Anerkennen, einfühlen, verändern

Im Oktober 2023 hatte Australien über ein Referendum abzustimmen, das der indigenen Bevölkerung eine Stimme im Parlament geben wollte. Tanya Coburn beschreibt den langsamen und schwierigen politischen Prozess, der für eine Transformation nötig ist.


Als ich nach der World Conference 2023 am Goetheanum nach Australien zurückkehrte, fühlte ich mich inspiriert von der Frische des anthroposophischen Zeitgeistes, der sich auf einer tieferen Ebene mit dem beschäftigt, was zu dauerhafter Veränderung führen kann. Auch in meinem eigenen Leben begann ich unausgeglichene Gewohnheiten zu überprüfen, über persönliche Verwandlungen nachzudenken und neue Vorstellungen zu ergreifen. Und selbst als Nation hatten wir Australier und Australierinnen die Gelegenheit, tiefgreifende Veränderungen zu erkunden. Am 14. Oktober 2023 stimmten wir in einem Referendum darüber ab, dass eine indigene Stimme im Parlament vertreten sein sollte.

Ich habe selbst erlebt, wie die Anerkennung der indigenen Geschichte und Völker über knappe Absätze in meinem australischen Highschool-Geschichtsunterricht hinauszuwachsen begann. In seiner ‹Redfern-Ansprache› 1992 forderte der damalige Premierminister Paul Keating, dass die australische Mehrheit als Nachkommen von Siedlern und Generationen von Einwanderern anerkennen sollte, dass wir den Indigenen Enteignung, Mord und Krankheit zugefügt sowie Diskriminierung und Vorurteile entgegengebracht haben. Er beschrieb «unser Versagen, uns vorzustellen, wie es wäre, wenn uns so etwas angetan würde».1 2008 entschuldigte sich Premierminister Kevin Rudd bei den ‹Gestohlenen Generationen› – denjenigen, die Opfer der jahrzehntelangen gewaltsamen Wegnahme indigener Kinder, oft gemischter Abstammung, von ihren Familien, Verwandten und ihrem Land (Ahnenland) geworden waren.2 Viele Angehörige der ‹Gestohlenen Generationen›, die ins Parlament eingeladen worden waren, waren zu Tränen gerührt. Neuere Forschungen haben auch die ganze Tragik der Siedlerkriege ans Licht gebracht, die von 1788 bis in die frühen 1900er-Jahre in ganz Australien mörderisch gegen die einheimische Bevölkerung geführt wurden.3

Luftaufnahme des Lake Eyre, Südaustralien. Foto: Brian McMahon.

Wir sind heute in der Lage, den Ursprung von Problemen zu verstehen, die lange Zeit ignoriert wurden. Gleichzeitig haben wir indigene Kulturen, Sprachen, Errungenschaften und Personen zunehmend anerkannt und gefeiert. Dennoch sind die Regierungsinitiativen zur Bewältigung der anhaltenden Traumata seit Jahrzehnten erfolglos geblieben. Probleme, von denen indigene Völker unverhältnismäßig stark betroffen sind, wie schlechte Gesundheit, Inhaftierung, Armut und Sucht, bestehen fort. Im Jahr 2015 wurde von der Koalitionsregierung aus Liberaler und Nationaler Partei ein langer Konsultationsprozess mit den indigenen Völkern Australiens eingeleitet. Er führte zur Uluru-Erklärung des Herzens4, die der Regierung 2017 vorgelegt wurde. In dieser Erklärung wurde unter anderem eine Verfassungsänderung gefordert, um eine indigene ‹Stimme› im australischen Parlament zu verankern. Die Albanese-Labor-Regierung versprach, bei ihrer Wahl im Mai 2022, ein ‹Stimme›-Referendum durchzuführen.

Transformation alter Gewohnheiten beginnt damit, dass man anerkennt, dass sie vorhanden sind. In der heutigen Zeit, in der wir uns der negativen Auswirkungen unserer Entscheidungen und Handlungen in einer Weise bewusst sein können, die früheren Generationen verwehrt war, sind die Probleme der australischen Indigenen erschütternd. Wie in der Uluru-Erklärung des Herzens selbst festgestellt wird: «Wir sind verhältnismäßig das am meisten inhaftierte Volk der Welt. […] Unsere Kinder werden in einem beispiellosen Ausmaß von ihren Familien entfremdet. […] Und unsere Jugendlichen schmachten in obszöner Zahl in Gefängnissen. Sie sollten unsere Hoffnung für die Zukunft sein.»5

Mount Stromlo Observatorium, Weston Creek, Australien. Foto: Brian McMahon

Eine tonlose Stimme

Die ‹Stimme› würde aus einer Gruppe indigener Menschen bestehen, die die Aufgabe hätten, sich zu Gesetzen zu äußern, die ihr Volk betreffen. Mit der Präsenz einer solchen Stimme im Parlament würden Entscheidungen nicht mehr «über uns, aber ohne uns» getroffen, drückten es indigene Menschen aus. Die ‹Stimme› würde auch eine ‹Makarrata›-Kommission umfassen, die das Zustandekommen von Vereinbarungen zwischen Regierungen und indigenen Völkern und die Wahrheitsfindung ermöglichen soll. Das Referendum fragte: «Ein Gesetzesentwurf: die Verfassung zu ändern, um die Erstbewohner Australiens anzuerkennen, indem eine Stimme der Aborigines und Torres-Strait-Insulaner etabliert wird. Stimmen Sie dieser Änderung zu?» Am Tag des Referendums wurde diese Verfassungsänderung von knapp über 60 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung abgelehnt. Abgelehnt!

