Der Leib vollzieht das Leben

Jeder Mensch hat einen Körper. Dieses Bewusstsein ist nicht primär. Wir wachsen mit der Zeit in es hinein. Die Fokussierung auf den Körper als Objekt entfremdet uns von unserer Gegenwärtigkeit. Das Leibsein hingegen ist die Quelle zu unserem spontanen Ausdruck und individuellen Werden.


Thomas Fuchs

Die deutsche Sprache lässt eine Unterscheidung zu, die es so in vielen anderen Sprachen nicht gibt: die Unterscheidung zwischen ‹Leib› und ‹Körper›. ‹Leib› ist der ältere Begriff, im Englischen ‹lived body›. Er steht dem Wort ‹Leben› nahe, als das Lebendige, Gelebte, Gespürte, aber auch die lebendige Erscheinung, die leibhaftige Gegenwart eines Menschen. ‹Körper› hingegen leitet sich vom lateinischen ‹corpus› ab, also Körper oder Leichnam. Es bezeichnet primär den materiellen, den dinglichen Gegenstand. Wir können unseren Leib wie ein Ding unter Dingen betrachten, eben als Körper; wir können uns von außen sehen. Unser Leib ist mit den physischen Dingen verbunden; er ist widerständig, stofflich, sichtbar.

Leib und Körper sind zweierlei

In der philosophischen Anthropologie hat besonders Helmuth Plessner die Gegenüberstellung von Leibsein und Körperhaben zum Ausdruck gebracht: Ich bin mein Leib, aber ich habe diesen Leib auch als meinen Körper. Damit wandte sich die philosophische Anthropologie im frühen 20. Jahrhundert gegen den Descartes’schen Dualismus der Moderne, nach dem sich das Ich als unkörperlicher Geist in einem äußerlichen Körpervehikel denken ließe. Dem gegenüber steht der Gedanke der Verkörperung. Hiernach sind wir unabdingbar leibliche Wesen, die in unserem ganzen lebendigen Leib zu Hause sind, auch wenn wir uns diesen Leib als Körper bewusst machen können. Diese Unterscheidung von Leib und Körper ist aber nicht angeboren. Der Säugling ist gewissermaßen noch reiner Leib und der Blick von außen auf seinen Körper wird ihm erst im Laufe des zweiten Lebensjahres zugänglich. Sich als Körper zu erkennen, ist innig mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins und der Reflexionsfähigkeit verknüpft.

Unser alltägliches Erleben als Erwachsene ist dann von einer Polarität geprägt, in der wir uns ständig zwischen Leibsein und Körperhaben hin und her bewegen. An einem Pol finden wir unseren gelebten Leib als Träger unseres Lebens, der unsere Wahrnehmungen und Bewegungen als Medium vermittelt, dabei aber selbst im Hintergrund bleibt. Ich muss beispielsweise nicht darauf achten, wie mein Leib die Worte formt, die ich gerade sprechen will. Der Leib entlastet dadurch unser Bewusstsein. Er ist stillschweigend in all meinen Lebensäußerungen wirksam, als die Grundlage des selbstverständlichen Lebensvollzugs.

Tritt nun der Leib aus dieser Latenz hervor, so wird er zum erlebten und gespürten Leib, zum Beispiel als Raum der Anspannung oder Entspannung, des Hungers und Durstes, der Lust und Unlust usw. und auch als Resonanzraum der Gefühle, die uns ergreifen. Je mehr ich nun aus der Unmittelbarkeit des Leibes heraustrete und ihn als Werkzeug benutze, etwa zum Ausführen einer bestimmten Bewegung, desto mehr verliert er seinen vermittelnden Charakter. Er wird zum Instrument meiner Intention, das sich aber auch meiner Verfügung entziehen und mir dann im Weg stehen kann. Zum Körper wird der Leib daher vor allem, wenn der gewohnte Lebensvollzug gestört ist, etwa bei einer Ungeschicklichkeit, einem Sturz, in einer Erschöpfung oder Schwere, bei Verletzung oder Krankheit. Mit diesem Bewusstwerden oder Hervortreten wird der gelebte Leib zu meinem Körper, an den ich gebunden bin, der meine Existenz ermöglicht, mit dem sie aber auch untergehen kann. In der Angst, in Atemnot oder in schwerer Krankheit erfahre ich mich als verletzliches, sterbliches Geschöpf – als ein Wesen in einem Körper.

