In der Ausstellung am Goetheanum sind rund 20 Werke der russischen Malerin Margarita Woloschina zu sehen. Am 31. Januar 2022 wäre ihr 140. Geburtstag gewesen. Sie hinterließ ein großes Bilderwerk, als sie 1973 in Stuttgart starb. Zur Entwicklung des anthroposophischen Kunstimpulses trug sie seit dessen Anfängen bei. Die Kuratorin Barbara Schnetzler wollte wissen, wie diese Bilder auf junge Menschen wirken, und führte ein Gespräch mit zwei Studentinnen aus Chile. Hier ein Auszug.
Margarita Woloschina erlangt schon in jungen Jahren als Porträtmalerin Anerkennung. In dieser Zeit entstand auch ihr Selbstporträt, nicht wahr?
Josefa Vial Brizzi Das Porträt der jungen Künstlerin (Siehe Fräulein Sabaschnikow ‒ Anthroposophie, Russland und die christliche Malerei) ist in eine steinige Landschaft gesetzt. Die vorherrschende Farbe ist Braun. Das Gesicht schaut uns mit traurigen, fast nostalgisch anmutenden Augen entgegen – mit Augen, die uns etwas sagen wollen, aber die sich wie hinter einer Maske verstecken. Sie sprechen aus festen und klaren Formen.
Camilla Conreras Sie schaut aus einer Art Höhle heraus, aber das ist wohl das architektonisch gemalte, voluminöse Haar. Hinter ihrem Kopf zeigen sich in den Felsen die Formen des Zweiten Goetheanum?
Barbara Schnetzler Das kann kaum sein, denn die Formen entwickelte Rudolf Steiner erst viel später. Zum Zeitpunkt dieses Porträts ist sie ihm noch nicht begegnet.
Ein Zeitensprung zu ‹Orpheus›, einem Bild, das sie im hohen Alter gemalt hat. Was seht ihr?
Brizzi Nun gibt es Farben, keine Struktur mehr. Die Bewegung ist ins Bild gekommen. Es wirkt, als wäre es nicht von dieser Welt. Alle Formen folgen einer Bewegung.
Conreras Die Formen sind nicht vollendet. Sie gehen immer weiter und ich sehe einen Stier, eine unheimliche Schlange, einen Adler und eine Mittelfigur. Ich werde bewegt beim Schauen und es entstehen Dinge.
Schnetzler Orpheus zähmt mit seiner Musik die wilden Tiere, unter denen vor allem ein Löwe bedeutend war. Woloschina hat sehr mit der Gestalt des Löwen gerungen und ihn immer wieder weggewischt. Eine andere Malerin hat den Löwen später ergänzt. Er entstammt nicht der Hand Woloschinas.
Wie erlebt ihr die Farbstimmung im Bild?
Conreras Alle Farben bewegen sich ins Grau.
Schnetzler In ihren Bildern zuvor ist die ganze Farbpalette eingesetzt, und nun entsteht gegen das Lebensende das Grau.
Brizzi Mir gefällt dieses Bild. Es ist immer wieder neu, es beseelt und offenbart ihre Seelenstimmung – ganz anders als in ihrem Selbstporträt. Es birgt ein Geheimnis, und das macht es interessant – ich kann es nicht erkennen.
Conreras Die Bewegung ist ein Element.
Brizzi Konnte sie das Geistige im Physischen wahrnehmen?
Schnetzler Sie spricht nicht darüber. Aber sie hinterfragte schon als junge Studentin den naturalistischen Malstil ihres Lehrers Ilja Repin und schreibt in ihr Tagebuch: «Hat es denn einen Sinn, zu wiederholen, was schon da ist? Es muss eine ganz andere Kunst entstehen, die eine nie da gewesene Welt offenbart.» Später schreibt sie: «Das Erleben des Gefühls in Farbe verwandeln, in die Bewegung der Farbe, die zum Rhythmus und endlich zur Form wird. […] Aber die Idee […] muss immer als ein Wesenhaftes, ein Ganzes geahnt werden.» Es gelingt ihr, durch die Anregungen der Anthroposophie immer tiefer in das Wesen der Farbe selbst einzudringen. Ihre konsequente Suche führte sie wohl zu einem verfeinerten Sehen. In ihrer letzten Orpheusdarstellung, kurz vor ihrem Tod und beinahe erblindet, hauchte sie mit dem Pinsel ihre Persönlichkeit mit all dem durchs Leben Errungenen ins Bild, ausgezehrt und frei. Leider konnte dieses Bild aus der Kunstsammlung am Goetheanum nicht für diese Ausstellung zur Verfügung gestellt werden.
Links ein Detail des Bildes ‹Orpheus›; rechts: Orpheus (Entwurf), ca.1940, Aquarell, 49,5×36,5 cm
Margarita Woloschina fiel die Aufgabe zu, in der kleinen Kuppel des Ersten Goetheanum den Ägypter zu malen. Wie wirkt die Darstellung auf euch?
Brizzi Ich liebe dieses Bild, insbesondere die transparenten Farben im Hintergrund. Dieses Wesen schaut mich sehr freundlich an. Für mich ist es lebendig.
Conreras Die Augen sind so tief, die Gestalt richtet mich auf, die Augen folgen mir, egal wo ich stehe. Durch den eingefassten Bart wirkt der Wille vollkommen kontrolliert. Ich fühle Mitleid durch diese Augen.
