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Und hilf dem Tage siegen

Stine Andresen hat ein Werk mit lebendigen Rhythmen und feinsinnigen Bildern geschaffen. Eine Würdigung zum Jahrestag des 170. Geburtstags der Föhrer Dichterin (1849–1927).


An der Nordsee branden Wellen ans Ufer. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, ob das Wasser aufläuft oder sich zurückzieht. Wer jedoch auf den Klang der Wellen achtet, wird möglicherweise an der Intensität ihres Brechens heraushören, ob Flut oder Ebbe ist. Dieses Hineinlauschen in Naturvorgänge war eine besondere Fähigkeit der Föhrer Dichterin Stine Andresen, die am 23. Dezember 1849 geboren wurde und am 13. Mai 1927 starb. Sie verband den Inhalt immer eng mit passenden Sprachrhythmen: «Am Meeresstrande stand ich / In stiller Sommernacht. / Es flüsterten die Wellen / Am Ufer leis und sacht.» (‹Am Strande›) Dabei verbleibt sie nicht in einer naturalistischen Beschreibung, sie erhebt solch ein Erlebnis in eine höhere Sphäre, zu ihrer Zeit mit Anlehnung an die Religion: «Vor mir des Meeres Spiegel / So still wie ein Gebet, / Und über mir der Himmel / Mit Sternen übersät.»

Das Ufer ist eine Schwelle. Es trennt den trockenen Sand vom feuchten Wasser (wenn dieser Pleonasmus erlaubt ist). An dieser Schwelle entscheidet sich, ob der Mensch geht oder schwimmt. Wer sich auf Wasser einlässt, begibt sich in eine andere Welt, in übertragenem Sinne in Todesgefahr. Schon manch tüchtiger Schwimmer hat die Gewalt des Wassers unterschätzt – und ist ertrunken, gerade auch bei Föhr.

Als Frau. Mit Literatur!

Stine Andresen war das Leben in seinen Höhen und Tiefen vertraut. Sie verlor im Laufe ihres Lebens alle Geschwister und ihre Eltern: Als sie sechs Jahre alt war, starb Bruder Simon Albert, als sie 16 Jahre alt war, starb ihre Mutter Louise Friederike (geborene Sievers), mit 22 Jahren verlor sie ihren Bruder Jan Gerret, mit 34 ihre Schwester Elene und mit 37 ihren Vater. Mit ihrem Mann, dem Kaufmann und Müller Emil Andresen, den sie 1874 geheiratet hatte, erlebte sie mit 28 Jahren, wie ihr gemeinsamer Betrieb, eine Mühle, abbrannte. Als Stine Andresen 45 Jahre alt war, starb ihr Mann mit 42 Jahren. Mit dem Tod ihres Mannes einher ging die Zwangsversteigerung der Mühle. Es folgten Behandlungen wegen Depression auf dem Festland in Flensburg und Kiel.

Doch Stine Andresen gelang es, sich als freie Schriftstellerin auf dem ‹Markt› zu behaupten. Sie trat nicht nur mit Veröffentlichungen, sondern auch mit Lesungen ihrer Gedichte an die Öffentlichkeit – und beeindruckte durch ihre Erscheinung und ihren Vortrag. Sie konnte auf Grundlage ihrer Einnahmen aus der literarischen Tätigkeit eine Zeit lang leben. Als Frau. Mit Literatur!

Zudem hatte sie vereinzelt Kontakt zur Prominenz. Die damalige Prinzessin und spätere deutsche Kaiserin Auguste Victoria, Gemahlin von Wilhelm II., besuchte sie in ihrem Haus auf Föhr. Der rumänischen Königin Elisabeth zu Wied, die unter dem Namen Carmen Silva literarisch tätig war, wurde Stine Andresen während einer Rheinreise mit zwei Freundinnen 1898 nicht zuletzt wegen ihrer auffälligen Friesentracht vorgeführt und dann der Kontakt weiter gepflegt. Für Christine Hebbel, die berühmte Burgtheater-Schauspielerin und Gattin des schon verstorbenen Dramatikers Friedrich Hebbel, war sie 1899/1900 in Wien so etwas wie eine Privatsekretärin. Dadurch lernte Stine Andresen andere Kulturschaffende, darunter den Schriftsteller Otto Ernst, kennen. Auch der Kontakt zu Christine Hebbel hielt sich über die räumliche Distanz.

