Den Drachen menschlich machen

Wie die Taube das Bild des Friedens ist, so gilt der Drache als Geschöpf des Krieges und prangt auf Wappen und Kriegsgerät. Sein Atem schenkt nicht Leben, sondern Verderben. Doch wie wandeln sich die Geschichten über das Kriegstier! Zuerst galt es, vor dem Drachen zu fliehen, wie einst Leto, die, mit Apoll schwanger, vor dem Untier über den Erdkreis flüchtet. Nicht anders ergeht es in der Johannes-Apokalypse der Jungfrau. Auch sie flieht mit ihrem Kind durch alle Welten. Apoll selbst macht es dann anders. Er wird vom Gejagten zum Jäger: Mit Tanz und Verwünschungen lockt er den Pythondrachen aus der Höhle und setzt ihm seine goldenen Pfeile. Das Feuerwesen weicht in die Klüfte und ist gebannt. Der Drache wird verjagt und verdrängt. Dann folgt der Engel. Er stellt sich dem Drachen mit dem Schwert. Aus Fliehen und Jagen wird Kampf und Begegnung. Und wir heute? Wir erkennen, wie im roten Fenster des Goetheanum gezeigt, dass wir selbst es sind, aus denen der Drache wächst. So können wir vor ihm nicht fliehen wie Leto, ihn nicht vertreiben wie Apoll und wir können auch nicht das Schwert führen wie der Engel. Wenn wir selbst das Untier tragen, gilt es, es zu zähmen, zu verwandeln. So wie wir einst den Wolf zu uns holten und aus ihm der Hund wurde, der Räuber zum Gefährten wurde, so ist heute der Drache an der Reihe, menschlich zu werden. Dann ist das Wüten vorbei.


Illustration Fabian Roschka, Ohne Titel, 2023

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