Vom Gestalten in imaginären Räumen

Digitale Technologien fügen sich heute zu einer Welt zusammen, die wir zu bewohnen beginnen – zwar nicht mit unserem Körper, aber mit unserem Bewusstsein. So wird die digitale Welt zu einer Lebenswelt, die unser Verhältnis des Menschen zur Welt und zum eigenen Dasein fundamental verändert. Das hat weitreichende Folgen für die Gesellschaft und den Menschen – sowie für die Pädagogik.


Eintritt in eine digitale Lebenswelt

Das Leben in den industriell geprägten Gesellschaften verändert sich gegenwärtig fundamental und in einer noch nicht absehbaren Weise. Neben existenziellen Veränderungen wie Klimawandel und Migration ist es auch die digitale Transformation, die Lebensweisen und gesellschaftliche Ordnungen grundlegend wandelt. So wie im 19. Jahrhundert die Eisenbahn zuerst als Fremdes in die natürliche, bäuerlich geprägte Landschaft einbrach und dann als Technik zur Grundlage der urbanen, modernen Lebenswelt wurde, so traten auch die digitalen Geräte zunächst als etwas Fremdes in unserem Alltag auf. Doch nach und nach fügen sich heute die technischen Elemente zu einem Ganzen, von dem wir zunehmend abhängig sind.

Im 19. Jahrhundert hat mit der industriellen Revolution die Naturwissenschaft eine Technik der Maschinen ermöglicht, die benutzt wurde, um eine andere Welt zu schaffen. Die urbane Welt, die Welt der modernen Großstädte, mit Eisenbahnen, Stromleitungen, Straßen und U-Bahnschächten ist wie eine zweite Natur geworden – eine ‹Unter-Natur› – die der Mensch mit Maschinen geschaffen hat und in der er nunmehr lebt und arbeitet. Ähnlich wird allmählich absehbar, dass wir nicht nur in einer urbanen Gesellschaft leben, die immer mehr von digitalen Geräten und digitalen Infrastrukturen durchdrungen wird, sondern dass wir zunehmend auch in einer digitalen Welt leben. Digitale Technologien fügen sich zu einem Ganzen, zu einer Welt, die wir zu bewohnen beginnen, nicht mit unserem Körper wie die Stadt, sondern mit unserem Bewusstsein. Das Digitale wird zur Lebenswelt.

Eine imaginäre Welt

Neomi Levi, ‹Übergänge›, Wachskreide auf Papier, 2017.

Diese digitale Lebenswelt ist ein Ort, an dem heute wichtigste Entscheidungen getroffen werden: E-Mail, Social Media, Videokonferenzen, sie sind immer mehr die Orte, an denen Präsenz mit dem Bewusstsein gefordert ist, um Entscheidungsverläufe mitzubekommen, urteilsfähig, antwortfähig zu sein und Verantwortung tragen zu können. Auch die Freizeit wird immer häufiger in diesem Raum verbracht, in diesem Raum der Bilder, der Vorstellungen, der Erinnerungen, in Gestalt von Fotos und Reaktionen und Bezügen auf diese. In diesem Raum bilden Gedanken, Vorstellungen, Fantasien, Illusionen, Erinnerungen usw. das Material, in dem das Bewusstsein sich aufhält, in dem weite Teile des Lebens sich vollziehen. Ich möchte diese Welt die ‹imaginäre Welt› nennen.

Meine These einer ‹digitalen Lebenswelt› besagt, dass wir Maschinen gebaut haben, die uns erlauben, nicht nur dann in der imaginären Welt zu sein, wenn wir sie mit dem Bewusstsein eigentätig schaffen, wie das beispielsweise beim Lesen der Fall ist, sondern dass diese Technologien diese Tätigkeit teilweise ersetzen. Wie die Eisenbahn die Selbsttätigkeit des Gehens ersetzt und nur noch relativ wenig körperliche Eigentätigkeit verlangt wird, um ans Ziel zu kommen, so erlauben digitale Medien, ohne großen Anteil von Eigentätigkeit vorzustellen, zu erinnern, Bilder, Töne und Gedanken zu vergegenwärtigen. Digitale Medien stellen so Vorstellungsmaschinen dar, die einen hilfreichen wie problematischen Raum schaffen, in dem wir bequem mit unserem Bewusstsein in Produkten des Innenlebens herumgehen und agieren können.