Brizzi Ich fühle mich angeschaut und gesehen. Die Augen erregen meine volle Aufmerksamkeit.
Wie ist die Körperlichkeit dieses Ägypters?
Brizzi Der Körper hat eine ätherische Qualität. Es ist ein transparentes Wesen und eröffnet mir einen Raum, dem ich mich anvertrauen kann. Ich kann ihm in meinem Selbst gegenüberstehen. Es wirkt sehr ätherisch.
Schnetzler Wenn ich in diese Augen schaue und immer wieder den Mund dazu hole, wird alles lebendig. Der Körper verwebt sich beinahe mit dem Hintergrund.
Brizzi Vor allem der Mund wirkt lebendig. Der Pharao ist womöglich mitten in einer Zeremonie. Sie malt dieses Wesen, als würde sie selbst diese Zeit kennen.
Schnetzler Die meisten ihrer Werke zeigen Porträts, mit denen sie anfänglich auch ihr Geld verdient hatte. Hier sehen wir das Porträt eines Künstlers von Strakosch Gisler (1938).
Conreras Auch diese Darstellung wirkt ätherisch.
Brizzi Ich denke wirklich, dass sie mehr sieht – dieser Mann ist kein Mensch in dieser physischen Welt. Die verschiedenen Schichten zeigen auratische Farben. Wenn man von weit her schaut, sehen wir einen Schein, wir sehen den Ätherleib.
Conreras Die Schichten, das sind die Farben der Aura.
Der Körper ist ganz verwoben mit dem Umraum – wo ist der Körper am stofflichsten?
Conreras Am Schädel, in den Wangen, an der Stirn – der Leib ist beinahe aufgelöst in ein helles, transparentes Weiß.
Links: Maria mit Kind III, ohne Jahr, Gemälde auf Holztafel, 28×25 cm; rechts ein Detail des Bildes ‹Orpheus›
Sie beginnt in ihrer zweiten Lebenshälfte, Motive aus den Evangelien zu malen. Viele Altarbilder entstanden für die Christengemeinschaft. Was kommt euch hier in dieser Bilderfülle als Gesamteindruck entgegen?
Conreras Die geistige Welt.
Brizzi Ihr spirituelles Leben – alles ist in Bewegung, alles ist grenzenlos. Sie hat eine besondere Begabung, Augen zu malen. Diese Madonna hier ist wunderschön und ihre Augen sehen einen aus jedem Blickwinkel.
Schnetzler In der religiösen Sphäre war sie zu Hause und die Ikonenmalerei war ihr nahe. Sie wollte zeitgemäße Ikonen aus freier Erkenntnis heraus malen. Die Ikonenmalerei beruht auf dem Geheimnis der Farbschichtungen, deren Auftragungen ein heiliges Prozedere waren. Sie selbst lernte das in Russland bei einem Ikonenmeister. In ihren Werken transformiert sie diese Malweise, entäußert sie und entschleiert die gemalten Geheimnisse.
Brizzi Alles ist in Schichten gemalt, hier in gesteigerter Art und Weise. Diese Technik erzeugt eine solide Struktur und rhythmisiert das Bild. Warum hat sie wohl Feuer und Wasser, Sonne und Mond in ein Bild gepackt? Was symbolisiert das?
Conreras Vielleicht kommt in diesem Moment des Mysteriums von Golgatha alles zusammen und die Gegensätze werden sichtbar. Vielleicht möchte sie zeigen, dass wir Menschen zwei wirksame Grundkräfte in uns haben?
Erlebt ihr in ihrem Werk einen Zeitbezug, ist es Kunst unserer Zeit?
Conreras Diese Malerei ist sehr zeitgenössisch, weil sie dem Menschen etwas aufzeigt. Die Malerin möchte uns bewusst machen, wie wichtig es ist, die gezeigten Inhalte in uns selbst aufzusuchen. Sie sagt uns, dass wir nicht nur äußerlich, sondern tiefer schauen lernen sollten. Dieses Schauenlernen, über die physischen Grenzen hinaus, hat mit dieser Zeit zu tun.
Brizzi Es ist das Sichtbarmachen des Ätherischen. Das ist neu und bringt uns weiter. Kunst sollte ganz frei sein, es sollte keine Regeln geben.
Viele Menschen denken, die Schichtmalerei sei anthroposophische Kunst.
Brizzi Ich habe manchmal schon den Eindruck gehabt, dass bei anthroposophischen Kunstschaffenden alles gleich aussieht, aber bei dieser Malerei hier ist alles echt, sie wirkt beseelt und lebendig.
Schnetzler Margarita Woloschina und andere haben die Schichtmalerei und die Farbperspektive zusammen mit Rudolf Steiner entwickelt und damit einen ganz neuen Malstil geprägt. In ihren ätherischen Landschaftsräumen regt sie keimhaft eine neue Malerei an, die bis heute an Aktualität nicht verloren hat und weiterentwickelt werden möchte. Ihre Tagebuchnotizen und Bilder zeigen, dass sie sich stets zum Neuen hingedrängt fühlte und ihr Leben lang eine Suchende war.
Titelbild: Detail aus ‹Orpheus› von Margarita Woloschina
Ausstellung Margarita Woloschina Malerei: « … unhörbar tritt der Morgen ein.», 19. November 2021 bis 24. April 2022, Kunstgalerie Goetheanum, Dornach