Das goldene Dunkel

Im traumlosen Schlaf geben wir unser Selbstbewusstsein samt Erinnerungsfähigkeit auf. Was wir schlafend vollbringen, ist ein Rätsel und Wunder.


Was Sie taten, bevor Sie diesen Text zu lesen begannen, weiß ich nicht. Doch da Sie diesen Text nun lesen, kann ich gefahrlos annehmen, Sie sind wach. Sie sind vor einer Weile aufgewacht. Doch davor, als Sie schliefen, waren Sie eine Weile nicht. Nicht bewusst. Oder besser: Sie waren eine Lücke in ihrem Bewusstsein.

Das andere Heute

Mit ‹Heute› bezeichne ich die Spanne zwischen Aufwachen und Einschlafen. In einer durchwachten Nacht oder nach einem zu tiefen Nickerchen kommt die Bindung an den Kalendertag leicht ins Schleudern. Das ‹Heute› ist mein ununterbrochenes Wachsein. Und das Wachbleiben ist mein Sieg über den drohenden Schlaf. Der Sieg des Selbstbewusstseins, meiner personalen Freiheit, über die Allmacht Schlaf. So ist das Einschlafen die Niederlage des souveränen Menschen. Einschlafen heißt abgeben, aufgeben, sich den Göttern anvertrauen. Egal ob Eremit oder Soldatin, ob Windelkind oder Präsidentin: Es geht um den Verlust aller äußeren Macht und jener über sich selbst. – Und verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich liebe Schlaf. Diesen unverfügbaren Wohltuer, Heiler, dieses goldene Dunkel!

Verlassen Sie mit mir das ‹Heute›, und schauen wir uns selbst als Schlafende an, hier wissen Sie wahrscheinlich genauso wenig über sich wie ich über Sie. Der Schlafende hat sein Selbst aufgegeben, die Erinnerungsfähigkeit inklusive. Was auch immer in dieser Zeit geschieht, es entzieht sich der wachen Welt – unserem Wissen. Zum Schlafen verschließen wir die Sinne. Den Schlaf fassen wir nicht mit den Sinnen auf. Das Wissen braucht hier eine andere Natur. Vielleicht ein Wissen in unhörbaren Tönen, feineren Bewegungen oder einfach nur reineren Begriffen, die sich an sich selbst wecken, anstatt an Sinneseindrücken?

Es drängt mich zu fragen: Was ist denn dieses ‹andere Heute›? Jene Spanne zwischen Einschlafen und Aufwachen? Wie heißt dieser Ort? Warum haben wir dafür keinen gewöhnlichen Namen, nur ‹Schlaf›? Wer oder was sind wir hier? Ausgelöschtes Bewusstsein? Von den kosmischen Gewalten heruntergedämpfte Bewusstseinsfunken, um nicht zu verglühen im Angesicht der ungeteilten Welt? Oder eher ein Gluttropfen im Urweltfeuer? Ausgedehnt ins Gleichgewicht der Welten, um Schicksal zu bereiten?

Bleiben wir bei dem ‹anderen Heute›. Versuchen wir doch, dieses andere zunächst als Gegenteil zu denken: Eine Spanne zwischen Einschlafen und Aufwachen. Und so wie ‹heute›, die aktuelle Spanne des Bewusstseins, ein ausgedehntes ‹Jetzt› beschreibt, ist der Schlaf dann genau die andere Seite der Zeit, nicht zwischen jetzt und jetzt, sondern drumherum um heute und heute. Weniger eine Gliederung von Zeit, mehr eine Urzeit, eine Ewigkeit, die die Zeit in sich trägt. Ein Ort, an dem die fernsten Zeiten zugleich sind.

Zum Wachen erschöpfen wir unsere Kräfte; wir verbrauchen den Leib. Wäre der Schlaf somit Produzent von Kraft, Hervorbringer des Leibes? Ist das ‹andere Heute› also die Leibbilde-Werkstatt? – Lassen Sie mich eine flinke Betrachtung des menschlichen Skeletts einflechten.

