Das Wort baut

Nach der prachtvollen Ausgabe zu den Goetheanumbauten1 in der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe erschien nun ein kleines kostbares Büchlein. Unter dem Titel seiner Erstausgabe von 1988 ist etwas ganz Neues entstanden, in zwölf Kapiteln – bescheiden Essays genannt. Einige wurden für diesen Band geschrieben, andere sind Überarbeitungen früherer Veröffentlichungen.


Armin Husemann führt das Anliegen Rudolf Steiners aus, dass die Formen des Ersten Goetheanum, des Hauses des Wortes, die gesamte Anthroposophie enthalten hatten. Dazu präsentiert er eine Fülle an Material, auch Ausführungen Steiners, die nicht jedem geläufig sind, wie die Spaltung der Angeloi als Ursache des «Chaotische[n] der neueren Geschichte». Ein anderes Beispiel sind die Gemeinsamkeiten des Ersten und des Zweiten Goetheanum und ihrer Baumotive, trotz Verschiedenheit im Detail. Husemann fasst das zusammen: das Haus des Wortes von innen nach außen als Kulturauftrag zusammen mit Marie Steiner und das Zweite Goetheanum als Haus der Wissenschaft von außen nach innen aus Beton gestaltet, als Kulturauftrag zusammen mit Ita Wegman. Das berührt auch die Fragen, die 1998 beim Ausbau des Großen Saals auftraten.

Eine weitgehend unbekannte Tatsache ist der unübliche Weg Rudolf Steiners als Künstler. Bei ihm geschah das durch Einweihung und nicht durch die Produktivität seines Ätherleibes. Richard Specht, der Steiner fünf Jahre lang erlebt hatte, bezeichnete ihn als «total unmusikalisch» und «zeichnerisch unbegabt». Husemann stellt einen engen Bezug zu Goethes Werk als künstlerischem Naturwissenschaftler her, konkret auch zu Goethes Ahnungen, dass ein Innenraum den Tod überwinden kann. Eines der zwölf Kapitel ist der Verwandlung Luzifers in der Kunst Goethes und Rudolf Steiners gewidmet. Es kulminiert in der Schilderung der schwarzen und der weißen Schlange im Motiv des Kapitells der Merkursäule im Zusammenhang mit Rudolf Steiners ‹Philosophie der Freiheit›. Dabei wird Luzifer zum Bruder von Christus als einem kosmischen Wesen. Vielfach geht Husemann auf die Bedeutung von Marie Steiner und Ita Wegman ein. Marie Steiners Mission war es, für die Mysterien auf dem Gebiet der Kunst am Ersten Goetheanum zur Seite zu stehen, bei Ita Wegman und dem Zweiten Goetheanum ging es um die Mysterien in der Wissenschaft. Hier hätte man vielleicht auch auf den «gleichgearteten künstlerischen Impuls»2 der Bauformen des Ersten Goetheanum und der Eurythmie eingehen können. Interessant ist die Gegenüberstellung der beiden rosa Fenster im Ersten Goetheanum: Im nördlichen Fenster werden das nicht vollendete fünfte Mysteriendrama Rudolf Steiners und die Osterimagination vom 7.10.1923 vorweggenommen. Es zeigt Raphael mit dem heilenden Menschen vor der Natur, aus der das Christusantlitz erscheint (so Husemanns Deutung). Man könnte das Fenster Ita Wegman zuordnen.

Das gegenüberstehende südliche rosa Fenster ‹Und der Bau wird Mensch› zeigt den Bauimpuls des Ersten Goetheanum als Kulturauftrag einer neuen Kunst. Im Fenster erscheinen der Sänger mit der Leier und der Neuanfang aus dem Tode wie in der ersten Spruchdichtung für Marie Steiner: «Die Sonne schaue um mitternächtige Stunde» in der Baukunst, so deutete Husemann den Zusammenhang. Zentral war Steiner die «Erziehung zum karmischen Schauen» durch das Erleben des Baus, wie er 1924 in der Reihe der Karmavorträge betonte.3

Husemann setzt sich mit dem Begriff des Tempels auseinander, der in Steiners letzten Lebensjahren zu einem Schimpfwort für das Goetheanum geworden war. Das Erste wie auch das Zweite Goetheanum fasste Steiner als moderne Mysterientempel auf. Beide Bauwerke sollten maßgeblich den Mysteriendramen, dem ‹Faust› und der Eurythmie dienen. Immer wieder zieht Husemann Verbindungslinien zum Christuswesen. Auch darin folgt er Steiner: Dieser arbeitete gleichzeitig am Innersten des Goetheanum, der plastischen Gruppe mit dem Menschheitsrepräsentanten, und an der Entwicklung der Außenformen für das Zweite Goetheanum. Er verstand das Zweite Goetheanum als Kulturauftrag einer zum Menschen führenden Wissenschaft. Noch in seiner letzten Lebenswoche war Steiner von seinem Krankenlager aufgestanden, um an der Gruppe zu schnitzen!

Am Schluss des Bandes steht ein Artikel Husemanns zur Verantwortung des Menschen für die Erde, damals unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima geschrieben: Die große Kuppel des Ersten Goetheanum stand als Imagination der seitdem noch mehr verletzten Ätherhülle der Erde, in der kleinen Kuppel stand die Christus-Wesenheit, die die Erde belebt. Diese Verantwortung erinnert an die Bedeutung des Menschen als eigentliche vierte Hierarchie, eine Aufgabe, der er nicht gerecht wird.

Die Fülle des Materials in diesem kleinen Bändchen untermauert Husemanns Anliegen, wesentliche Zusammenhänge der beiden Goetheanumbauten und der Anthroposophie darzustellen. Das ist in diesem flüssig und verständlich geschriebenen Buch vollauf gelungen.


Buch Armin J. Husemann, Das Wort baut – Die Goetheanumformen als sichtbare Sprache. Zwölf Essays. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2022.

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Das Architektonische Werk. Band I: Die Goetheanumbauten und ihre Vorläufer. 1. Aufl. Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2022.
  2. Rudolf Steiner, Der Goetheanum-Gedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. GA 36, 2. Aufl. Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2014, S. 321.
  3. Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge. Zweiter Band. GA 236, 6. Aufl. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1988, S. 96.

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