Doch es gibt noch eine andere Form, wie der gelebte Leib zum gegenständlichen Körper wird, nämlich unter dem Blick der anderen. Durch ihn erhält der Leib eine Außenseite. Er wird zum «Körper-für­-andere»,wie Jean-Paul Sartre es ausdrückte, sei es im Erblicktwerden, sei es durch das bewusste Auftreten und sich Darstellen vor anderen. Mit dem Bewusstwerden der eigenen Erscheinung vor anderen sind zentrale personale Gefühle verbunden wie Scham, Befangenheit oder Stolz.

Der Körper erscheint also immer da, wo die unbemerkte Vermittlung unterbrochen wird und die Aufmerksamkeit sich auf den Leib zurückwendet. So oszilliert die Leiblichkeit des Menschen in der Polarität zwischen unbewusst-unbemerktem Leib und widerständig-auffälligem, sichtbarem Körper. Der Leib ist letztlich gar kein Gegenstand, sondern die Bewegung des Lebens selbst. Der Körper hingegen ist der bewusst gewordene, der festgestellte, für einen Moment angehaltene Leib. Leibsein ist Werden. Körperhaben ist Gewordensein.

Das primäre Selbsterleben entsteht in Beziehungen

Die Entwicklung, die vom Leibsein zum Körperhaben führt, ist eine Entwicklung zunehmenden Selbstbewusstseins. Am Beginn des Lebens steht die reine Leiblichkeit. Sie beginnt bereits vor der Geburt, im Mutterleib, nämlich mit einem basalen Selbsterleben, über das auch schon der Fötus verfügt. Er vermag bereits zu unterscheiden, ob er sich selbst berührt oder die umgebende Gebärmutter. Der eigene Körper fühlt sich nämlich anders an; er spürt die Berührung. So zeigt auch das Neugeborene bereits ein präreflexives basales Selbsterleben, denn es spürt Schmerz oder Hunger als den eigenen und reagiert mit dem Ausdruck des Affekts, etwa durch Schreien.

Durch zunehmende Integration der verschiedenen Sinnes- und Bewegungserfahrungen bildet sich in den ersten Lebensmonaten ein leiblich-räumliches Selbst aus. Der Säuglingsforscher Daniel Stern hat auch von einem Kernselbst gesprochen, das sich freilich noch nicht selbst erkennt. Dieses primäre Selbsterleben ist aber nicht trennbar von den Beziehungen zu den ersten Bezugspersonen. Es entwickelt sich im Rahmen der primären Intersubjektivität oder der «Zwischen-Leiblichkeit», wie der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty es nannte. Babys sind bald nach der Geburt in der Lage, mimische Bewegungen von Erwachsenen, wie Mundöffnen, Zungezeigen, Zungespitzen, Stirnrunzeln, zuverlässig nachzuahmen. Sie verfügen bereits über ein intermodales Körperschema, das die wahrgenommene Mimik der anderen in die eigenen empfundenen Körperbewegungen übersetzen kann: Die gesehene Zunge wird analog zur eigenen gespürten bzw. bewegten Zunge erlebt. Das heißt aber, der Körper des anderen und der eigene Leib werden als miteinander verwandt erfahren.

Über die leibliche Nachahmung entwickelt sich zunehmend eine emotionale Resonanz zwischen den Bezugspersonen und dem Säugling. Bereits mit sechs bis acht Wochen zeigen sich in Eltern-Kind-Dyaden sogenannte Protokonversationen, das heißt, fein abgestimmte Koordinationen von Gestik, Vokalisierungen und Affekten. Im Verlauf dieser Interaktionen erwirbt das Kind spezifische interaktive Schemata. Daniel Stern beschreibt sie als implizites Beziehungswissen. Darin wächst das Wissen, wie man mit anderen umgeht, Gefühle austauscht, Aufmerksamkeit erregt, Kontakt wiederherstellt usw. Es ist ein wechselseitiges Verstehen auf Basis von leiblicher Kommunikation und Empathie. Durch diese affektive Resonanz lernt sich der Säugling im anderen kennen. Noch vor jeder Selbstreflexion erfährt der Mensch sich in der affektiven Spiegelung durch die anderen, nämlich als wahrgenommen, wertgeschätzt und geliebt. So entsteht sein «Selbst-mit-anderen» oder sein soziales Selbsterleben.