Stine Andresen wurde Achtung und Förderung zuteil. Sie gewann 1899 den ersten Preis für eine Hymne auf die Stadt Kiel, wurde 1905 vom Verein Berliner Presse zu einer Lesung eingeladen und erhielt wiederholt Unterstützung von der Friedrich-Hebbel-Stiftung in Kiel, in Form einer Ehrengabe anlässlich ihres 70. Geburtstags und von einzelnen Privatpersonen. Aber sie musste 1920 feststellen: «Meine Gedichte, die einst so sehr begehrt waren, werden leider seit Kriegsbeginn nicht mehr gedruckt […].» Die Zeit hatte sich geändert. Im ersten Jahr des Ersten Weltkriegs hatte Stine Andresen an Hugo Schneider an Weihnachten geschrieben: «Jeder zittert um seine Lieben, und wer keine nahen Verwandten dabei hat, trauert und sorgt mit den anderen, es ist eine böse Zeit; doch vielleicht ist sie heilsam für uns, wer weiß!! Die Weltgeschichte ist der Weltgeist!» Eine Folge war, dass Stine Andresen keinen Zugang mehr fand, zu veröffentlichen, beispielsweise in der damals wichtigen Zeitschrift ‹Gartenlaube›. Immerhin stehen aber Werke von Stine Andresen in der Bibliothek der Eliteuniversität Harvard in den USA.

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Zur Welt von Stine Andresen gehören der ‹Vater› ebenso wie Gestalten aus dem heidnischen und Wesen aus einem transzendentalen Kosmos, verbunden durch eine tief verankerte Humanität und einen feinen Humor.

Schwellendarstellungen

Stine Andresen hat die Schwelle nicht nur als Grenze zwischen Land und Wasser thematisiert. Die Schwelle ist vielmehr jenes Tor, bei dem das eine verschwindet, etwas anderes sich zeigt: «Allgemach / Schied der Tag; / Seiner Fackel letztes Glimmen / Will am Horizont verschwimmen. / […] / Zaubrisch hebt, / Duftumwebt / Sich die Hallig aus den Fluten, / Überstrahlt von Abendgluten.» Und dann erlebt man Wesenhaftes: «Nebelflor / Wallt empor, / Webt sich zu gespenst’gen Schatten / Auf der Heide braunen Matten. / […] / Drüben sacht / Senkt die Nacht / Schon die schwarzen Rabenflügel / Nieder auf die Dünenhügel.» (‹Abend an der Nordsee›)

Schwellenwesen wirken ins Tagesbewusstsein hinein, etwa ‹Frau Sorge› mit ihrem «grauen, schleppenden Gewand»: «Rings lacht die blühende Natur, / Du schleichst so müd’, du blickst so bang / […] / Ich weiß, du lässest nimmer mich, / Hast mir zu tief ins Aug’ geschaut.» (‹Frau Sorge›) Oder aber der Tod. Er ist keine Schreckensgestalt, sondern wendet sich für- und vorsorglich an den Menschen: «Erschrecke nicht, ich bin’s, der Tod, […] Noch lösch’ ich dir nicht aus dein Licht. – / Doch wenn der helle Tag anbricht, / Wo laut des Lebens Stimme spricht, / Dann hörst du mich nicht. […] Sei stark und mache dich bereit, / Gib mir ein Weilchen das Geleit, / Wir reden von Vergänglichkeit / Und flücht’ger Zeit. // Dereinst, wenn deine Sinne schwank, / Wenn Herz und Seele müd’ und krank, / Dir Lebensmut und Kraft entsank, / Dann weißt du’s mir Dank.»

Eine feine Seele

Stine Andresens Werk vereint Gedichte zu verschiedenen Schreibanlässen. Sie schrieb Rätsel und Gelegenheitsgedichte zu Ereignissen vor Ort. Insbesondere hat sie aber Gedichte geschrieben, in denen sich ihre feine Seele offenbart. Sie schließt gern an Naturerlebnisse an und führt diese durch eine Verinnerlichung zu einer moralisch-philosophischen Einsicht oder lenkt den Blick auf spirituelle Fragen. In ihnen zeigt sich ihr eigenständiger Umgang mit literarischer und religiöser Bildung: Zu ihrer Welt gehören der ‹Vater› ebenso wie Gestalten aus dem heidnischen und Wesen aus einem transzendentalen Kosmos, verbunden durch eine tief verankerte Humanität und einen feinen Humor. Zuweilen ist er so fein, dass man ihn nicht sofort bemerkt. Ein Beispiel aus ‹Vision›: Hier hat die Dichterin bei Goting im Mondenschein beobachtet, dass um Mitternacht, wenn nur noch das Meer dumpf braust und das Heidekraut flüstert, «die alten Helden» aus ihrem Schlaf erwachen und erscheinen: «Um Brust und Nacken woget / Der blonden Haare Flut / Gleich einer Löwenmähne; / Das Auge blickt voll Mut.» Sie schaffen aber keine neue Wirklichkeit mehr, sie wiederholen ihre Vergangenheit: «Sie lagern sich und reden / Von längst vergangner Zeit, / Von schwer erkämpften Siegen / Und von Walhallas Freud’.»

