Aufruf zur kollektiven Heilung

Im Nachfolgenden drucken wir unsere Übersetzung des offenen Briefes von über zehn indigenen Organisationen und Anführerinnen und Anführern. Der Brief ist ein Aufruf an die westliche Welt, in ihren ökologischen Ansätzen nicht deren spirituelle Ursprünge zu übergehen. Anstatt durch einen materialistischen ökologischen Impuls – wie ihn diese Gruppen in vielen regenerativen Ansätzen wahrnehmen – weiter eine Welt der Dominanz und Vorherrschaft zu erschaffen, müsste die spirituelle Weltsicht die Grundlage für eine Welt der Gegenseitigkeit, des Respekts und der Wechselbeziehung mit allen Wesen bilden.


Regenerative Landwirtschaft und Permakultur beanspruchen, die Lösung für unsere ökologische Krise zu sein. Obwohl beide die Praktiken den indigenen Kulturen entlehnen, übernehmen sie dabei nicht unsere Weltsichten und setzen die Auslöschung unserer Geschichten und Kulturen in der modernen Welt fort. Auch wenn die Methoden der ‹nachhaltigen Landwirtschaft› wichtig sind, umfassen sie nicht den tiefen kulturellen und Beziehungswandel, der für unsere kollektive Heilung nötig ist.

Wo ist ‹Natur›?

Regenerative Landwirtschaft und Permakultur sprechen oft darüber, was ‹in der Natur› geschieht: «In der Natur ist der Boden immer bedeckt.» «In der Natur gibt es keine Monokultur.» Natur wird als etwas von uns Getrenntes, Äußeres, Ideales, Perfektes betrachtet. Menschliche Wesen sollten ‹Biomimetik› (engl.: biomimicry) üben, also die Nachahmung des Lebendigen, weil wir alle außerhalb des Lebens der Natur existieren würden. Indigene Völker sprechen über unsere Rolle als Natur. (Viele indigene Sprachen haben sogar kein Wort für Natur, sondern nur für die Erde und unser Universum.) Als Zellen und Organe der Erde streben wir danach, unsere Rolle als Pflegende und Verwaltende zu erfüllen. Wir bezeichnen uns oft als ‹Webende›, die die Verbindungen zwischen allen Wesen stärken.

Foto: Waitaha Executive Grandmothers Council

Tod heißt nicht tot

Regenerative Landwirtschaft und Permakultur behalten häufig die ‹tote› Weltsicht der westlichen Welt und Wissenschaft bei: Felsen, Berge, Boden, Wasser, Wind, Licht seien alle ‹tot›. (Z. B.: «Lasst uns wieder Leben in den Boden bringen!» – voraussetzend, dass Boden, ohne Mikroben, tot sei.) Diese Weltanschauung glaubt, dass Leben sich nur dann ereignet, wenn diese Elemente in einer bestimmten und besonderen Art zusammengeführt werden. Indigene Kulturen betrachten die Erde als Gemeinschaft von Wesen, nicht Objekten: Alle Materie und Energie ist lebendig und bewusst. Berge, Steine, Wasser und Luft sind Verwandte und Vorfahren. Die Erde ist ein lebendiges Wesen, in deren Körper wir alle Teile sind. Leben tritt nicht nur auf, wenn diese Elemente kombiniert werden; Leben ist immer. Kein ‹Ding› ist jemals tot; Leben bildet und verwandelt.

Vom Urteil zur Beziehung

Regenerative Landwirtschaft und Permakultur beinhalten übermäßig vereinfachte Dualismen durch die Scheidung in Gut und Böse. Beackern ist schlecht; nicht beackern ist gut. Mulch ist gut; kein Mulch ist schlecht. Wir sollen nur die ‹guten› Dinge tun, um die idealisierten, zu 99,9 Prozent Natur nachahmenden Gärten und Höfe zu schaffen, auch wenn wir nie so gut oder rein sein werden wie ‹die Natur›, weil wir getrennt von ihr sind. Indigene Kulturen teilen oft die Anschauung, dass es kein Gut, Böse oder Ideal gibt – es ist nicht unsere Aufgabe, zu beurteilen. Unsere Rolle ist, zu pflegen, zu sorgen und Beziehungen des Gleichgewichts zu weben. Wir geben uns unserem Land: Unser Atem und unsere Hände heben ihre Gärten und binden unsere Lebenskräfte zusammen. Niemand wird durch unsere Berührung verdorben; wir haben die gleiche Fähigkeit zur Heilung wie jede andere Lebensform.

