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400 Jahre Harmonices Mundi

1619 veröffentlichte Johannes Kepler sein Hauptwerk über den Gang der Gestirne. Darin verwirklicht er seinen Jugendtraum, eine Gesetzmäßigkeit der planetarischen Bewegung zu beschreiben. Die Entdeckung schlägt die Brücke von der antiken Sternenweisheit zur modernen Himmelsmechanik.


Aus naturwissenschaftlicher Sicht wird man wohl in Keplers Buch ‹Neue Astronomie› sein wichtigstes Werk sehen, im praktisch-astronomischen Sinne mögen es die ‹Rudolfinischen Tafeln› sein, die zur Planetenberechnung dienten. Für das praktische Leben mag es etwas ganz anderes sein: Wenn vor Keplers Haus ein Weinhändler vorfuhr, ließ man sich mit eigenen Flaschen und Schläuchen vom großen Weinfass etwas abfüllen. Doch was den Astronomen störte, war die Art der Messung: Vor und nach dem Abzapfen wurde eine Stange mit gleichmäßigen Markierungen in das große, bauchige Fass getaucht, und die abgezapfte Weinmenge wurde mithilfe dieser Markierungen berechnet. Das hieß aber: Wer bei halbvollem Weinstand bedient wird, hat Glück und erwischt den Bauch des Fasses und zahlt daher weniger. Wie also, so beginnt Kepler zu rechnen, muss die Skala beschaffen sein, um die bauchige Form des Fasses abzubilden? Kepler entwickelt so, beinahe nebenbei, als Erster die Integralrechnung. Doch am wichtigsten für Johannes Kepler selbst und für die spirituelle Kosmologie ist sicher sein Buch mit dem vollständigen Titel ‹Joannis Kepleri Harmonices Mundi Liberi Quinque› (Johannes Keplers Weltharmonik in fünf Büchern). Im Sommer 1619, vor 400 Jahren, veröffentlicht er das umfangreiche Werk. Dessen Wurzeln liegen 30 Jahre zurück, als er schon in seinem Erstlingswerk ‹Neue Astronomie› die platonischen Körper als Ordnungskraft der Planetenabstände vermutet. Die göttliche Spur der Schöpfung finden wir, indem wir harmonische Verhältnisse beobachten und erkennen – das ist Keplers Credo, das nun mit ‹Harmonices Mundi› seinen Gipfel erfährt. So schreibt er die viel zitierten Zeilen in seiner Vorrede zu ‹Harmonices Mundi›: «Die Natur wollte sich dem Menschen offenbaren durch den Mund von Männern, die sich zu ganz verschiedenen Jahrhunderten an ihre Deutung machten. Es liegt ein Fingerzeig Gottes darin […], dass im Geiste von zwei Männern [hier meint er Ptolemäus und sich selbst] […] der gleiche Gedanke an die harmonische Gestaltung der Welt auftauchte […]. Jetzt, nachdem vor 18 Monaten das erste Morgenlicht, vor drei Monaten der helle Tag (Ahnung des dritten Kepler’schen Gesetzes), vor ganz wenigen Tagen [15. Mai 1618] aber die volle Sonne einer höchst wunderbaren Schau [eigentliche Entdeckung] aufgegangen ist, hält mich nichts zurück. Jawohl, ich überlasse mich heiliger Raserei! […] Ich habe die goldenen Gefäße der Ägypter geraubt, um meinem Gott daraus eine heilige Hütte einzurichten […]. Wohlan, ich werfe den Würfel und schreibe ein Buch für die […] Nachwelt. Mir ist es gleich. Es mag hundert Jahre seines Lesers harren […].»

Alles Erkennen ist Gottesdienst

An dieser Rede erkennt man, aus welch mythischer Tiefe und Tradition Johannes Kepler seine Suche schöpft. Alles Erkennen ist nach Kepler ein Gottesdienst, weil man im Erkennen der Harmonie und Gesetze die Handschrift Gottes sichtbar mache. Dabei erkenne man, von der sinnlichen Erfahrung angeregt, im eigenen Geist. «Gott wollte sie uns erkennen lassen, als er uns nach seinem Ebenbild erschuf, damit wir Anteil bekämen an seinen eigenen Gedanken», so schreibt Kepler in einem Brief an Herwald von Hohenburg. Und viele Jahre später im ‹Sternenboten› noch einfacher: «Die Geometrie ist einzig und ewig, ein Widerschein aus dem Geiste Gottes. Dass die Menschen an ihr teilhaben, ist mit eine Ursache dafür, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist.»

