Covid-19 ist keine Lappalie

Zuschrift zu Michael Esfeld: Coronanotstand. Der Missbrauch der Wissenschaft, im ‹Goetheanum› 23/2020.


In mehreren kürzlich im ‹Goetheanum› erschienenen Publikationen wurde das Gefährdungspotenzial der Coronaepidemie angezweifelt. Allerdings wurde dabei viel Fragwürdiges als Faktum vorausgesetzt, beispielsweise im Artikel ‹Missbrauch der Wissenschaft›:

• Die Todeszahlen seien irreführend, weil unklar ist, ob die Betreffenden wegen Covid-19 gestorben sind. – Eine kühne Aussage, denn Diagnosen zu stellen und Todesursachen festzuhalten, gehört zu den Kernkompetenzen der ärztlichen Profession. Hier weitreichende Falschangaben zu unterstellen, würde bedeuten, praktisch alle medizinische Mortalitätsstatistik in Abrede zu stellen.

• Verfügbare Daten würden darauf hinweisen, dass der Anstieg der Infektionen schon im Begriff war, zurückzugehen, als die «Zwangsmaßnahmen» ergriffen wurden. – Jedoch: Laut täglichem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts war bei 70 Prozent der gemeldeten Fälle der Erkrankungsbeginn (Auftreten von Symptomen) bekannt und konnte bei den restlichen 30 Prozent anhand der bekannten Verlaufscharakteristika zurückberechnet werden. Wie man in den veröffentlichten Grafiken sehen kann, stiegen die täglichen Fallzahlen des Erkrankungs- resp. Symptombeginns steil an bis zu einem deutlichen Gipfel am 18. und 19. März 2020, danach kam kontinuierlicher Abfall.(1) Da zwischen Infektion und Erkrankungsbeginn durchschnittlich fünf Tage verstreichen, lässt sich berechnen, dass der Wendepunkt der Infektionszahlen in Deutschland ziemlich genau am 13. bzw. 14. März 2020 lag. Freitag, der 13. März war jener Tag, an dem mittags der Schulbesuch endete. Parallel kamen die anderen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Die Daten zeigen also: Die öffent­lichen Kontakteinschränkungen waren wirksam.

Die verantwortlichen Politiker mussten auf der Basis von zunächst begrenztem Wissen handeln, das sich im Laufe der Wochen erweiterte.

• Es gebe keine stichhaltigen Indizien, dass das jetzige Coronavirus gefährlicher sei als die regelmäßig auftretenden Infektionswellen, beispielsweise eine heftige Grippewelle. – Jedoch ist zum Beispiel die Entwicklung in den usa zu berücksichtigen, wo trotz Bemühungen zur Eindämmung der Epidemie innerhalb von vier Wochen mehr Amerikaner an Covid-19 starben als im gesamten Vietnamkrieg, und nach weiteren vier Wochen ging die Zahl der Covid-19-Toten schon gegen das Doppelte.(2) Bei jedem Einzelnen war sicher, dass er Covid-19 hatte. Anders bei Grippe: Hier hatte man bislang die Mortalitätszahlen einfach ziemlich willkürlich geschätzt, das Verhältnis von tatsächlich getesteten zu geschätzten Grippetoten war über die Jahre im besten Fall 1:15 und im schlechtesten Fall sogar nur 1:1180.(3) Jüngere Vergleiche von tatsächlich gezählten Toten ergaben für entsprechende Jahreszeiträume eine 9 bis 44 Mal so hohe Zahl an Todesfällen unter Covid-19 als unter Grippe.(4)

• Man habe von Anfang an gewusst, dass die Maßnahmen auf eine größere Anzahl von Todesopfern hinauszulaufen drohen, wegen des Mangels an Bewegung, Vernachlässigung anderer Behandlungen usw. – Hat man wirklich «gewusst»? Weder wusste man, wie viele Covid-19-Todesopfer es ohne die Maßnahmen geben würde (und man wird nie wissen, wie viele es gegeben hätte) noch wusste und weiß man, außer in Spekulationen, etwas Genaueres über eventuelle Todesfallzahlen infolge der Einschränkungen. Da generell von einer Übertherapie und insbesondere von vielen überflüssigen operativen Eingriffen ausgegangen wird, könnte eine Rücknahme von Elektiveingriffen auch positive Auswirkungen gehabt haben. Zudem waren Bewegung, Sport, Spazierengehen erlaubt, vieles wurde im häuslichen Umfeld frei angeboten.