Unsere Worte formen uns

Regenerative Landwirtschaft und Permakultur nutzen Englisch als ihre bevorzugte Sprache, ohne die Geografie oder Geschichte zu beachten: Man muss erst Englisch von den Paten dieser Bewegung lernen. Die englische Sprache urteilt und objektifiziert; sie enthält Wörter, die die meisten indigenen Sprachen nicht haben: ‹natürlich, kriminell, Abfall, tot, wild, rein …›. Das Englische spricht auch von ‹Dingen› und ‹es›, wenn es sich auf ‹nicht lebende, untermenschliche Einheiten› bezieht. Unter indigenen Kulturen entsteht jede Sprache aus ihrem Ort und ist darum an ihn komplex gebunden. Inuit kennen Dutzende Wörter für Schnee und seine Bewegungen. Polynesische Sprachen haben Dutzende Wörter für die Wasserwellen. Um einen Ort zu kennen, muss man seine Sprache sprechen. Es gibt keine Einheitsgrößen und keine Worte für nicht lebendige oder untermenschliche Wesen, weil alles Leben denselben Wert hat.

Menschen sind Land. Ganzheitlichkeit beinhaltet Geschichte.

Regenerative Landwirtschaft und Permakultur beanspruchen, ganzheitlich anzusetzen. Wenn eine Landschaft regeneriert wird, wird ‹alles› beachtet: Bodengesundheit, Wasserkreisläufe, die örtliche Tierwelt, Einkommen und Profit. ‹Alles› tendiert jedoch dazu, Geschichte auszuklammern: Warum war es möglich, indigene Heimatländer zu stehlen und unsere Völker und Länder zu vergewaltigen? Warum wurden unsere Kulturen ausgelöscht? Warum muss unser Wissen durch ‹Wissenschaft› überprüft werden? Warum werden wir immer noch ausgeschlossen von eurer ‹Heilung› unseres Landes? Unter indigenen Kulturen gehören Völker eher zum Land, als dass das Land den Völkern gehört. Die Heilung eines Landes muss die Heilung eines Volkes beinhalten und umgekehrt. Die seelischen Traumata, die als Nachkommen beleidigter, versklavter und vertriebener Menschen in unseren Körpern festgehalten sind, anzuerkennen und zu verarbeiten, ist notwendig, um das Land zu heilen. Uns die Rechte zurückzugeben, das Land, das uns geboren hat, zu pflegen, von ihm zu ernten und uns darauf zu beziehen, ist Teil dieser Anerkennung.

Kompostieren

Regenerative Landwirtschaft und Permakultur verbreiten oft die umweltschützende Botschaft, dass die Welt stirbt und wir sie ‹retten› müssten. Menschen seien giftig, aber wenn wir uns anstrengen würden, könnten wir eine ‹neue Natur› der Harmonie erschaffen, wenn auch nicht so harmonisch wie die ‹alte Natur›, die vor den Menschen existierte. Für dieses Ziel müssten wir die Natur an erste Stelle setzen und uns selbst für ‹die Sache› opfern. Indigene Kulturen sehen häufig, dass die Erde verschiedene Zyklen des fortwährenden Übergangs durchschreitet. Zurzeit befinden wir uns in einer Phase der großen Kompostierung. Wie in jedem Kompostierungsprozess gibt es ein Unbehagen und ein Wissen, dass der Tod immer zur Wiedergeburt führt. In diesem großen Kreislauf müssen wir alle eine Rolle spielen. Die Anerkennung und Heilung all unserer eigenen Traumata bedeutet, die Traumata der Erde zu heilen, weil wir eins sind.

Wohin geht es nun?

Nur 6,2 Prozent unserer Weltbevölkerung sind indigene Völker, doch sie verwalten 80 Prozent der Biodiversität auf der Erde und über 25 Prozent des Landes. Indigene Weltanschauungen sind die Grundfesten, aus denen unsere landwirtschaftlichen Praxen und Lebensarten hervorgehen. Wir laden euch ein, eure tägliche Arbeit in diesen überlieferten Wegen zu verwurzeln, während wir gemeinsam auf kollektive Heilung hinarbeiten.


Unterzeichnet von

Galina Angarova, Cultural survival
Tanya Ruka, Waitaha executive grandmothers council, Region net positive
Seno Tsuhah, North east network
Simon Mitambo, Society for Alternative Learning & Transformation, African Biodiversity Network
Reginaldo Haslett-Marroquin, RegenAgAlliance
Linda Black Elk, Tatanka Wakpala (Facebook)
Greenstone Farm and Sanctuary, Healing gardens
Melissa K. Nelson PhD, Nativeland
@NatKelley, @GatherFilm, @AGrowingCulture
Terralingua.Langscape, Terralingua
@FarmerRishi, @KameaChayne


Lernt, auf wessen Land ihr lebt, über die Geschichte dieser Menschen und wie ihr sie unterstützen könnt: Native-Land
Schaut Gather Film und Aluna

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Folgt, unterstützt, spendet und lernt von den Unterzeichnenden dieses Briefes.
Verbreitet diesen offenen Brief weiter: Indigenous world views

Originaltitel des Aufrufes ‹Whitewashed Hope›

Foto Waitaha executive grandmothers council

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