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Gott wollte sie uns erkennen lassen, als er uns nach seinem Ebenbild erschuf, damit wir Anteil bekämen an seinen eigenen Gedanken.
— Johannes Kepler

Für diese Teilhabe sucht Kepler zu verstehen, warum die Saiten eines Instrumentes wohlklingen, wenn ihr Längenverhältnis 2 : 3 oder 1 : 4 ist, aber nicht, wenn ihr Verhältnis 2 : 7 entspricht. In seiner Weltharmonik schlägt er nun die Brücke von der Geometrie zur Musik. Im Kreis lässt sich ein Fünfeck konstruieren, es ist, wie Kepler es nennt, ‹wissbar›. Nun lassen sich zwei Ecken so miteinander verbinden, dass auf der einen Seite drei und auf der anderen zwei liegen. Beide, die Drittelung und die Halbierung, lassen sich nun selbst wieder konstruieren, das gibt dem Fünfeck einen hohen, einen harmonischen Rang. Anders ist es zum Beispiel mit dem Achteck. Es lässt sich zwar konstruieren, aber in ihm gibt es die Teilung ein und sieben, die nun wieder nicht konstruierbar ist. Es zählt also nicht nur die Figur, sondern es zählen auch deren Teilfiguren. «Ich will nichts aus der Mystik der Zahlen beweisen und halte dies auch nicht für möglich», grenzt er sich in einem weiteren Brief an Hohenburg von den vielen Zahlenspekulationen ab und zeigt neben seiner Verwurzelung in den antiken Vorstellungen einer von Harmonien gegründeten Schöpfung zugleich seinen modernen wissenschaftlichen Geist.

Es ist nicht nur die Spanne von altem spirituellem Wissen und moderner, auf Beweis und Rechnung fußender Wissenschaft, in der Kepler steht. Gleiches gilt auch pesönlich. Gerade in den Jahren der Veröffentlichung von ‹Harmonices Mundi› ist Kepler in eine Fülle schwerer Probleme, Tragödien und Herausforderungen verstrickt. In der großen Welt bahnt sich der Dreißigjährige Krieg an und Kepler mahnt in seinen Kalendern, die damals immer auch einen astrologisch-prophetischen Teil hatten, vor der religiösen Rechthaberei und dem Abgrund, der sich damit öffnet. Er selbst verliert deshalb auch zu seinem großen Schmerz die Erlaubnis, am Abendmahl teilzunehmen. Sein Lebensort ist 1618 Linz und dort ereilt ihn die Nachricht, dass seine Mutter durch vielfältigen Rufmord angeklagt werde, eine Hexe zu sein. So muss Kepler immer wieder nach Württemberg eilen, um sie Kraft seiner Autorität vor Gericht zu verteidigen. Außerdem verliert er in diesen Jahren mit seiner zweiten Frau zwei Kinder in frühstem Alter.

 


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Das Quadrat der Zeit

Doch all diese düsteren Wolken halten ihn nicht davon ab, an einem der tiefen Geheimnisse des Kosmos zu rütteln, warum die Planeten so und gerade so um die Sonne laufen. Beinahe verborgen in all den harmonischen und geometrischen Überlegungen findet sich in dem Werk ‹Harmonices Mundi› Keplers neues sogenanntes 3. Gesetz. Wieder steigt er zur Erklärung der Phänomene in eine höhere Perspektive, wie auch schon bei seinem 2. Gesetz. Damals entdeckte er mithilfe der Marsdaten von Tycho Brahe, dass die unterschiedliche Geschwindigkeit der Planeten in Sonnennähe und -ferne einem Gesetz der Fläche folgt: Der Fahrstrahl eines Planeten überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Fläche! Um die Bahngeschwindigkeit eines Planeten zu erklären, steigt Kepler auf zur Fläche – welch ein Einfall. Er steigert die Dimension und kann so die Bewegung der Planeten einordnen. Jetzt, in ‹Harmonices Mundi›, will er seiner Jugendidee der Beziehung der einzelnen Planetenbahnen seine Treue halten und sie miteinander vergleichen. Dabei entdeckt er, dass die Quadrate der Umflaufzeiten der Planeten den Kuben der mittleren Abstände zur Sonne entsprechen. Die Zeit macht er zur Fläche und die Abstände zum Raum. Im doppelten Sinne nimmt er eine höhere Perspektive ein und findet so den geheimnisvollen Zusammenhang von Sonnenabstand und Umlaufgeschwindigkeit der Planeten.

Keplers 3. Gesetz am Beispiel von Erde und Saturn: Saturn benötigt 29,46 Jahre für einen Umlauf um die Sonne, die Erde benötigt ein Jahr. Die dritte Wurzel des Quadrats des Saturnumlaufs müsste somit Saturns Distanz zur Sonne ergeben. Die Rechnung bestätigt es:

29,462 = 867,8916

3√ 867,8916 = 9,54

Saturn ist somit 9,54-mal so weit von der Sonne entfernt wie die Erde. Ohne Messung, allein aus dem Gesetz, dem geistig erkannten Zusammenhang, lässt es sich ermitteln. Oder für Jupiter:

11,862 = 140,6596

3√ 140,6596 = 5,20

Auch hier stimmt das Ergebnis. Johannes Kepler, der an der Schwelle zur Neuzeit steht und damit zu den Begründern der modernen Wissenschaft gehört, repräsentiert die Verbindung von Ideenkraft und mathematischer Präzision. Dass Kepler dann bei seinen vielen Überlegungen zur Harmonie im Planetensystem Ungenauigkeiten zwischen den musikalischen und den astronomischen Proportionen zuließ, zeigt seine Sehnsucht, in der Folge von Pythagoras, Proklos und Ptolemäus, wie er sagte, den Hymnus auf eine harmonisch aufgebaute Schöpfung in einer rationalen Wissenschaftswelt nicht verklingen zu lassen.


Der Artikel ist entnommen: Sternkalender 2019/2020, Verlag am Goetheanum. Zeichnungen von W. Held.

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