch und Werner Georg Haverbeck).

Ferner gibt der Autor eine klare Antwort auf die wichtige Frage, ob die Christengemeinschaft zur Gegnerschaft des Nazi-Regimes oder gar zum aktiven Widerstand gezählt werden kann. Die Antwort muss (leider) – aus den Dokumenten abgeleitet – lauten: Nein, das ist nicht der Fall, und dies, obwohl sie verboten wurde und sowohl führende Pfarrer als auch Mitglieder im Gefängnis oder gar im Konzentrationslager inhaftiert worden waren. Der Autor stellt auch die unbequeme Frage nach dem Umgang mit den verfolgten Juden in den Gemeinden und verweist in diesem Zusammenhang auf die bisher nur sehr sporadisch erfolgte Recherchearbeit einzelner Gemeinden zu diesem Thema.

Durch die vielen abgedruckten Dokumente aus der Feder zahlreicher Priesterinnen, Priester und Mitglieder der Christengemeinschaft gelingt es, einen authentisch wirkenden und lebendigen Eindruck der damaligen Zeit und ihrer Dramatik zu vermitteln. Gleichzeitig wird immer wieder klar, dass Lücken in der Darstellung und Fragezeichen unvermeidbar sind, erst recht nach einer so langen Zeit.

Frank Hörtreiter: Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus. Urachhaus, Stuttgart, 2021

Gestapo im Publikum

Spannend sind die Berichte, die über die deutschen Grenzen hinausblicken und schildern, auf welche Weise die (wenigen) Pfarrer, die in den Niederlanden, Großbritannien, Schweden und dem besetzten Norwegen eingesetzt waren, ihre Arbeit während des Krieges fortsetzen konnten.

Sehr ergreifend sind die Zeugnisse, aus denen hervorgeht, wie viel im Verborgenen von einzelnen Menschen gewagt worden ist: Pfarrer zelebrierten, tauften oder bestatteten verbotenerweise; eine Mutter hielt eine konfirmationsähnliche Feier für ihre Kinder ab; ein Vater schickte seinem Sohn von der Front aus Briefe als ‹christliche Unterweisung› als Konfirmationsersatz; eine Frau, die als treues Gemeindemitglied mit sehr gutem Gedächtnis den Wortlaut der Menschenweihehandlung auswendig konnte, sprach ihn im KZ monatelang regelmäßig vor einer kleinen Gruppe.

Ein für Anthroposophen äußerst wichtiger Aspekt, welchen Hörtreiter akribisch herausarbeitet, ist der des Verhältnisses der Christengemeinschaft zur bereits 1935 verbotenen Anthroposophischen Gesellschaft. Wie kam es überhaupt dazu, dass die Christengemeinschaft erst 1941 verboten wurde? Auch auf diese Frage gibt das Buch nicht eine Antwort, sondern mehrere Antwortansätze. Nur so viel sei hier verraten: Die Christengemeinschaft verdankt es unter anderem dem Umstand, dass die Mehrheit der Priesterschaft sich zwar nicht innerlich von der Anthroposophie distanziert, aber streng darauf geachtet hatte, sich nach dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft auf ihren eigentlichen religiösen Kern zu konzentrieren und beispielsweise bei Vorträgen, die ja auch von der Gestapo besucht wurden, rein religiös-christliche Fragen zu behandeln und Rudolf Steiners Namen nicht zu erwähnen.

Sehr lobenswert finde ich die gelungene Mischung aus den vielen facettenreichen Dokumenten, die zahlreiche Zeitzeugen zu Wort kommen lassen, und den eigenen Texten von Frank Hörtreiter. Er versteht es, Fakten sachlich zu präsentieren, und scheut sich gleichzeitig nicht, in seiner charakteristischen, direkten Sprache persönlich Stellung zu beziehen und auch Versäumnisse der Christengemeinschaft klar zu benennen.

Es ist erfreulich, dass dieses gelungene und wichtige Buch nun als ‹vorbereitende Studie› für eine ‹grundlegende Darstellung› der Geschichte der Christengemeinschaft anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens vorliegt. Auf den neuen Band darf man sich schon jetzt freuen!

Last but not least: Dank der herausragend guten Arbeit von Helmut Stabe (Gestaltung und Satz) ist das Buch auch haptisch und optisch ein Juwel. Die zahlreichen Anmerkungen beispielsweise sind nicht als Fußnoten, sondern in Form von Randbemerkungen angebracht, was das Lesen erleichtert.

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