Bevor aber das Kind sich und seinen Körper im Spiegel erkennen lernt, kommt es im achten bis neunten Lebensmonat zu einem zentralen Entwicklungsschritt. Es geht um das Phänomen der gemeinsamen Aufmerksamkeit (joint attention). Babys beginnen, sich gemeinsam mit Erwachsenen Gegenständen zuzuwenden, die diese ihnen zeigen. Bald darauf gehen Babys dazu über, die Aufmerksamkeit der Erwachsenen selbst durch Zeigegesten auf Dinge zu lenken und sich dabei der Aufmerksamkeit der Erwachsenen durch kurze Blicke zu vergewissern. Zeigegesten sind der Ausdruck einer gemeinsamen Beziehung auf Objekte, die von beiden Partnern gesehen werden. Dies ist nicht mehr die primäre, dyadische Situation der ersten Lebensmonate, sondern eine triadische Situation, die aus dem Säugling, dem Erwachsenen und dem gemeinsam gesehenen und intendierten Objekt oder dem gemeinsamen Ziel einer Handlung besteht. In der gemeinsamen Aufmerksamkeit manifestiert sich eine spezifisch menschliche Kommunikation, die Verständigung über einen gemeinsamen, äußeren Bezugspunkt. Hier liegt auch eine grundlegende Abgrenzung zu den mentalen Fähigkeiten der Primaten, die keine gemeinsame Aufmerksamkeit entwickeln.

Die Zeigegeste ist noch in anderer Weise fundamental. Der Säugling erlebt, dass es eine Aufmerksamkeitsrichtung gibt, die er selbst beeinflussen kann. Er beginnt, zu begreifen, dass die Welt aus den Augen der Bezugsperson anders aussieht, dass er sich aber mit ihr darüber verständigen kann. Er zeigt ihr einen Gegenstand, weil er merkt, dass sie ihn noch nicht sieht, aber gleich sehen könnte. Darin bildet sich eine grundlegende neue Stufe der Intersubjektivität ab, die der Entwicklungspsychologe Michael Tomasello auch Neunmonatsrevolution nennt.

Leibsein ist Werden. Körperhaben ist Gewordensein.

Als Kinder fallen wir aus dem Paradies der Leiblichkeit

Zu der primären, leibzentrierten Perspektive des ersten Lebensjahres tritt das Bewusstsein der Perspektive der anderen. Diese Perspektive ist auch auf das Kind selbst gerichtet. Die Erwachsenen zeigen auf das Kind, benennen es und geben ihm einen Namen. Diese Außenperspektive verinnerlicht das Kind nach und nach zum reflexiven Selbstbewusstsein. Es betrachtet nicht mehr nur die äußeren Objekte, sondern auch sich selbst mit den Augen anderer. Ab dem zweiten Lebensjahr entwickelt sich schrittweise das reflexive oder personale Selbst. Das Kind wird fähig, sich selbst im Spiegel zu erkennen, sich mit ‹Ich› zu bezeichnen und sich von anderen abzugrenzen, die auch ‹Ich› sagen können. Es ist zunehmend in der Lage, seine ursprüngliche Zentralposition zu überschreiten und, wie Plessner es ausdrückt, eine exzentrische Position einzunehmen. Damit steht das Kind zugleich im Zentrum seiner Welt, aber es kann sich auch dezentrieren und von außen sehen. Das ist keineswegs nur eine kognitive Leistung. Es schließt die Reihe von selbstreflexiven Emotionen ein: Scham, Verlegenheit, Stolz oder Schuldgefühl. Diese Emotionen beruhen auf dem internalisierten, bewertenden Blick der anderen.

Scham führt zu einer Erstarrung im Zentrum der fremden Blicke, zu einem Verlust des unbefangen agierenden Leibseins. An seine Stelle tritt der von anderen erblickte Körper. Schon ein schüchterner Mensch weiß oft nicht, was er mit seinem Leib anfangen soll, und wird sich seines Körpers peinvoll bewusst. Auch in der Paradieserzählung der Genesis sind Bewusstwerdung und Scham eng in ihrer Entstehung miteinander verknüpft. Mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis gehen Adam und Eva die Augen auf, wie es dort heißt, und sie erkennen sich in ihrer Nacktheit, die sie nun vor Gott verbergen, gleichsam vor dem allgegenwärtigen Blick des anderen. Beschämende Nacktheit bedeutet die Verwandlung des unbefangenen, frühkindlichen Leibseins in das bewusste Körperhaben.

