Oben Erde, unten Himmel

Ein wunderbarer Roman über Leben und Tod, Einsamkeit und Gemeinschaft und den Weg einer jungen Frau aus der Anonymität. Gleichzeitig ein Buch über die Würde menschlichen Daseins und wo sie zu finden ist. Und wo wäre das? Immer nur unter den Menschen.


Wie ein leeres Blatt lebt Suzu in einer japanischen Großstadt. Allein. Keine Freunde, keine Ausbildung, kein Interesse. Ein Sein, das vielmehr ein Nichtsein ist. Selbst ihr Hamster, ihr einziges Bezugswesen, leidet unter Suzus Lethargie. Die Eltern auf dem Land hören nichts von ihrer Tochter, die weder ihre eigenen Stärken und Schwächen noch ihre Nachbarn kennt. So lebt Suzu in stiller Anonymität, mit sich selbst und der Welt. Nur manchmal kommt ihr eine unbestimmte Sehnsucht. Suchend verbringt sie Abende vor Dating-Seiten. Erst als Suzu ihren jüngsten Minijob verliert, beginnt endlich etwas Neues. Etwas, das sich den Namen Leben verdient.

Niemand in Japan ist einsamer als Suzu? Dass Hunderte Menschen sogar an Einsamkeit sterben, erfährt die Protagonistin erst, als der neue Job beginnt. Als Reinigungskraft räumt sie da auf, wo der Tod oft wochenlang unentdeckt bleibt. In Schutzkleidung reinigt sie die Wohnungen der ‹Kodokushi›. So werden in Japan Menschen genannt, die sozial isoliert leben und sterben. Das Leid menschlicher Isolation spiegelt sich im gesamten Setting des Romans. Das Buch, das mit einer trefflichen Beschreibung von Suzus Phlegma beginnt, zeugt von einer tiefen Menschenerkenntnis. Doch Suzu bleibt nicht die junge Frau voll Scham und Unsicherheit. Wie sie die Überreste der Kodokushi reinigt, ordnet sie auch ihr Dasein. Die äußere Reinigung wird zur inneren Heilung.

Milena Michiko Flašar hat einen modernen Entwicklungsroman geschrieben. Hoffnungsvoll. Es ist bereits der fünfte Roman der österreichischen Autorin mit japanischen Wurzeln. Geschrieben in einer frischen Sprache und mit einer gedanklichen Offenheit, in der Fragen bewegt werden, die keine Antworten geben. Dieses Leseerlebnis – gleichzeitig eine Reise durch die japanische Lebenswelt – ist sehr zu empfehlen. Dankenswerterweise hat die Autorin Worterklärungen zu sämtlichen japanischen Ausdrücken angefügt, von Bento bis Yen.

Herr Sakai, ein älterer Herr, der ketten­rauchend in einem nach Zedernholz duftenden Transporter sein Reinigungsteam durch dichten Verkehr zum ersten Tatort fährt: «Zedernduft stärkt die Nerven», sagt er. Ein Mann, wie ihn junge Menschen bräuchten: ein erwachsenes Vorbild jenseits der Popkultur, mit Hand und Herz, Witz und Weisheit. Ziemlich eigen, aber lichtvoll. In Herrn Sakai lebt nicht nur die Aromatherapie, sondern auch die Idee des Arbeitsortes als Lebensort. Nach jedem Einsatz besucht das Team ein Badehaus. Selbstpflege ist Teil der Arbeit. Und das Abendessen für alle kocht Master Shen in seinem winzigen China-Restaurant. Alles ein wenig schäbig. Aber voller Herz. Fräulein Suzu ist zunächst verunsichert von so viel Neuem. Und der Lesende weiß nicht, was die Protagonistin mehr befremden mag: die Arbeit mit den menschlichen Überresten oder das soziale Gefüge des Teams. Denn ganz plötzlich und zunächst unwillig ist Suzu Teil einer Gemeinschaft geworden. Leise entsteht ein Gefühl von Kohärenz in ihrem Dasein. Fall für Fall lernt sie, Verantwortung zu tragen. «Wir kommen jetzt rein, machen Sie sich keine Sorgen.» Mit einem Gebet und diesen Worten betritt das Team die Wohnungen der Verstorbenen. Dem Toten gebührt eine würdevolle Begrüßung, lehrt Herr Sakai. Mit dem Schritt über die Türschwelle betritt Suzu gleichzeitig eine metaphysische Welt und ein Kapitel ihres Lebens, in dem sie Leben und Tod, Himmel und Erde wieder in ewiger Verbindung vorfinden kann. Während sie dem Tod begegnet, erwacht Suzu zum Leben. Sie nimmt die Verbindung mit sich selbst wieder auf. Erinnerungen werden wach. An die Kindheit, an den Geist des Großvaters. Alles war schon einmal da, es war nur tief verschüttet.

Das Team von Herr Sakai ist mit immer neuen Schicksalen der Verstorbenen konfrontiert. Ihre Geschichten werden zum Schlüssel der Romanfiguren. So dringt der Lesende durch den Verlauf der Ereignisse immer weiter zu den Figuren vor. Neben Suzu ist da vor allem ihr Kollege Takada, der seltsamerweise den gleichen Nachnamen trägt und genauso einsam lebt. In der Geschichte dieser Figur kann der Lesende Haltungen aus der anthroposophischen Heilpädagogik finden, die vom Vertrauen in den Menschen künden. Takadas Schicksal, dass sich wie Suzus Persönlichkeit langsam entspinnt, tritt an einem besonders tragischen Kodokushi zutage. Die Verwobenheit äußerer und innerer Prozesse ermöglicht ein tiefes Einfühlen in die Innenwelt der Romanfiguren. Spannend. Still und leise. Einfühlsam und herzerwärmend. Alles ist miteinander in Verbindung am Ende dieses Romans. Ein befriedendes Leseerlebnis, getragen von einem liebevollen Menschenbild.


Buch Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Wagenbach, 2023

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