Ich und das Wahre

Im Wahren wirkt die Wahrheit des Ich. Im Ich wird das Wahre sich wahr.


Wäre die Gegenwart des Wahren, und mit ihr das Wahre, möglich, wenn ich nicht gegenwärtig wäre als Ich, das durch das eigene wahrnehmende Bewusstsein dem Wahren begegnet? Ist das Wahre überhaupt denkbar, wenn ich nicht zusammen mit dem Wahren, untrennbar vom Wahren, ein wachsames Bewusstsein denke, das sich in der Begegnung mit dem Wahren vergegenwärtigen kann?

Diese Fragen möchten nicht in Richtung eines sterilen, mehr oder weniger narzisstischen Subjektivismus zielen. Sie möchten lediglich dazu einladen, das Wahre als Phänomen unbefangen ernst zu nehmen: Phänomen – so die wortwörtliche Bedeutung des griechischen Wortes ‹phainómenon› – als Wirklichkeit, die sich manifestiert, das heißt offen-bart, und deshalb ohne die Begegnung mit einem wahrnehmenden Bewusstsein nicht denkbar wäre. Die alten Griechen hatten genau dies empfunden, wie ihr Wort für Wahrheit zeigt, ‹alétheia›, das wortwörtlich ‹Unverborgenheit› bedeutet und somit eben auf ein Offenbarwerden hindeutet: Ein Inneres wird Äußeres, und dies uneingeschränkt, wenn das Innere eben unverborgen, unverhüllt, unverschleiert bleiben soll. Wäre diese Veräußerlichung jedoch eine solche, wenn ihr kein empfangendes Bewusstsein, kein waches Ich begegnen würde?

Ohne wahrnehmendes Bewusstsein wäre selbst der Unterschied zwischen Innen und Außen vollkommen sinnlos! Anders formuliert: Wäre nur Sein, ohne Bewusstsein, dann wäre das Sein schlicht un-wahr, nicht im Sinne von falsch, sondern im Sinne einer abgründig unbestimmten, stummen, leblosen Leere, die letztendlich mit einem unfruchtbaren Nicht-Sein zusammenfiele. Provokativ gefragt: Wäre das Sein überhaupt gegenwärtig, wenn kein Bewusstsein jenseits des Seins wachsam wirkte, dem das Sein als Wahres begegnen könnte?

Wahrheit kann im tiefsten und prägnantesten Sinne nur ein Phänomen für ein ihr begegnendes Bewusstsein sein; was wiederum bedeutet, dass wirkliche Wahrheit nur ausgehend von einem wachsam wirksamen Bewusstsein, nicht von einem abstrakten Sein wahr und somit gegenwärtig und wirklich sein kann. Dies heißt aber nicht, dass Wahrheit irgendeine willkürliche Konstruktion eines Bewusstseins ist, sondern nur, dass Wahrheit im tiefsten Sinne als schenkende Gebärde eines Bewusstseins verstanden werden möchte, das für ein anderes Bewusstsein unverborgen sein will.

Das Wahre als Geschenk

Das Wahre ist Geschenk für ein wachsam wahrnehmendes Ich, das dieses Geschenk empfangen kann. Bewusst verweise ich auf ein Geschenk, denn, wie jedes Geschenk, ist das höchste und tiefste Wahre dasjenige, dem gegenüber das empfangende Ich nicht unfruchtbar passiv bleibt, sondern unerschöpflich sowie mehr oder weniger autonom und frei aktiv werden kann. – Schließlich ist ein wahres Geschenk etwas, das die tätige, autonome Entfaltung des beschenkten Wesens ermöglicht oder fördert.

Die schenkende Gebärde des Wahren wird auf schlichte Art offenbar, wenn wir an die Beziehung unseres Bewusstseins zu elementaren geometrischen Begriffen unbefangen und dynamisch genug denken. Das an sich Wahre des Vierecks zum Beispiel ist ein solches, mit dem ich selbst, wenn ich ihm begegne, potenziell unendliche Vierecke verwirklichen kann, ohne dass sich das Wahre des Vierecks sowie meine Fähigkeit zur Offenbarung von Vierecken je erschöpft. Das wahre Viereck, das Viereck an sich, kann demzufolge als die dynamische Mitte einer sich uneingeschränkt schenkenden Kraft betrachtet werden, von der ausgehend jedes wachsam empfangende Bewusstsein potenziell unendliche Vierecke aus sich selbst erschaffen kann. Die schenkende Gebärde dieser Kraft ist eine so bedingungslose und unerschöpfliche, dass sie einerseits die Gegenwart des wahren Vierecks in jedem Viereck möglich macht – sonst wäre egal welches Viereck kein Viereck –, andererseits jegliche verwirklichte Form des Vierecks unendlich überragt. Immer neue Vierecke können durch potenziell unendliche Bewusstseinszentren offenbar werden, die das Wahre des Vierecks erleben.