Die analoge Welt als Ausnahmezustand

Die Architektur dieser Welten ist nun in den vergangenen Jahren gewissermaßen so dicht geworden, dass der Aufenthalt dort für viele Menschen nicht mehr eine Ausnahme darstellt, sondern zum ‹Normalen›, zum ‹eigentlichen› Ort geworden ist, vielfach schlicht aus dem Grund, weil die Arbeitsverhältnisse dies so erfordern. Gegenüber dem Leben in der urbanen oder natürlichen Umwelt wird so die digitale Lebenswelt immer mehr als der Ort des primären Lebens empfunden und ‹offline› zu sein ist zum Ausnahmezustand geworden. Was in der analogen, urbanen, körperlichen und sinnlichen Gegenwart geschieht und erlebt werden kann, erscheint so immer weniger natürlich gegenwärtig. Das heißt zwar nicht, dass die urbane Welt und die Natur verschwinden, aber dass sich unser Verhältnis zu ihnen grundlegend verändert.

Digitale Technologien fügen sich zu einem Ganzen, zu einer Welt, die wir zu bewohnen beginnen, nicht mit unserem Körper wie die Stadt, sondern mit unserem Bewusstsein.

Von dieser digitalen Lebenswelt aus wird beispielsweise zunehmend die übrige Welt erschlossen: die Außenwelt, aber auch der eigene Körper. Wenn ich mich beispielsweise frage, wie das Wetter ist, schaue ich auf das Smartphone, sehe dort, dass es regnet – und schaue dann aus dem Fenster, um nachzusehen: «Ja, stimmt, es regnet.» Oder der ausgedruckte Text erscheint als ein Abfallprodukt; der Ort, an dem der ‹eigentliche› Text ist, ist der Speicher, die Cloud. Diese einfachsten Beispiele sind Ausdruck für einen fundamentaleren Wandel: Es wird heute nicht von der Dingwelt ins Digitale, sondern vom Digitalen in die Dingwelt übertragen und abgeglichen. Die Empfindung von dem, was real ist und was sekundär ist, kehrt sich um. Anders gesagt: Der Zugang zur Dingwelt geschieht immer häufiger über die imaginäre Welt und als das Wichtige, Entscheidende werden die Vorgänge und Objekte der imaginären Welt erlebt.

Auch das Verhältnis zum eigenen Körper – als ein Teil der Dingwelt – erscheint auf diese Weise vermittelt. Von der imaginären Welt aus erfahren, wird auch der eigene Körper zu einem Außen: Ich bin dann nicht mehr derjenige, der sich die Welt anschaut und ein Bild von dem macht, was um mich herum passiert, sondern ich selbst schaue mich in meiner Körperlichkeit von außen an, forme ein Bild von mir selbst, wie ich in diesem Raum drinstehe – wie wenn ein anderer auf mich schaut. Die Selfie- und TikTok-Kultur entsprechender Social-Media-Kanäle sind ein Symptom dieser Veränderung, in der der eigene Körper zu einem Objekt wird und ich in einer Art Umkreisbewusstsein lebe, von dem aus ich meinen Körper anschaue, benutze, ihn manipuliere, darstelle. Ich schaue, wie meine Lippen, Haare, meine Mimik, meine Kleider, meine Geste aussehen, und forme sie so, wie ich sie gesehen wissen möchte. Doch das ist nicht nur ein Jugendphänomen: Die Selbstprotokollierung und Selbstüberwachung ist eine andere Erscheinungsweise derselben Disposition: Wie ist mein Blutzucker heute, wie der Puls? Hatte ich genug Vitamine und bin ich genügend Schritte gelaufen? – Es ist wie eine Art innere Rückschau auf mich selbst, wobei der Körper zum Optimierungsobjekt wird.