Dass mit dem Baum der Erkenntnis das Wissen um die eigene Sterblichkeit verbunden ist, bestätigt, wie unsere Leiblichkeit durch den fremden Blick begrenzt ist. Vor diesem Blick verliert der Leib auch seine ursprüngliche Ewigkeit, seine Zeitlosigkeit, das reine Werden des Lebens und wird zu einem vergänglichen, irdischen Körper. Hier stürzen wir gewissermaßen aus dem Paradies des ursprünglichen Leibseins. Mit dem Bewusstsein, dass wir erblickt werden, und mit der Scham beginnt das reflexive oder das Selbstbewusstsein. Das Kind fällt aus der primären leiblichen Verbundenheit mit der Welt heraus und wird auf seinen Körper zurückgeworfen. Es wird seinem Leib bis zu einem gewissen Grad auch entfremdet. Der fremde Blick trennt uns aber nicht nur durch unsere Scham von der Unmittelbarkeit des Leibseins; vor dem fremden Blick wird die Leiblichkeit nicht nur zu einer gesehenen und nackten, sondern auch zu einer gemachten, gewollten und mitunter künstlichen. Aus dem, was man ist, wird das, was man darstellt – unsere Rolle.

Der Leib wird zum «Körper-für­-andere», zum Objekt ihrer Bewertung und zum Instrument der Selbstdarstellung, sei es in der willkürlich eingenommenen Pose, in Kleidung, Schmuck, Kosmetik oder anderem. Zunehmend trägt der Körper auch Haltungen, Benehmen, Manieren und Rollen, die das Kind von anderen übernimmt. Es lernt, sich in seinem Körper darzustellen, aber auch eine Rolle zu spielen und den spontanen Ausdruck zu hemmen. Die Fähigkeit zur Leibbemeisterung und Selbstdisziplin zu erwerben, ist Teil des kulturellen Prozesses. Die Erziehung oder kulturelle Überformung des Leibes, die sozial vorgegebene Haltungen, Manieren und Benehmen vermittelt, wird als gewohnheitsmäßiger Habitus zu unserer zweiten Natur. Allerdings kann sie mit der Spontaneität des Leibes in Konflikt geraten, etwa wenn man die Fassung verliert. Die Naturseite des Leibes und des leiblichen Werdens widersetzt sich bis zu einem gewissen Grad der Naturbeherrschung, die der Mensch im Lauf der Kulturentwicklung an sich selbst vollzieht.

Die Herkunft des personalen Selbstbewusstseins aus der Interaktion mit den anderen hat vor allem der Philosoph George Herbert Mead betont. Er unterscheidet das primäre, spontane, unreflektierte Selbstsein, das sogenannte ‹I›, von dem objektivierten Selbst oder dem ‹me›, dem, wie ich mich als von den anderen widergespiegelt erfahre. Daraus resultiert eine dialektische Auseinandersetzung zwischen dem primären Selbsterleben als Quelle der Spontaneität auf der einen Seite und den von anderen übernommenen Haltungen oder Rollen, die sich das Kind zur Bildung seiner Identität aneignet, auf der anderen Seite. Die Haltungen der anderen bilden das organisierte ‹me›, und man reagiert darauf als ein ‹I›. Das ‹self› als übergreifende Identität des Individuums bildet sich aus der fortwährenden Wechselwirkung zwischen ‹I› und ‹me›, durch die Integration von Spontaneität und Rolle.

Die frühesten Strukturen der sozialen Identität werden noch gar nicht durch sprachliche Zuschreibungen gebildet, sondern durch die leibliche Nachahmung und Identifizierung mit Rollenmustern: etwa die Brave, die Aparte, die kleine Prinzessin oder der Sanfte, der Ritter, der kleine Erwachsene usw. All das sind Kinder natürlich nicht von Vornherein. Jede definierte soziale Identität erfordert, dass wir unser Selbstbild mit dem Bild abgleichen, das uns von außen angeboten oder zugewiesen wird. Das gerät aber häufig in Konflikt mit dem primären, spontanen Selbstsein.

Die menschliche Identität pendelt zwischen Spontanität und Rolle

Das Grunddilemma der Identität des Menschen entsteht durch Übernehmen der von anderen geschaffenen Selbstbilder oder Rollen. Sie müssen dem spontanen, werdenden Selbst immer wieder fremd werden. Mein Rollenkleid passt mir dann gleichsam nicht mehr und muss neu geschneidert werden. Diese innere Widersprüchlichkeit kommt auch im Begriff der ‹Person› zum Ausdruck, der ursprünglich vom lateinischen ‹persona›, also ‹Maske› oder ‹Rolle› abgeleitet ist, dann aber auch den Träger, die Trägerin dieser Rollen selbst bezeichnet. Die Maske entspricht der Ansicht von außen, also der Körperseite der Person. Der Leib hinter der Maske entspricht der Person in ihrer Spontaneität und Entwicklungsfähigkeit. Schon im Begriff der ‹Person› sind Leib und Körper, Innen und Außen, Eigenes und Fremdes untrennbar und zugleich ambivalent verknüpft.

