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200 Jahre Marx: Anlass für eine neue Debatte

Karl Marx ist der schärfste und historisch folgenreichste Kritiker des Kapitalismus. Seine Ideen, seine Empörung und seine Willenskraft haben das 20. Jahrhundert geprägt wie vielleicht sonst nur Charles Darwin und vermutlich wurde er ähnlich umfassend missverstanden. Im Mai jährt sich zum 200. Mal sein Geburtstag. Am Fuß einer digitalen Revolution und angesichts einer obszönen Ungerechtigkeit der Güter lohnt es sich, die Ideen des großen Arbeiter-Denkers neu ins Gespräch zu bringen.


Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx in Trier geboren. Dieser Geburtstag jährt sich zum 200. Mal und gibt Anlass, danach zu fragen, was von den Marx’schen Ideen, die eine so bedeutende weltgeschichtliche Wirkung zeigten, heute noch bleibt. 1867 erschien der Erste Band von Marx’ Hauptwerk ‹Das Kapital›. Die darin ausformulierten Ideen fielen in der Arbeiterschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf fruchtbaren Boden und riefen die Hoffnung auf eine Welt ohne Ausbeutung der Arbeitskraft, ohne Unterdrückung und Krieg hervor.

Rudolf Steiner sagte im März 1919 in einem Vortrag in Bern: «Was Karl Marx in seiner Theorie von dem Mehrwert gesagt hat, es schlug zündend ein in die Proletarierseelen! Warum? Weil Empfindungen in ihnen waren, die diese Frage nach der menschlichen Arbeitskraft zusammenbrachten mit den tiefsten Fragen nach der Menschenwürde und einem menschenwürdigen Dasein überhaupt.» (1)Menschenunwürdig sei es, dass in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Arbeitskraft als eine Ware behandelt werde. «Der Proletarier weiß heute, weil er klassenbewusst geworden ist, was er zu fordern hat», so wenig später am 23. April 1919 in einer Rede vor den Arbeitern der Waldorf-Astoria-Fabrik.(2)


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Früh schon begannen innerhalb der Arbeiterbewegung Auseinandersetzungen um die rechte Interpretation des ‹Marxismus›, bald kam es auch zu Versuchen einer Revision der Marx’schen Auffassungen. Reformistische Sozialdemokraten und revolutionäre Kommunisten bekämpften sich gegenseitig. Mit der russischen Oktoberrevolution 1917 wurde die Marx’sche Lehre in Gestalt des Marxismus-Leninismus zur Staatsideologie des ‹real existierenden Sozialismus› und zur Legitimationsgrundlage der Diktatur Lenins und Stalins.

Der Grund zur Ost-West-Spaltung wurde gelegt: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs senkte sich in Europa der eiserne Vorhang. Während sich die Herrschenden im Osten auf Marx beriefen, griff im Westen infolge der Erfahrungen des Stalinismus und des Maoismus Antikommunismus um sich. Zugleich versuchte man, dem östlichen Sozialismus eine ‹soziale Marktwirtschaft› entgegenzusetzen, und erhob den Anspruch, die Klassengegensätze überwinden und eine ‹eingeebnete Mittelstandsgesellschaft› schaffen zu können. In der Sozialdemokratie war Marx nur noch eine Quelle unter vielen. Ökonomisch dominierten dort keynesianische Ideen. Ab Ende der 1960er-Jahre begann dann eine Phase der Entspannungspolitik zwischen Ost und West.

Marx, 68er-Bewegung und Zusammenbruch des Staatssozialismus


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1967/68 brach eine weltweite Jugend- und Studentenbewegung, die 68er-Bewegung, auf. Sie revoltierte gegen den Vietnam-Krieg und autoritäre staatliche Strukturen, kritisierte die Verhältnisse an den Universitäten und mahnte die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft an. Diese Bewegung entdeckte nun Marx neu. Es waren Menschen, die wach geworden waren für die Nöte der Welt und die ihre eigenen Impulse ausgedrückt fanden durch den kategorischen Imperativ des jungen Marx, «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist».(3) Marx’ These, es komme darauf an, die Welt nicht bloß zu interpretieren, sondern sie zu verändern, beflügelte sie. Man forderte ‹Marx an die Uni›. Einige suchten die Verbindung mit dem ‹Traditionsmarxismus›, den alten Kommunistischen Parteien und den Ländern des real existierenden Sozialismus (sowjetischer oder chinesischer Prägung). Angesichts des Prager Frühlings setzten viele ihre Hoffnung auf einen erneuerten Sozialismus mit menschlichem Antlitz, der mehr am jungen Marx orientiert war als am alten. Die Panzer der Warschauer-Pakt-Staaten walzten diese Hoffnung nieder.

Diese 68er-Bewegung ebbte schließlich ab, viele ihrer Akteure begannen den ‹Marsch durch die Institutionen›. Einige gerieten in die Sackgasse des Terrorismus. Andere versuchten, in gesellschaftlichen Nischen Alternativen zu entwickeln: Die Umweltbewegung, der Kampf gegen AKWs und die Friedensbewegung erstarkten; die Partei der Grünen entstand.