Wenn dieses Wohnen in der imaginären Welt zur Normalität wird und der Bezug zum Körper und zur Dingwelt sich auf diese Weise verändert hat, dann wird das Eintreten in die Form des Bewusstseins, die die Industriemoderne auszeichnete, zum Ausnahmezustand. Das vollständige Im-Körper-Sein ist dann keine selbstverständliche Tatsache mehr. Der Körper und die Sinneswelt werden zu Orten, die nur in besonderen Augenblicken voll und ganz bewohnt werden: Sie werden zu einem Ort der Exkursion, zu einem erstrebenswerten Besonderen. So wie wenn der Stadtmensch einen Ausflug in die Natur macht: Man fährt dann mal raus aufs Land und genießt den Wald. Ganz in mir und bei mir zu sein – so deutet sich gegenwärtig an –, wird zum Privileg von den wenigen, die es sich leisten können, ‹offline› zu sein.

Neomi Levi, ‹Übergänge›, Wachskreide auf Papier, 2017

Neue kulturelle Herausforderungen

Neben den vielen politischen, kulturellen, sozialen und ökologischen Herausforderungen und Entfremdungen, die die digitale Transformation mit sich bringt, tritt auch diese, dass die körperliche und sinnliche Gegenwart zunehmend willentlich ergriffen und in ihrem Wert und ihrer Bedeutung neu entdeckt werden wollen. Was natürlich gegeben war, wird so an vielen Orten der Welt zunehmend zur Aufgabe für die Kultur, für die Pädagogik. So wie durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert die Entfremdung von der Natur und von der sozialen Ordnung der Standesgesellschaft zu einem umfassenden Problem und dann auch zum Ausgangspunkt für eine ökologische und soziale Bewegung wurde, so stellen sich ähnlich fundamentale Aufgaben durch die gesellschaftlichen Folgen der digitalen Transformation. Zur Zeit der industriellen Revolution war es ein langer Weg kultureller und politischer Arbeit, die unwürdigen Lebensverhältnisse der Arbeiter anfänglich umzuformen, die durch den technologischen Wandel entstanden waren. Und die moderne Pädagogik – auch die Steiner-Pädagogik als Pädagogik für die Kinder der Waldorf-Astoria-Fabrikarbeiter – verstand sich ursprünglich als Beitrag zur menschlichen Freiheit und Bildungsgerechtigkeit unter den prekären Verhältnissen industrieller Lebenswelten.

Ein wichtiges Anliegen kann die Eindämmung dieser Entwicklungen sein. Andererseits halte ich den begonnenen Prozess für nicht umkehrbar. So wie es den Stadtkindern oder ihren Eltern nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, dass sie dort ohne Bezug zur Natur oder vereinsamt aufwachsen, sondern gefragt wird, wie diese Verhältnisse politisch und pädagogisch gestaltet und umgestaltet werden müssen, frage ich nach einer Pädagogik, die die spezifischen Entfremdungen durch die digitale Lebenswelt als Auftrag ansieht und aufnimmt. Ich denke, dass die Verhältnisse nach der Entwicklung einer Pädagogik rufen, die sich die Gestaltung und Pflege dieses Feldes des Imaginären, des Bezuges zum Leib und zur sinnlichen Welt zur Aufgabe macht.

Mit Medien ins Imaginäre gelangen

Anfänglich kann dabei überlegt werden, welche Rolle Medien – und dazu gehört auch das Puppentheater – bei dieser veränderten pädagogischen Aufgabe spielen könnten. Medien können – so soll hier einmal vorgeschlagen werden – als Ort gesehen werden, an dem der physisch-sinnliche Raum in einen inneren bildhaften Sinn-Raum übergeht. Im Puppenspiel – in Bezug darauf spreche ich allerdings nur als Laie – können wir diesen Übergang elementar beobachten: Wie wird aus einem Lappen, in den man einen Knoten macht, eine Fee? Wie aus einem Stück Holz ein Wolf? Wie ereignet sich dieser Übergang des physisch-sinnlichen Raumes, in dem wir die Dinge sehen und der durch die gemeinsame Präsenz in einer Welt geteilter Sinneswahrnehmungen ausgezeichnet ist, in diesen Raum, wo das Holz plötzlich ein Wolf ist und nicht mehr Holz und wo ich an und mit dem Wolf nun die vielfältigsten Erlebnisse haben kann? Wo sind wir, wenn wir das Holz als Wolf erleben?

