Was meine ich mit mehreren Leben?

Ich bin nicht mehr das Kind, das vor 50 Jahren vom Wickeltisch auf den Fotoapparat geschaut hat. Aber ich bin der geblieben, der das Kind war.


Wenn sich ein Kind zum Erwachsenen entwickelt, dann durchläuft es vielfältige Wandlungen, aber es wird nicht zu einem anderen Menschen. Manche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen meinen, dass das eine Illusion sei, dass es in Wahrheit nur Wandlung gäbe und keine Individualität, die sich wandelt. Für den Buddhismus ist das Ich illusionär, für den Hinduismus ist es unpersönlich. Ich sehe einen anderen Weg vor mir. Aber dieser andere Weg braucht Mut, denn es scheint, als wäre gerade auf ihm die Bedeutung des einzelnen Menschen-Ich aufs Äußerste gefährdet. Es handelt sich um einen Weg, der mitten durch den Reinkarnationsgedanken führt, freilich durch einen abendländisch-christlichen. Weil dieser den substanzlosen Werdestrom des Buddhismus mit dem bleibenden Wesenskern des Hinduismus zu verbinden vermag, spricht er von einer Entwicklung, die sich über die Inkarnationen hinweg vollzieht. Aber zwischen meinen früheren und meiner jetzigen Inkarnation liegen viel größere Wandlungen als zwischen meiner Kindheit und meinem Erwachsenendasein und meinem Alter. Hier wird klar, dass meine Individualität nichts mit den Eigenschaften oder Merkmalen zu tun hat, anhand derer man mich jetzt identifizieren kann.


Zusammengestellt aus ‹Leben mit mehreren Leben› in ‹Leben mit dem Leben›, Stuttgart 2008

Titelbild: Jennifer Burk/ Unsplash

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