In der Vergangenheit wurden Verfassungsänderungen in 44 Versuchen nur acht Mal zugestimmt, und nie ohne parteiübergreifende politische Unterstützung. Obwohl Umfragen im August 2022 darauf hindeuteten, dass bis zu 65 Prozent von uns das Referendum befürworteten,6 bröckelte die Unterstützung, sobald die parteiische Wahlkampagne begann.

Der ‹Nein›-Wahlkampagne gehörten prominente indigene Führer an, die eine Minderheit ihres eigenen Volkes vertraten, den Vorschlag jedoch als spaltend oder unnötig bezeichneten. Die Befürwortenden der Ja-Wahlkampagne schienen nicht gewillt zu sein, Details in einem Verfahren, das vom Parlament noch verfeinert werden sollte, zu präzisieren. Eine weit verbreitete Unkenntnis über unsere Verfassung trug mit dazu bei. Lügen sind im australischen Wahlkampf nicht verboten, und Fehlinformationen, Desinformationen und Verschwörungstheorien, die von den Fluten der sozialen Medien getragen wurden, überschwemmten das Land. Als meine Eltern in der Schlange standen, um zu wählen, rief ein Wahlhelfer: «Stimmt mit Nein, sonst nehmen sie euch euer Land weg!»

Camel Soak in Perenjori Wa, Australien. Foto: Brian McMahon

Veränderung braucht Kreativität

Es war ein Versagen der Einbildungskraft, ein Versagen, sich in die Herzen und Köpfe der anderen hineinzuversetzen. Nach der Ablehnung des Referendums schwiegen die meisten indigenen Mitglieder der Ja-Kampagne eine Woche lang, bevor sie mit einem offenen Brief reagierten.7 In ihrer Reaktion spiegelten sich Trauer, Frustration, Enttäuschung und Verwirrung wider. Die erfahrene indigene Aktivistin Marcia Langton erklärte: «Die Versöhnung ist tot», während die Ministerin für indigene Angelegenheiten, Linda Burney, andeutete, dass dies nicht das Ende des Prozesses sei.8 Eine junge indigene Aktivistin, Teela Reid, würdigte die 5,5 Millionen nicht-indigenen Australier, die auf ihren Wahlzetteln Ja angekreuzt hatten, als potenzielle zukünftige Mitstreitende.9

Den Weg der Umwandlung zu gehen ist herausfordernd, sei es für den Einzelnen, für weltweite Bewegungen oder für Nationen. In diesem Beispiel braucht es nicht nur Beharrlichkeit, sondern auch Einbildungskraft, Verletzlichkeit und Mut von Australierinnen und Australiern jeder politischen Überzeugung und jedes kulturellen Hintergrunds, um einen neuen und bisher unbekannten Weg zu gehen. Trotz seiner Ablehnung hat das Referendum die große Gruppe engagierter Menschen sichtbar werden lassen. Wir müssen auch einsehen, dass neue Ideen und Handlungen, selbst politische Referenden, oft nicht ausreichen. In diesem Zeitalter des erwachenden Bewusstseins helfen uns Einfühlungsvermögen und Kreativität dabei, durch den Schmerz der Erkenntnis dessen, was nicht funktioniert, das zu suchen und zu verwirklichen, was uns in einer transformativen Zukunft dienen wird.


Übersetzung Aus dem Englischen von Christian von Arnim

Titelbild Versammlung der Bevölkerung von Brisbane zur Unterstützung des Referendums in Australien, September 2023. Fotoquelle: Wikimedia Commons.

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Footnotes

  1. Keating Speech: The Redfern Address. Australian Screen, eine NFSA-Website.
  2. National Apology. National Museum of Australia.
  3. The Killing Times. The Guardian, Ausgabe Australien.
  4. The Statement. Die Uluru-Erklärung.
  5. Ebd.
  6. Opinion Polling for the 2023 Australian Indigenous Voice referendum. Wikipedia.
  7. Statement for Our People and Country. Die Uluru-Erklärung, 24. Oktober 2023.
  8. Voice to Parliament Advocate Thomas Mayo calls out «disgusting» No Campaign as Linda Burney «Promises it is not the end of reconciliation». Australian Broadcasting Commission, ABC News, 14. Oktober 2023.
  9. Do we know what the result of the Voice referendum means? Australian Broadcasting Commission. The Minefield, 2. November 2023.

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