Durch das Holz und das Spiel mit ihm können wir in diesen imaginären Raum der Vorstellungen, Bilder und inneren Erlebnisse eintreten. Das Spiel mit dem Holz ist das Medium, das diesen Übergang von der Dingwelt in die imaginäre Welt formt. In gleicher Weise, aber anderer Art erlauben auch digitale Medien einen Übergang von der Gegenstandswelt in eine Welt der Bilder, Vorstellungen, Gedanken und Erinnerungen. Das Buch ist in diesem Sinne ein wunderbares Medium. Es ist ein Objekt im Raum, ein paar Hundert Gramm schwer, mit Seiten, die man umblättern kann. Die Buchstaben sind im physisch-sinnlichen Raum überhaupt in keinem Verhältnis zu dem, was wir dort erleben können, wenn es gelingt, das Buch als Medium zu benutzen: Die erzählte Geschichte, ein Märchen oder auch ein Bericht, eine Lebensgeschichte oder ein Gedankenzusammenhang, der erfahrbar wird, sind Medienerlebnisse, durch die etwas erfahren werden kann, das nicht im physischen Raum stattfindet.

Wie die Eisenbahn die Selbsttätigkeit des Gehens ersetzt und nur noch relativ wenig körperliche Eigentätigkeit verlangt wird, um ans Ziel zu kommen, so erlauben digitale Medien, ohne großen Anteil von Eigentätigkeit vorzustellen, zu erinnern, Bilder, Töne und Gedanken zu vergegenwärtigen.

Medien lassen sich in diesem Sinne als Mittel des Übergangs beschreiben, die dem Bewusstsein erlauben, vom physisch-sinnlichen Raum der Gegenstände zu dem imaginären Raum überzutreten. In diesem imaginären Raum werden Bilder erlebt, aber nicht nur visuelle innere Bilder, sondern auch Gedanken, Fantasiegebilde optischer, akustischer, klanglicher oder gestischer Art. Auch Erinnerungen sind Elemente des imaginären Raumes, wie es auch Imaginationen sein können, für die ein Meditationsbild das Medium sein kann.

Gestalten im Imaginären

Um souverän mit den Medien im Hinblick auf pädagogisch-künstlerische Prozesse wirken zu können, stellt sich die Aufgabe, die Phänomene und Qualitäten des imaginären Raums zu charakterisieren und zu qualifizieren. In einer ersten Dimension können die Gebilde des imaginären Raumes durch ihr Verhältnis zur Wirklichkeit qualifiziert werden. Die Gebilde der imaginären Welt selbst sind zwar nicht in dem Sinne wirklich, wie ein Stuhl wirklich ist, aber sie können einen näheren oder ferneren Bezug zu Gegenständen der Erfahrung haben. Eine Erinnerung beispielsweise ist dann wirklichkeitsgemäß, wenn sie sich tatsächlich auf ein Erlebnis bezieht, das ich früher hatte. Die Erinnerungsvorstellung hat dann einen spezifischen Bezug zu einer Wirklichkeit. Man kann dabei unterscheiden, wie nah oder gut dieser Wirklichkeitsbezug ist, wie groß der Eigenanteil an dem Erinnerungsbild ist und wie viel er von dem enthält, was auch andere in der erinnerten Situation gesehen hätten. Dieselbe Frage des Wirklichkeitsbezugs lässt sich bei einem E-Mail oder einem Emoji in einer WhatsApp-Nachricht stellen. Die imaginären Gebilde können sich auf biografische Erlebnisse beziehen, auf Körpererlebnisse, auf soziale Prozesse, auf Gefühle, Gedanken, auf die Dingwelt. Ähnliches gilt auch für Imaginationen im Hinblick auf ihren Bezug zu geistigen Vorgängen: Inwiefern ist das Bild, das ich erlebe, in einem wirklichen Bezug zu einem geistigen Vorgang und inwiefern ist dieser im Bild anwesend? Oder, genauer gesagt, andersherum: Imaginationen sind solche Bilder des imaginären Raums, die in einem Wirklichkeitsverhältnis zu geistigen Kräften oder Wesen stehen.