Das Wahre, die Freiheit, die Liebe

Ereignet sich in der Begegnung meines Bewusstseins mit dem wahren Viereck nicht etwas, das in elementarer Form die Gebärden der Liebe und der Freiheit offenbart? Denn ist wahre Liebe nicht diejenige, in der mein wachsames Ich die Unverborgenheit eines anderen Wesens so uneingeschränkt empfängt, dass sie sich durch mein Bewusstsein fruchtbar unendlich offenbaren kann? Und ist wahre Freiheit nicht diejenige, durch die mein wachsames Ich in der Begegnung mit einem anderen Wesen die eigene individuelle Tätigkeit so frei offenbart, dass sie mit der individuellen Tätigkeit des anderen Wesens harmonisch zusammenklingen kann, eben den Wahren des anderen Wesens durch die eigene Freiheit zur Unverborgenheit verhelfend?

In diesem Rahmen wird verständlich, warum wahre Intelligenz, wahres Denken, wahre Erkenntnis häufig genug mit dem Begriff der Liebe verbunden wurden und werden. Denn ich muss wirklich die gleiche unbefangene und zugleich wachsame Offenheit der Liebe den anderen Wesen gegenüber gegenwärtig machen, wenn ich sie wirklich denken, verstehen, erkennen will! Und wäre dies überhaupt möglich, wenn die anderen Wesen mich in der Begegnung einfach einsaugten beziehungsweise von mir Besitz ergriffen, mich jeglicher Autonomie und Freiheit beraubend? Wäre, anders gesagt, Begegnung mit dem Wahren ohne jegliche, auch nur elementare und vorbewusste Gebärde möglich, die auf Freiheit und Liebe hindeutet? Und wäre das Wahre im tiefsten und höchsten Sinne eben das Wahre, wenn es nicht mit einer bewussten Gebärde des freien, liebenden Schenkens untrennbar verbunden wäre, durch die ein Wesen sich in die Unverborgenheit für andere bewusste Wesen wachsam begibt?

Ist die Begegnung mit dem Wahren überhaupt eine solche, wenn sie sich nicht als Gespräch ereignet, das durch Freiheit und Liebe getragen und ernährt wird? Schließlich erklingt dies bis in jede, auch in die elementarste Sinneswahrnehmung, die keine menschliche und menschenwürdige wäre, wenn sie uns nicht frei lassen würde und wenn das wahrnehmende Ich nicht schon in der Sinneswahrnehmung einer uneingeschränkten, vorbewusst liebenden Offenheit der Unverborgenheit anderen Wesen gegenüber fähig wäre. In dieser Hinsicht ist das Verb ‹wahrnehmen› eben zutiefst menschlich wahr! Und in derselben Hinsicht fallen alle rigiden Trennungen zwischen Erkenntnis des Wahren und Handlung, die das Gute offenbart, einfach weg. Hier ist das Denken, das dem Wahren wachsam und fruchtbar begegnet, zugleich Fühlen einer schönen, formenden Kraft, die dem Wollen die Möglichkeit schenkt, als Gegenwart des Guten zu wirken. Hier bewirkt das wahrhaftig erkennende Ich das schöne und gute Ereignis der Freiheit und der Liebe. Gutes, Schönes, Wahres begegnen sich hier so, dass sie als lebendige Einheit wahrgenommen werden können: als Gebärde eines uneingeschränkten, bedingungslos freien Schenkens (das Gute), das durch das Scheinen der eigenen unerschöpflichen Fruchtbarkeit (das Schöne) eine harmonische Form der eigenen Unverborgenheit offenbart (das Wahre).


Bild Malerei von Ulrich Schulz, ‹Geistseele›, 2013. Lasur. Leinwand, Pigmente, Kreide.

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