Kindliche Gegenwart

In meinem Sozialpraktikum begegnete ich ganz unterschiedlichen Menschen mit Assistenzbedarf.

Schon die erste Begegnung mit den Menschen der Wohngruppe zeigte mir ihre direkte Verbindung zum gegenwärtigen Moment und ihre Feinsinnigkeit. Sie legten bereits nach 20 Minuten Vertrauen in mich, schenkten Umarmungen, erzählten mir froh, wer sie sind, und teilten mir ganz frei und offen ihre Meinung über mich mit. Während ‹unser› Wesen sehr beeinflusst ist, ist ‹ihres› ungefiltert, kennt kaum Vorurteile und erwidert Liebe und Wohlwollen auf eine schöne und im Fühlen lebende Art. Meine Zeit bei ihnen holte mich aus meinen Gedankenblasen heraus, die gar nichts mit mir und meinem erfahrbaren Leben zu tun hatten, und ich freute mich mit ihnen über kleine Dinge, spielte mit großer Ernsthaftigkeit eine Partie Karten und ließ mich auf zahlreiche Späße ein. Sie eröffneten mir den Raum, ebenfalls Anbindung zu finden an mein ursprünglicheres, sich eher verspielt am Leben erfreuenden Ich. Als dürfe ich in ihrer Gegenwart mein inneres Kind herauslassen.

Nach zehn Tagen verließ ich zum ersten Mal die Einrichtung, um im Supermarkt einzukaufen. Es war wie ein Kulturschock. Die meisten Gesichter waren zu Mienen verzogen, als würden alle distanziert aneinander vorbeiexistieren. Von der Wärme und Begegnungsfreude, an die ich mich gerade erst gewöhnt hatte, war ‹hier draußen› keine Spur zu finden. Die Person an der Kasse wiederholte genervt und leicht aggressiv ihren Satz, nach meinem freundlichen «Wie bitte?». Ich ging eingeschüchtert und fassungslos hinaus.


Bild Jan Göschel 2011 in einer inklusiven Waldorfschule in Taiwan. Foto: Privat

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