Eintreten – Qualitäten des Übergangs

Neben dem Versuch, die imaginären Gebilde auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu untersuchen, lohnt sich zu untersuchen, wie verschiedene Medien den Übergang vom gegenständlich-sinnlichen in den imaginären Raum formen. Dabei lassen sich drei Phasen unterscheiden: das Eintreten, das Drinnen-Sein und das Heraustreten.

Um das Erste, das Eintreten, zu charakterisieren, wächst beim Puppenspiel als Medium die Frage: Wie wird hier der Übergang von der physischen Welt zur imaginären Welt gestaltet? Wie wird dazu eingeladen? Wird der Raum verdunkelt? Wird die technische Seite der Bühne verborgen oder ist sie nachvollziehbar sichtbar für den Zuschauer? Ist für ihn nachvollziehbar, wie der Zauber entsteht, oder wird er verborgen? Ist der Vorgang transparent, wie sich die Puppe belebt?

Neomi Levi, ‹Übergänge›, Wachskreide auf Papier, 2017

Für das Puppen- und Figurenspiel ist meine Vermutung, dass Kinder heute eher dafür zugänglich sind, den Übergang mitzuvollziehen und in das Geschehen einzutreten, wenn das Medium für sie transparent ist. Das heißt, wenn nicht versucht wird, zu verstecken, dass da Schnüre sind, die die Puppe lenken, oder sich die Spieler hinter Balustraden künstlich verstecken. Wenn dagegen sichtbar ist, wie die Hand die unbelebte Puppe ergreift und dann eine Märchenprinzessin da ist, gesehen wird, wie die Marionette ausgepackt wird und sich vor unseren Augen belebt, entsteht erst gar nicht die Frage, wie das technisch gemacht ist, und der Zauber ist umso größer, dass da ‹tatsächlich› eine Prinzessin ist. Dagegen sind die digitalen Medien Meister darin, den Übergang zu verbergen. Das macht sie auf eine ganz andere Art so faszinierend. Ich glaube aber nicht, dass es sinnvoll ist, im Puppenspiel mit ihnen diesbezüglich durch Zaubereffekte konkurrieren zu wollen. Indem es im Puppenspiel transparent ist, ist es umso hinreißender, weil Kinder wie Erwachsene offenen Auges miterleben, wie sie in etwas eintreten, das sie selbst mithervorbringen.

Drinnen-Sein – Qualitäten der Immersion

Auch das Drinnen-Sein kann durch das Verhältnis zwischen Dingwelt und imaginärer Welt charakterisiert werden. Das Drinnen-Sein kann ‹Immersion› genannt werden und wieder kann die Art und Qualität der Immersion charakterisiert und qualifiziert werden. Wie wird das Zusammensein mit dem imaginären Bild oder Vorgang gestaltet? Wie ist es bei einem spannenden Film, beim Computerspiel, beim Puppenspiel?

Wenn der Übergang vom physischen Raum zum imaginären Raum gelingt, dann entsteht das Phänomen, das ich ‹Überlagerung› nennen möchte: Dann überlagert der imaginäre Raum den physischen Raum – der imaginäre Wolf überlagert das dingliche Holzstück und macht es auf eine bestimmte Weise unsichtbar. Wie wird diese Überlagerung geschaffen? Wie wird sie gestaltet? Die Qualität der Immersion wird maßgeblich von der Art der Überlagerung von Gegenstand und imaginärem Gebilde mitbestimmt. Es gehört zur ästhetischen Erfahrung des Puppenspiels, dass es zu solchen Überlagerungen kommt, und es macht gerade den Zauber einer Marionette aus, dass die Fantasie im Zusammenspiel mit den Gesten, dem Licht, den Bewegungen und Stimmungen den geschnitzten Kopf zu einem Empfindenden und Sprechenden werden lässt.