1989, nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, schien jedoch der Zauber, der lange vom Marx’schen Denken ausgegangen war, gebrochen: Angesichts des augenscheinlichen Sieges des westlichen Gesellschaftsmodells und der auf Adam Smith zurückgehenden Theorie der kapitalistischen Marktwirtschaft wurde das ‹Ende der Geschichte› ausgerufen. Der ‹real existierende Sozialismus› hatte sich als nicht zukunftsfähig erwiesen. Marx war ‹out›.

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Die Heilsversprechen des Neoliberalismus erfüllten sich ebenso wenig wie diejenigen des Marxismus von einer klassenlosen Gesellschaft.

Die Heilsversprechen des nun immer stärker grassierenden Neoliberalismus erfüllten sich jedoch ebenso wenig wie diejenigen des Marxismus von einer klassenlosen Gesellschaft. Spätestens die Weltfinanzkrise 2007/08 und ihre Folgen haben die Überzeugung, der ‹Raubtierkapitalismus› sei überwunden, bei vielen Menschen erschüttert. Hatte Marx mit seiner Diagnose des Kapitalismus nicht doch in vielem Recht behalten? Bestätigte die Entwicklung nicht seine Analyse: «Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser [der kapitalistischen, CS] Produktionsweise»? (4) Karl Raimund Popper hatte 1945 geschrieben, der frühe Marxismus sei «vielleicht die wichtigste Korrektividee» gewesen, aber nun habe das «ökonomische System, das Marx beschrieben und kritisiert hat […], überall zu bestehen aufgehört […]».(5) Heute hingegen scheint die Gesellschaft sich wieder mehr dem Bild anzunähern, das Marx von ihr entworfen hatte. Das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus ist geschwächt. In den Mittelschichten geht die Angst vor dem Abstieg um.

Eine neue Debatte über gesellschaftliche Grundfragen


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Karl Marx hatte sich der Diskussion über Gestaltungsfragen einer sozialistischen Gesellschaft mit dem Argument entzogen, er wolle keine «Rezepte aus der Garküche der Zukunft» liefern.(6) Sein Ansatz des historischen Materialismus leugnete zwar nicht schlechtweg den «subjektiven Faktor» in der Geschichte, entscheidend war für Marx jedoch die gesetzmäßige Entwicklung der ökonomischen Basis. Als Diagnostiker des Kapitalismus war er zweifelsohne begabter denn als Therapeut des kranken sozialen Gefüges. Der schöne Satz im ‹Kommunistischen Manifest›, in Zukunft trete an die Stelle der Klassengegensätze eine «Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist» (7), formuliert eine Prognose, nicht primär eine Gestaltungsaufgabe. Man kann Marx gewiss nicht verantwortlich machen für alles Schlechte des realen Sozialismus, man wird ihn aber gerade auch wegen dieser Unterschätzung des sozialen Gestaltungsbedarfs nicht von jeder Verantwortung dafür freisprechen können.

200 Jahre Marx könnten Anlass zu einer neuen Debatte sein: darüber, was sowohl von dem Praktiker wie von dem Theoretiker Marx bleibt. Was bleibt von seiner Arbeitswerttheorie, was von der Mehrwerttheorie, was vom «tendenziellen Fall der Profitrate» und was schließlich von seiner materialistischen Anschauung des Menschen? Das Schlimmste wäre eine neuerliche Dogmatisierung und Ideologisierung, wünschenswert eine offene und differenzierte Debatte über den Beitrag, den Marxismus, Keynesianismus und andere Ansätze wie z. B. die Freiwirtschaft und nicht zuletzt die soziale Dreigliederungsbewegung bzw. Steiners ökonomische Konzeption zum heutigen Ringen der Zivilgesellschaft und der Kulturell-Kreativen um eine menschlichere Gesellschaft leisten können. Gefragt ist hier wirklicher Dialog, nicht Streit um Worte.

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Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.
— Karl Marx nach Friedrich Engels in einem Brief, Aug. 1890

Nehmen wir den zentralen Begriff des Kapitals. Marx fasste dieses Kapital als gesellschaftliches Verhältnis auf und kritisierte seine Reduktion auf eine dingliche Größe (Sachen und Geld). Die Rolle von technischer und unternehmerischer Intelligenz für die Kapitalentstehung, die «Anwendung von Geist auf Arbeit» (Steiner) hat er nicht systematisch berücksichtigt, wenn auch nicht ganz ausgeblendet. Steiner wandte sich gegen eine vordergründig-polemische Kapitalkritik – es sei ja selbstverständlich, «dass im heutigen Wirtschaftsleben ohne Kapitalien gar nichts auszurichten ist», sagte er einmal (8) –, während er an anderen Stellen vom «seelenverödenden Kapitalismus» (9) sprach. Wenn man nicht in der Lage ist, die verschiedenen Gesichtspunkte und Bedeutungsnuancen des Wortes ‹Kapital› zusammenzudenken, wird man hier unweigerlich in die Fallstricke der Semantik tappen und sich gegenseitig missverstehen müssen.

