Der nächste Schritt

‹Wegspuren› heißt das neue Programm der Goetheanum-Eurythmie-Ensemble. Ein Klaviertrio von Schubert und eine dramatische Sonate für Cello und Klavier von Lera Auerbach mischen sich mit Texten von Rudolf Steiner und Hilde Domin. Immer geht es dabei um das scheinbar so selbstverständliche menschliche Gehen, dabei ist die Frage oft kaum zu beantworten: «Wie finde ich den nächsten Schritt?» ‹Wegspuren› will dazu ermutigen. Ein Gespräch mit Tanja Masukowitz, Silke Sponheuer und Rafael Tavares, den künstlerisch Verantwortlichen des Programms. Die Fragen stellt Wolfgang Held.


Wie kam es zu eurem neuen Eurythmie-Programm?

Tanja Masukowitz Mit der Frage, wie wir den nächsten Schritt setzen können. Mit jedem Schritt entscheiden wir, in welche Zukunft wir gehen wollen. Das hat uns eurythmisch interessiert.

Silke Sponheuer Zu gehen ist das elementarste Bild, Ereignis, wie wir Zukunft zur Gegenwart und Gegenwart zu Vergangenheit machen. Würden wir einfach sitzen bleiben, würde dieser Strom nicht stattfinden. Wir alle folgen Zielen, die wir oft nicht erreichen, weil das Leben uns auf Umwege schickt, etwas Interessanteres mit uns vorhat. Alles beginnt mit dem ersten Schritt.

Rafael Tavares Für den es unendlich viele Möglichkeiten gibt, und jeder Schritt lässt die Umgebung anders erscheinen, öffnet einen neuen Raum. Wir haben einige Musikstücke gewählt, von Schubert bis Auerbach, um das zum Erlebnis zu bringen.

Christian Morgenstern sagt: ‹Wer vom Ziel nichts weiß, wird den Weg nicht finden.› Heute scheint das Gegenteil wahr: ‹Wer vom Weg nichts weiß, wird das Ziel nicht finden.› Ist das auch eure Beobachtung?

TM Wir haben in unserem Programm ein kurzes Zitat aus ‹Die Arbeit der Vögel› der Schriftstellerin Marica Bodrožić. Sie schreibt das ganz ähnlich: «Wir können keinen Weg dauerhaft gehen und im Gehen zeitgleich von oben aus der dahinschwebenden weiten Luft der Vögel auf uns selbst sehen. Wir müssen manchmal aufbrechen, ohne zu denken. Der Aufbruch muss die Regie über das Ziel und den Blick auf unsere Füße übernehmen.» Ohne sich selbst dabei zu beobachten und alles steuern zu wollen, sollten wir manchmal einfach losgehen.

RT Es ist ein Moment, wo der Wille sich entfaltet, ohne durch unser Denken eingeengt zu werden. Wir entdecken: Es gibt eine Weisheit des Willens, eine Weisheit unseres Leibes.

Zum Gehen gehören das Gleichmaß, die Monotonie und das Stolpern. Das spiegeln die Musikstücke von Schubert und von Auerbach, oder?

SS Diesen Kontrast der beiden Stücke haben wir gesucht. Das Klaviertrio von Franz Schubert strahlt Ruhe und Sicherheit aus, während die Sonate für Cello und Klavier von Lera Auerbach voller Brüche und Überraschungen ist. Dabei ist interessant, dass sie als ursprünglich in der Ukraine lebende Russin mit all den Zerwürfnissen unserer Zeit vertraut ist. Jetzt lebt sie in den USA. Bei ihrer Musik weißt du nicht, wo es hingeht, jeder Schritt ist ein Wagnis. Jetzt denkst du, jetzt bist du in so einem schönen Walzer drin, und dann kommt was dazwischen – ein Spiel von Willenskraft und Störung. Erst am Ende ihrer Sonate zeigt sich der Weg – ein wunderbarer Moment. Wie anders Schuberts Komposition: Hier kann unsere Seele eintauchen und singen und loslassen.

TM Bei jedem Schritt frage ich ja nicht nur danach, wohin ich mich wende, sondern auch, wo ich denn stehe. Wo bin ich verortet? Was ist mein Standpunkt, aus dem ich dann in Bewegung komme.

RT Das Motiv von Marica Bodrožić, auch gedankenverloren den eigenen Weg zu gehen, klingt mehrmals in unserem Programm auf. Und jedes Mal, so hoffen wir, wird man es mit anderen Ohren hören, mit anderen Augen sehen, weil man auf einem Weg ist, wo sich fortwährend die Perspektiven entwickeln. Während die Musik von Lera Auerbach uns durch ihre Brüche weckt, ist es bei Schubert umgekehrt, hier ist es gerade wichtig, wach zu sein, für die Nuancen, die sich in Melodie und Tonart ändern. ‹Gehen› ist ja das Thema des Programms und so werden wir zwischen einzelnen eurythmischen Motiven auch tatsächlich nur ‹gehen›.

Ist es also nicht das, was ich jetzt Schreiten nennen würde?

SS Doch, aber so, dass du alle eurythmischen Gestalten loslässt, keine Intervalle darstellst und auch keine Töne oder Harmonien, aber doch im Zeitstrom bleibst. Der Zeitstrom bleibt, die Zeit geht weiter, aber alles andere, was du sonst mit Dominanz oder Tonika zeigst, verschwindet.

Dazu habt ihr Worte von Rudolf Steiner gewählt. Wie fügt sich das dazu?

TM Das kann man natürlich als nicht besonders orginell empfinden, aber tatsächlich hat uns das willenhaft Plastische von Rudolf Steiners Worten nicht losgelassen. Die inhaltliche Dichte und der Sprachfluss seiner Sprüche fügten sich so gut in unser Thema des Gehens.

SS Gerade in einem Fragment wie von dem grünen Fenster verdichtet sich alles in wenige Worte. Unsere Lebenskräfte sind heute angegriffen und da hat die Kraftentfaltung in einem Wort etwas Heilsames! Zugleich liegt in Rudolf Steiners Lyrik die Doppelheit, die wir zeigen wollen. Gehen ist individuell und kosmisch! Es kommen Mikrokosmos und Makrokosmos zusammen.

Und wie ist es jetzt für die Zuschauenden, was wünscht ihr euch, was in ihnen sich ereigne?

TM Eigentlich, dass sie da rausgehen genau mit der Frage: Wo werde ich meine nächsten Schritte setzen und warum? Dass wir dazu anregen, auf diesen Moment, wo wir uns bewegen, aufmerksamer zu werden. Das ist ja im Kleinen, was im Größeren unsere ganze Biografie, den Lebensweg ausmacht. Wie und wo setze ich meine nächsten Schritte und: Wo bleibe ich stehen?

RT Ich glaube, das kann man schon sagen, dadurch wollen wir etwas Positives. Für die Zukunft auch. Ich weiß aber nicht, was es ist.

SS Wir wollen nichts Bestimmtes, sondern nur eine Offenheit. Wo bin ich jetzt? Wie werde ich hellfühlend für die Zukunft und schöpfe das Vertrauen, den Schritt zu setzen und nicht stehen zu bleiben.


Einblicke in das neue Programm ‹Wegspuren›, 10. Dezember, 19 Uhr, Grosser Saal
Premiere ‹Wegspuren› am 30. Dezember, 20 Uhr, Grosser Saal.

Fotos François Croissant

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