Damit steht das Puppenspiel in der Mitte zwischen Extremformen der Überlagerung: Auf der einen Seite des Spektrums der Überlagerung liegt die ‹Augmented Reality› (erweiterte Wirklichkeit). Das sind Technologien, durch die digitale Objekte in den physischen Raum projiziert werden, zum Beispiel durch eine Datenbrille oder das Smartphone. Am Bildschirm wird da die physische Umgebung angezeigt, aber da hinein werden Gnome, Fantasiewesen und Goldtaler projiziert, so als würden sie tatsächlich dort am Straßenrand hüpfen. Hier wird der physische Raum durch einen technischen, imaginären Raum überlagert. Auf der anderen Seite des Spektrums der Überlagerung liegt der spannende Roman, wo das Medium, also das Buch, völlig verschwindet: Der Lesende kann derart in der Geschichte verschwinden, dass er nicht einmal mehr merkt, dass er liest und ein Buch aus Papier vor sich hat. Das wäre dann eine Überlagerung, die fast bis zur Ablösung von der dinglichen Welt führt. Eine solche Ablösung gibt es auch umgekehrt: In der ‹Virtual Reality› schafft das Medium einen imaginären, simulierten physischen Raum auf eine Weise, die den Zusammenhang zum Körper und zur Dingwelt ganz vergessen lässt.

So kann bei der Gestaltung der Überlagerung gefragt werden: Wie ist der Atem zwischen dem, was dort im Medium geschieht, und mir, der ich hier im Dingraum sitze? Kann ich als Zuschauer frei atmen? Werde ich gefesselt? Bin ich absorbiert durch die Kraft, die das Medium ausübt, ohne mich noch zu spüren? Und ist das Bewusstsein durch die Art der Immersion gedämpft oder gesteigert wach oder fantasievoll träumend? Verstehe ich als Zuschauer, was passiert, oder ist die Immersion so, dass ich es nicht begreife, aber getrieben bin? Bin ich gebannt, verkrampft, reingesogen oder lässt es mich kühl bei mir zurück? Erlaubt die Art der Überlagerung einen Rhythmus zwischen Bei-mir-Sein und Drinsein?

Heraustreten – Qualitäten der Rückkehr

Eine drittes Feld der Charakterisierung der Prozesse im Gestalten des Imaginären erschließt sich durch Aufmerksamkeit auf das Heraustreten, aus der Art, wie der Abschluss gestaltet wird. Wie geht der Vorhang wieder zu? Wie wird der imaginäre Raum verlassen und verabschiedet? Wird das Erlebnis überhaupt beendet? Und was passiert mit dem, was erlebt wurde – wie lebt es im Kind, im Zuschauer weiter?

Erscheint nach dem Austreten die physische Welt noch als wertvoll? Oder hat das Märchen, das Game, das Filmerlebnis die Tendenz, dass die Sehnsucht zum Imaginären die Aufmerksamkeit weiter so bindet, dass empfunden wird: Die ‹eigentliche› Welt ist dort – und ‹hier› zu sein ist nicht so schön? Angesichts der anfangs dargestellten Umkehr der Realitätserfahrung, in der das digital vermittelte Leben im Imaginären zum Dauerzustand und zur Normalität wird, erscheint es mir zunehmend wichtiger, dass das Austreten mit Freude verbunden ist und nicht mit Trauer, Wehmut und Verlangen nach Rückkehr – Gefühle und Stimmungen, die mit Bildwelten mancher Märchen wie auch von Games und Social Media verbunden sein können. Doch welche Kräfte sind nötig, um so auszutreten? Erwartet den Zuschauer hier, wenn er herausgetreten ist, etwas, wofür es sich lohnt herauszutreten, oder wird er sich hier eher verloren, gelangweilt, sinnlos oder wertlos fühlen?

