Vom Lesen zur Liebe

Ich erinnere mich gut an die erste Seite des ersten Vortragszyklus von Rudolf Steiner, den ich gelesen habe. Ich war erstaunt. Steiner lässt einen imaginären altorientalischen Weisen sprechen, der die westliche Zivilisation betrachtet: «Eure ganze Seelenverfassung ist von der Furcht beherrscht. Alles, was ihr tut, aber auch alles, was ihr empfindet, ist durchtränkt in den wichtigsten Augenblicken des Lebens und in seinen Auswirkungen durch die Furcht, und da die Furcht außerordentlich verwandt ist mit dem Hass, so spielt der Hass eine große Rolle in eurer ganzen Zivilisation.» (GA 207) Steiner formulierte genau das, was ich selbst über diese Zivilisation festgestellt hatte. Ich war etwa 20 Jahre alt und die Lektüre Steiners wurde dann für einige Jahre zu meiner Hauptbeschäftigung.

Wie überwindet man Angst und Hass? Ein Satz, mitten in einem der größten Bücher Steiners, der ‹Geheimwissenschaft›, kann als Zusammenfassung seines gesamten Werkes klingen: «Liebe ist das Ergebnis der im ‹Ich› wiedergeborenen Weisheit.» (GA 13) Weisheit muss im ‹Ich› verschwinden, um in einer neuen Form wiedergeboren zu werden: der Liebe. – Ich kann mich voller Weisheit und moralischer Tugend fühlen und doch in Angst und Hass leben. Ist das nicht genau das Gespenst, das Europa heute heimsucht: Angst und Hass, die sich mit äußeren moralischen Werten verkleiden? Egal, um welche Partei oder Position es sich handelt. Ist das nicht auch die Gefahr, in der sich die Leserinnen und Leser von Rudolf Steiner befinden, wenn sie nicht alles, was sie lesen, aus ihrem eigenen Ich heraus neu erschaffen?

Wenn sie nicht in meinem Ich vernichtet und wiedergeboren wird, bleibt die höchste Weisheit machtlos, um Angst und Hass zu überwinden. Deshalb reichen weder moralische Werte noch gar weisheitsvolle Lektüre aus: Anthroposophie will Liebe werden.

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