Die zweiseitige Kugel

Wir Menschen sind zweiseitige Bewusstseinswesen. Wir bilden einen Schädel, eine Kugel. Die ist in eine Richtung durchlöchert, wie verwundet, mit Höhlungen und Ausbeulungen – und zur anderen Seite ist sie ganz geschlossen und oft noch überwuchert mit Haar. Mit den oft schönen, offenen Wunden fassen wir wunderliche Vielfalt, Geteiltes, Zerrissenes auf; Sinneseindrücke. Schon Hören und Sehen sind Geschiedenes, sind Verschiedenes. In den Sinnen zerfällt die Welt. Ihre Einheit erfasse ich mit der eingeschlossenen, unverletzten Seite meines Kopfes. Nicht nur die Einheit eines in den Sinnen zerfallenden Wesens, auch die Einheit der Welt. So wie wir Eindrücke von Stimme, Gang und Geruch in einem Menschen vereinen, so auch die unfassbare Vielheit als ‹die eine Welt›.

Doch die Sinne zerteilen und sondern nicht nur die Wesen, allem voran trennen sie uns selbst von der Welt. Ja, es ist das Bewusstsein dieser Kopfgestalt, die ganz in sich sie selbst sein will und nur durch verfeinerten Schmerz die Welt zerteilt, erfährt und im Neu-Zusammenfügen daran erwacht.

Gleiten wir am Hals hinab, zeigt sich eine andere Gestaltung. Im Vergleich zum Schädel ist der Brustkorb in alle Richtungen geschlossen und offen zugleich. Die Vielheit der Rippen macht es möglich. Sie verteidigen das Selbst, das Eingeschlossene, durchlässig zur Welt. Zwischen Angst und Sehnsucht, zwischen Hass und Liebe entfaltet sich hier ein verbindliches Spiel. Weniger als ein Getrenntes oder als ein Beobachtendes, mehr als ein Verbundenes, Betroffenes, Teilnehmendes erfährt sich der Mensch in seiner Mitte, als Fühlender, als Träumender.

Von hier aus in alle Richtungen weiter beschränkt sich das Knochige auf ein Minimum. Wird zur Innenseite, umfasst keine Organe, kein Innen mehr. Selbst das Schalengebilde des Beckens formt keinen geschlossenen Innenraum, mehr eine allseitige, öffnende Geste zur Welt. Und neben der Einheit des Schädelknochens erscheint die Hand mit ihren 27 fast losen Knöchelchen wie ein Bild der völligen Zergliederung, in alle Richtungen zugleich wollend. Vom Menschen ergriffen erscheint die Hand geschlossen, greifend, tragend; formend bildet sie Einheiten wie das Hinterhaupt. In den Gliedmaßen sind wir vollends hingegeben an die Außenwelt. Und wach lässt sich nicht erleben, was hier in Verdauungsprozessen, im Tragen und Lasten, im Formen und Tanzen, im Zeugen und Gebären vor sich geht. Auch hier sprechen wir von Schlaf.

Die Knochen dienen mir zum Bilden folgender Sätze: Der Wachende denkt dank der Trennung von Selbst und Welt. Der Träumende fühlt in der Verbindung von Selbst und Welt. Der Schlafende will, indem er selbst zu Welt wird.

Die kleine Schwester

Es ist seltsam, so in die eigene Festigkeit zu staunen. Oder? Was gewinnen wir für unsere Spekulation? Mehr Fragen: Wenn das Wache aus dem Getrennten wächst, wächst dann der Schlaf aus der Übereinstimmung? Ist dann im Schlaf alles das, was im Wachen von mir getrennt erscheint, in mir enthalten? Alle Menschen ein Teil von mir? Alle Bäche, Flüsse, Meere in mir enthalten? Der Tierkreis in mir? Die Hoheitlichen in mir? Mein Schicksal nur als Teil von allen Schicksalen – als Weltenschicksal in mir? Wie anders mögen hier Urteile fallen? Welcher Art sind die Ideen dieser Anderwelt, dieser Anderzeit?

Im Schlaf schließe ich die Augen. Sie auch? Ich bin nicht länger empfänglich für Geräusch und Geruch. Ich verliere das Interesse an äußerem Genuss und äußerer Tätigkeit. Ich ähnle dem Denkenden, tauche warm unter, in die Welt. – So werde ich im Schlaf zum Weltenschädel oder schöner: Kosmos? Und anstelle meines Sinneslichtes tritt ein Innenlicht, welches nicht die Außenseite erhellt, sondern vielmehr alles von innen leuchten lässt? So wie jeder wohlgefasste Begriff. – Ist Schlafen das große Denken und unser waches Denken die kleine Schwester?

Wir kommen zum Ende. So viel ich den Moment des Einschlafens hinauszögern kann, so wenig kann ich mir den Akt des Erwachens aneignen. Wie geht es Ihnen damit? Ich bin gespannt, wie Sie heute Nacht schlafen!


Bild Ohne Titel, Miriam Wahl, 2020

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