Freilich ist es äußerst wichtig, die Freiheit des Individuums sorgsam zu bewahren. Covid-19 aber ist keine Lappalie. Und auch die Freiheit von Menschen, nicht angesteckt zu werden, nicht mit schweren Folgeschäden kämpfen zu müssen, nicht frühzeitig sterben zu müssen, gilt es zu bewahren. Die verantwortlichen Politiker mussten auf der Basis von zunächst begrenztem Wissen handeln, das sich im Laufe der Wochen erweiterte. Wurde von den verantwortlichen Entscheidern die Wissenschaft gravierend missbraucht? Ich kann es nicht sehen.

Dr. med. Helmut Kiene Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie, Freiburg i. Br., An-Institut der Universität Witten/Herdecke.

(1) Robert Koch Institut; Abbildung 7.

(2) WorldOMeters

(3) Robert Koch Institut; Tabelle 3.

(4) Jama Network.


Antwort von Michael Esfeld

Der Leserbief zeigt sehr schön die Kontroverse, in der wir uns befinden. In meiner Antwort möchte ich auch kurz auf die Quellen hinweisen, auf die ich mich stütze:

1 Wenn Personen sterben und positiv auf das Coronavirus getestet werden, folgt daraus nicht, dass sie gestorben sind, weil sie sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Das ist eine erkenntnistheoretische Trivialität.

2 Meine Feststellung, dass der Anstieg der Infektionen im Begriff war zurückzugehen, als die Zwangsmaßnahmen eingesetzt wurden, stützt sich auf die Forschungen von Professor Christof Kuhbandner (Regensburg), der natürlich für Deutschland auch die Daten des Robert-Koch-Instituts analysiert hat.

3 Für die Anzahl der Todesfälle und die darauf basierenden Vergleiche mit anderen Infektionswellen stütze ich mich auf die Studien des Epidemiologen und Datenwissenschaftlers John Ioannidis (Stanford), der ständig alle weltweit verfügbaren Daten heranzieht und dessen Analysen ganz klar zeigen, dass keine allgemeine Gefährdung der Bevölkerung vorliegt (letzte Publikation vom 8. Juni 2020).

Selbstverständlich ist Covid-19 keine Lappalie: Das Virus ist für Personen mit bestimmnten Vorerkrankungen lebensgefährlich. Selbstverständlich muss auch «die Freiheit von Menschen, nicht angesteckt zu werden, nicht mit schweren Folgeschäden kämpfen zu müssen, nicht frühzeitig sterben zu müssen», bewahrt werden – ich habe mich deutlich für einen Schutz der Risikogruppen ausgesprochen. Aber es muss eine Abwägung von Nutzen und gesamtgesellschaftlichen Schäden stattfinden. Vor allem muss man jedem die Freiheit lassen, selbst abzuwägen, welche Risiken sie oder er einzugehen bereit ist für ein Leben, das sie oder er als lebenswert erachtet. Niemand hat das Recht, hier Zwang zu ergreifen, seinen Schutz absolut zu setzen und sich über die Lebensqualität anderer hinwegzusetzen.

Der Missbrauch von Wissenschaft besteht darin, dass von Politikern und in Mediendarstellungen einseitig bestimmte Daten, Bilder und Prognosen herausgestellt werden und diese als wissenschaftliche Erkenntnisse ausgegeben werden, mit denen massive Einschränkungen der Grundrechte gerechtfertigt werden. Das ist ein eklatanter Missbrauch von Wissenschaft in einer Situation, in der es keinerlei stichhaltige Evidenz für eine generelle Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung gab und gibt. So etwas sollte in einem demokratischen Rechtsstaat und einer freien Gesellschaft nicht passieren.


Bild: Illustration zu Missbrauch der Wissenschaft, Adrien Jutard, Klebeband.

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