Das Heraustreten aus dem Imaginären wird unter den heutigen Bedingungen so zur Herausforderung: Die Rückkehr in den Leib und die Welt entsteht nicht von selbst, wenn der Vorhang wieder zugeht. Wie kann dazu beigetragen werden, dass Zuschauer nicht halb bewusst in der imaginären Welt hängen bleiben? Wie kann die Kunst, die wir für Kinder gestalten, solche Übergänge gestalten, die herein- und wieder herausführen, sodass das Leben im Imaginären zur stärkenden Erfahrung wird?

Neue Mythen und Märchen

Wenn wir technisch gestützt in der imaginären Welt leben, erschöpfen wir die stärkenden Lebenskräfte auf ganz andere Weise als etwa die Arbeiter in den Fabriken vor 100 Jahren. Erschöpfung der Lebenskräfte zeigt sich in digitalen Lebenswelten weniger in einer körperlich-maschinellen Erschöpfung als vielmehr in einer mentalen Ermüdung: eine Ermüdung der Lebensenergie, die im Extrem zu neuen Formen der Depression und zu einer Erschöpfung der Kräfte führt, die das Innenleben überhaupt aus sich selbst beleben können.

Vielleicht brauchen wir neue Erzählungen, die nicht davon erzählen, wie wir die Erde verlassen, um in den Himmel zu kommen, sondern solche, die davon erzählen, warum es sinnvoll ist, auf der Erde zu sein.

Anthroposophisch-menschenkundlich gesehen gibt es zwei Quellen für die Belebung und Wiederherstellung dieser Lebenskräfte, die das Vorstellen und Erinnern unterhalten und die Grundlage für das Leben in imaginären Räumen sind. Der eine Weg ist durch den Schlaf; der andere ist durch das Aufnehmen von Sinneserlebnissen: Im Prozess des freien Lebens in Sinneswahrnehmungen – wie in Naturerlebnissen – leben wir auf eine Weise im Körper, dass die Sinne etwas aufnehmen, was wie eine Ernährung sein kann, die die Lebenskräfte aufbaut. Wenn das Gestalten im imaginären Raum also zu aufbauenden Lebenskräften beitragen möchte, stellt sich so einerseits die Frage, wie die imaginäre Welt in eine Beziehung zu der schöpferisch-geistigen Wirklichkeit gebracht werden kann, die im Schlaf unbewusst wirksam ist. Andererseits stellt sich die Frage, wie durch die Bilder des Imaginären eine Beziehung zur physisch-sinnlichen Welt hergestellt werden kann. Kann das Bewusstsein so ergriffen werden, dass es im physischen Körper und in den Sinneswahrnehmungen ankommt? Und wie können die Übergänge und die Erlebnisse in der imaginären Welt so gestaltet werden, dass durch sie selbst der Bezug zur sinnlichen Welt gestärkt und die Freude, wieder einzutreten, bestärkt wird? Anders gefragt: Wie können Bilder in der imaginären Welt gestaltet werden, die geeignet sind, besser zu schlafen und besser aufzuwachen?

Vielleicht brauchen wir dafür in Zukunft – nicht nur die Kinder, sondern auch wir Erwachsenen – andere Mythen. Vielleicht brauchen wir neue Erzählungen, die nicht davon erzählen, wie wir die Erde verlassen, um in den Himmel zu kommen, sondern solche, die davon erzählen, warum es schön ist, im Körper zu sein, warum es wunderbar ist, eine Biografie zu leben und sich in die Mitwelt einzuschreiben, warum es sinnvoll ist, auf der Erde zu sein. Vielleicht werden die Mysterien des digitalen Zeitalters Mysterien des Wohnens im Leib und der Sinneswahrnehmung sein.


Bearbeitung eines Vortrags bei der Tagung für Puppen- und Figurenspieler am Goetheanum am 21.2.2020. Die Tagung widmete sich der ‹Stärkung des Ätherischen durch Figurenspiel im Zeitalter der Digitalisierung›.

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