Es macht unsere exzentrische Position als Mensch und damit auch die Widersprüchlichkeit unserer personalen Existenz zwischen Leibsein und Körperhaben aus, dass wir im Alltag zwischen beiden Erlebnissen hin- und herpendeln. Damit wird es jedoch zu unserer Aufgabe, zwischen beiden Formen der Existenz ein Gleichgewicht zu finden. Unsere gegenwärtige Kultur ist nun dadurch charakterisiert, dass die spontanen leiblichen Existenzweisen immer mehr durch instrumentelle ersetzt werden. Ein trainierter und gestylter Körper wird beispielsweise zum Mittel der Selbstinszenierung und Selbstvermarktung. Im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf wird das Aussehen zur Ware, erst recht in einer von Medien und Kulturindustrie, von Werbung und Marketing bestimmten Öffentlichkeit.

Damit Schritt zu halten, erfordert ständige Arbeit am eigenen Körper, die Zeit und Geld kostet. Der Körper gilt nicht mehr als Schicksal, sondern wird zum Projekt. So verlagert sich das Leibsein immer mehr zum Körperhaben, in die Sicht von außen und damit auch in die Trennung des denkenden Subjekts von seinem Körper. Das ist eine Kulturentwicklung, die die Emanzipation vom Leib und seine Umwandlung in den verfügbaren Körper zum Ziel hat. Darum ist das Leibsein in unserer Kultur längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Es wird vielmehr selbst zu einer Aufgabe. So paradox es klingt, wir müssen das Selbstverständliche wieder einüben.

Eine neue Diätetik, eine Kunst leiblicher Lebensführung, bestünde zunächst in der Bereitschaft, sich auf das spontane Werden des Leibes einzulassen. Sie bestünde auch darin, das Leibsein wieder über das Körperhaben zu stellen, statt den Körper immer mehr zu instrumentalisieren. Es ginge also darum, mit dem Bewusstsein wieder in den Leib hinabzusteigen und im Vollzug des Lebens gegenwärtig zu sein. Das gelingt, indem wir uns den einfachen, alltäglichen Verrichtungen mit Achtsamkeit zuwenden, dem Atmen, dem Essen und Trinken, dem Liegen, dem Baden, dem Wandern, dem Warten, dem Schweigen. Dazu kann auch gehören, wieder zum eigenen Leib zu finden durch leibliche Übungen, die sich nicht auf sportliche Höchstleistungen richten, sondern ihren Sinn und Ausdruck in sich tragen.

Die Dominanz des Leistungsprinzips in der technischen Zivilisation, die Allgegenwärtigkeit der Medien und des Bildes, die immer mehr auf visuelle und digitale Signale eingeengte Wahrnehmung und nicht zuletzt die fortschreitende Verknappung der Zeit, all das läuft dem Leben als leibliche Existenz entgegen. Das Leibsein bleibt geprägt von Eigenzeiten, von rhythmischen und periodisch wiederkehrenden Prozessen. Das Ein- und Ausatmen hat eine Zeitgestalt. Man kann es nicht ‹optimieren› oder beschleunigen, ohne in Atemnot zu geraten. Wohl aber ist der Atem eine Weise des Leibseins, die sich meditativ so üben lässt, dass man von ihm immer mehr getragen wird. Denn der Leib trägt uns, während der Körper wie ein Götze ständiger Dienste und Opfer bedarf. Freilich gibt es für uns als personale, reflektierende Wesen kein Zurück in die reine Leiblichkeit. Doch der besonnene Mensch vermag es, die Spannung zwischen Körperhaben und Leibsein so zu handhaben, dass er ohne Selbstentfremdung in und mit seiner Leiblichkeit zu leben vermag.


Der Vortrag von Thomas Fuchs ist der erste Teil des Doppelbeitrags ‹Die Entwicklung des Selbstbewusstseins. Lernen im Zusammenklang von Leib und Körper› auf der World Teachers’ Conference 2023. Die pädagogischen Perspektiven wurden von Wilfried Sommer, Professor an der Alanus-Hochschule, im Anschluss erörtert. Alle Redebeiträge können auf goetheanum.tv nachgeschaut werden.

Fotos von Charlotte Fischer

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