Was bleibt von der Mehrwerttheorie?


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Was von Marx bleibt, lässt sich an seiner Mehrwerttheorie diskutieren. (10) Marx beschreibt verschiedene Formen der Entstehung des Mehrwerts für die Kapitalbesitzer. Der sogenannte absolute Mehrwert entsteht durch Auspressen der Arbeitskraft, zum Beispiel durch die Verlängerung des Arbeitstages, der relative Mehrwert durch die Steigerung der Produktivität der Arbeit beziehungsweise die Verbilligung der Subsistenzmittel der Arbeiter. Das ist so weit plausibel. Die heutige Arbeitsplatzverlagerung in der Globalisierung ist im Sinne von Marx ein Versuch, die Lohnkosten dadurch zu drücken, dass man in Länder geht, wo die Löhne niedriger sind. Zwar darf man auch die von Marx selbst gemachte Voraussetzung nicht ausblenden, dass in die Bestimmung der Höhe des Lohns auch ein ‹historisches und moralisches› Element eingeht. Entscheidend ist jedoch, dass es sich um einen ausbeuterischen Vorgang handelt, der – jedenfalls im Prinzip – so funktioniert, wie Marx ihn beschreibt.

Problematisch wird es jedoch, wenn wir nach der Quelle der Produktivität fragen. Dass in immer kürzerer Zeit von immer weniger Menschen das Gleiche oder mehr hergestellt oder geleistet werden kann, ist immer Resultat der Anwendung von Geist auf Arbeit. Ohne die Berücksichtigung solcher Geistwirksamkeit im ökonomischen Prozess ist der heutige Vormarsch von Industrie 4.0, Robotik und künstlicher Intelligenz nicht wirklich zu verstehen. Bei vollautomatisierten Fabriken hat es jedoch keinen Sinn mehr, wie Marx zu sagen, dass die lebendige Arbeit den Wert der Maschinen auf das Produkt überträgt. Denn diese Arbeit findet nicht mehr statt. Spätestens hier kommen wir an eine Grenze der Erklärungskraft der Mehrwerttheorie im Hinblick auf die Kapitalentstehung.

Alte und neue Ausbeutung

Zugleich bestätigt dieser Grenzfall durchaus die Kritik von Marx am kapitalistischen Privateigentum an Produktionsmitteln und am Lohnverhältnis: Wo die Erträge ausschließlich den Kapitalgebern gehören, sind die Einkommen der Arbeitenden nicht Ertragsteil, sondern Abzug vom Ertrag, also Kosten. Am radikalsten werden diese gemindert, wenn man auf die Menschen verzichten und damit die Lohnkosten auf null senken kann. Würde das umfassend gelingen, wäre freilich auch kein Einkommen mehr da, das die Produkte kaufen könnte. Wir haben es mit einer Verschärfung und zugleich Verschiebung der Ausbeutungsproblematik zu tun: Ausbeutung besteht hier nicht mehr in der ungerechten Bewertung des Leistungsbeitrags der Arbeit zur Güterproduktion, sondern in der ungerechten Verteilung der Früchte der Produktivität. Was zugleich bedeutet, dass Menschen nicht das Einkommen erhalten, das es ihnen möglich macht, sich dringenden Aufgaben außerhalb der Sphäre der materiellen Güterproduktion zu widmen.


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Wir müssen also – und dieser Anstoß von Marx bleibt – über die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sprechen: Die ganze Diskussion um ein Grundeinkommen und seine Ausgestaltung hängt ja mit dieser Problematik zusammen. Vor allem auch die von Rudolf Steiner thematisierte wesentliche Frage nach der volkswirtschaftlichen Schenkung muss hier erörtert werden. Sie hängt auch mit der Entwicklung einer Ökonomie zusammen, in der der Markt von assoziativen Verständigungsorganen durchzogen wird, in denen die Wirtschaftspartner auf Interessenausgleich und Preisgerechtigkeit hinarbeiten können. Letztlich geht es um eine Neugliederung der sozialen Strukturen, die es mündigen Menschen ermöglicht, ihre sozialen Verhältnisse selbst zu gestalten.


(1) 11. März 1919, GA 329. (2) GA 330. (3) MEW 1, S. 385.( 4) Das Kapital, MEW 23,S. 647. (5)  Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Bd I–II, Bern/München 1973, II, S. 131. (6) Nachwort zur 2. Auflage des 1. Bandes des Kapitals (1873), MEW 23. (7) Marx/Engels, MEW 4, S. 482; (8) Die Kardinalfrage des Wirtschaftslebens, Vortrag Oslo, 30. November 1921. (9) Z. B. Vortrag Stuttgart 22. April 1919, GA 330. (10) Mehr hierzu s. C. Strawe: Marx – Was bleibt von der Mehrwerttheorie? Zur Problematik des Marx’schen Kapitalbegriffs. In: Sozialimpulse, 1/2008, Stuttgart.

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