Stine Andresen weist auf das Verborgene im Nichtoffensichtlichen. Darüber hinaus zeigt sich – gerade wenn man ihre Gedichte vorträgt – ihre reiche Musikalität. Die eher sachliche, klare Sprache gibt dem Gedankenfassen, den Rhythmen des Lebens und Lautklängen Raum. Dabei wird Stine Andresen nie sentimental. Im zitierten Gedicht ‹Am Strande› «Fiel eine heiße Träne / Mir nieder auf die Hand», auch wenn sie beispielsweise hätte schreiben können: «Brannten heiße Tränen / Mir wehe auf der Hand». Oder im Gedicht ‹Mein Stern› spricht Stine Andresen nicht von den armen Sterblichen «im Jammertal», sondern sachlich von «im Erdental».

Tieferer Kern des Menschen

Der Mensch ist für Stine Andresen ein Wesen, dessen Tiefe nicht immer offensichtlich ist: «Auch manches Menschenherz auf seinem Grunde / Birgt gold’ne Schätze, ohn’ damit zu prunken; / Sie steigen auf nur zu geweihter Stunde. // Dann glüh’n und sprüh’n die lichten Geistesfunken / Und geben von dem selt’nen Reichtum Kunde, / Der in der dunklen Tiefe lag versunken.» (‹Meeresleuchten›) Oder: «Und so gibt’s auch Menschenkinder / Die für kalt und fühllos gelten, / Und doch tief im Herzensgrunde / Schätze bergen, reich und selten, // Die verkannt oft von der Menge, / Selbstlos, still die Welt durchwandern, / Weil ihr ganzes Leben aufgeht / In dem Leben eines andern.» (‹Auf Fels gebaut›) Es ist eine Haltung, die in scheinbarer Schwäche Stärke erblickt: «So sehn wir im Kampf des Lebens, / Oft den Mächt’gen unterliegen, / Während still bescheidenen Strebens / Schwache Kräfte herrlich siegen.» (‹Frühlingsgewitter›)

Zugleich schließt die Dichterin das Menschenwesen an eine himmlische, an eine geistige Wirklichkeit an. Es ist die Zuversicht, der Trost, der bei allen Enttäuschungen im Leben, in allem Ringen um Fassung, dem Leben Vertrauen schenkt: «O Frühlingsklang! O Frühlingswehen! / Erfüllst mit Hoffnung unser Herz, / Mit Glauben an ein Auferstehen / Und trägst die Seele himmelwärts.» (‹Frühlingslieder. I›) Oder: «Dass ein sanfter Schlummer stärke / Alle, die zur Ruhe gehen, / Um zu neuem Tagewerke / Neu gekräftigt aufzustehn. / Mut zum Leben, / Kraft zum Streben / Werde Jedem dargebracht. / Gute Nacht!» (‹Gute Nacht›) Ihr Ausdruck erinnert dabei zuweilen an den Ton von Georg Trakl, etwa im Sonett ‹Nach dem Sturme›: «Am Horizont ein einzig Wölkchen gleitet, / Durchleuchtet von des Abendshimmels Glut. / Das Meer liegt wie ein Spiegel ausgebreitet, // Als wär, wie einst auf seiner Jünger Bitten, / Besänftigend die aufgeregte Flut, / Des Heilands Fuß darüber hingeschritten.» (‹Nach dem Sturme›)

Stine Andresen ist zudem eine Meisterin der Hymne, des Jubels: «Nun, Menschenherz, werd’ munter, / Jauchz’ auf zum Himmelsdom! / Nun, Menschenleid, geh’ unter / Im heil’gen Freudenstrom.» (‹Im Sommer›)

Ein letztes hier dargestelltes Motiv sei die Kämpfernatur, die in Stine Andresen auch steckte. Aus dem Nachlass überliefert ist das Gedicht ‹Nur Mut›: «Kommt einmal ein Tag, ein trüber, / Menschenherz, verzage nicht! / Sieh’, die Wolke geht vorüber, / Die verhüllt der Sonne Licht. // Schickt einmal ein Feind, ein grimmer, / Dir entgegen seinen Troß, / Zielt nach dir, was zehnmal schlimmer, / Neid mit giftigem Geschoss. // Trotze kühn der Neider Pfeilen, / Und dem Feinde zeig’ das Schwert. / Glaube mir, es sind zuweilen / Blitz und Donner auch was wert.» Oder, in großem Maßstabe, von michaelischer Stärke: «Send’, Himmelskönig, Streiter aus / Und lass nicht unterliegen / Das Licht im Kampf mit Nacht und Graus / Und hilf dem Tage siegen!»


Sebastian Jüngel ist Germanist. Gabriela Jüngel und er haben das Stine-Andresen-Programm ‹Am Meeresstrande stand ich› 2017 im Friesenmuseum in Wyk auf Föhr und ‹Und hilf dem Tage siegen› 2019 in der Christengemeinschaft Basel zur Aufführung gebracht.

Foto: Stine Andresen, mit freundlicher Genehmigung von Foto-Ingwersen.

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