Macht Esoterik immun gegen Fakten?

In einem Schreiben wendet sich Harald Matthes, leitender Arzt des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe, an die Mitarbeitenden des Klinikums. Der Brief vom 20.11.2021 wurde mit seiner Zustimmung breit geteilt und findet nun auch den Weg ins ‹Goetheanum›.


Die Frage im Titel stellt der ‹Tagesspiegel› am 18. November 2021 als führendes Leitmedium der Provinzhauptstadt Berlin und legt auch in seiner Onlineversion zum Wochenende nach mit: «Niedrige Impfquoten und Waldorfschulen: Anthroposophen glauben, dass Fakten schädlich sind für junge Kinder.» Zeitgleich erscheint in der ‹taz› am 20. November ein Artikel zu: «Waldorf, Weleda, Demeter und Co: Die mit ihrem Namen tanzen. Masernpartys und Wiedergeburt – was sind die Anthroposophen für welche?»

Wie ist derzeit die Faktenlage?

Im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe liegen auf der Isolierstation sowie auf der Intensivstation mehr geimpfte als ungeimpfte Patienten und Patientinnen, also über 50 Prozent! Für ganz Deutschland liegt der Wert bei über 40 Prozent. Die Fallzahlen steigen im gleichen Maße wie vor einem Jahr. Die Inzidenzzahlen sind trotz Impfungen höher als je zuvor. Die Krankenhausversorgung für Covid-Erkrankte ist schlechter als je zuvor. 20 Prozent weniger Intensivbetten wegen Pflegemangels mit Abwandern der Pflegenden aus dem Beruf. Notärzte und Notärztinnen finden für ihre Intensivpatienten und -patientinnen derzeit wieder keine aufnehmenden Krankenhäuser, und Patienten versterben erneut auf dem Weg zu ihrem gesuchten Intensivbett. Die Impfzentren wurden geschlossen, trotz klarer Datenlage aus Israel, dass ohne Boosterung der Winter in Deutschland dann wieder wie der letzte wird. Seit über einem Jahr regiert die Bundesregierung mittels ‹epidemischer Lage von nationaler Tragweite›.

Die Lage ist hochkomplex, aber die politische Lösung ist seit einem Jahr einfach und klar: Die Impfung wird es richten. Allein die Herdenimmunität durch Impfung muss verfolgt werden und bietet angeblich die Lösung. Differenzierte Diskussionen über risikostratifizierte Maßnahmen mit Schutz der Älteren und der Risikogruppen für einen schweren Covid-Verlauf durch Impfungen und strenge Schutzmaßnahmen (Abstand, Masken, Testen der Kontakte etc.) und andererseits deutlich davon abweichende Maßnahmen für Nicht-Risikogruppen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit erwogener Möglichkeit einer natürlichen Herdenimmunitätsbildung, wurden von Seiten der Politik heftig bekämpft. Derzeit liegen die Inzidenzen bei den 5- bis 12-Jährigen in Berlin und Brandenburg bei über 1000, sodass die natürliche Herdenimmunität nur eine Frage der Zeit ist.

Da das politisch eingeschlagene Konzept derzeit nicht aufgeht, sieht die Politik das Problem in den Impfverweigerern. Wie kann bei einer Impfdurchbruchsrate von 40 Prozent, einem Boosterschutz von ca. 145 Tagen, einem Erkältungsvirus mit hoher Mutagenität das Problem allein bei den 20 Prozent Impfverweigerern liegen? Welchen Sinn machten die Schulschließungen mit ihren verheerenden Folgen für unsere Kinder, wenn wir nun kein Stück weiter sind? Wie ist dies zu rechtfertigen, wenn Daten belegen, dass Schulen nie Treiber der Pandemie waren.

Trotz hochkomplexer gesellschaftlicher Problematik bleibt die Politik mantraartig bei der Losung: Die Impfverweigerer sind das Problem.

Ablenkung von eigenen Fehlern

Als Nicht-Impfverweigerer sehe ich allerdings das Problem woanders, nämlich bei der Politik! Mit in der Nachkriegsgeschichte so nie gelebter Brutalität wird der Frust der Gesellschaft auf eine Gruppe gelenkt, die nun für alles Leid stehen soll. Diskriminierung in einer Deutlichkeit, die bei Gender- und Ethnienfragen undenkbar wäre. Die Abschaffung der kostenfreien Tests führte zu einem Anstieg der Inzidenz, ebenso die Diskriminierung der Ungeimpften, mit weiterem Widerstand. Selbst in der Kindererziehung hat sich herumgesprochen, dass Bestrafung eher resistentes und Belohnung eher konformes Verhalten fördern. Auch die 2G-Regelung diskriminiert die Ungeimpften in einem Übermaß, da bei Impfdurchbrüchen von derzeit 40 bis 70 Prozent in den verschiedenen Altersklassen klar ist, dass es eine falsche Sicherheit durch den Impfschutz gibt. Das Risiko des falsch-negativen Schnelltestes liegt unter dem Risiko einer 2G-Regelung. Selbst eine 2G+-Regelung liegt derzeit nicht wesentlich über einer täglichen Testung von Ungeimpften.

Lenkt die Politik hier von ihrem massiven Versäumnissen ab, so schafft sie es offensichtlich mit der Zuweisung der Schuld an die Impfverweigerer, auch einen großen Teil der Gesellschaft hinter sich zu bringen. Dabei spielen Angst und Unkenntnis der Faktenlage sicherlich eine große Rolle, zeigen aber auch das dünne Eis einer gesellschaftlichen Solidarität, Toleranz und Transparenz der öffentlichen Medien.

Ein anderes Phänomen hat sich dazu gesellschaftlich entwickelt: die Anthroposophen und Anthroposophinnen als Projektion für das esoterisch Dunkle mit einer Flut an Artikeln in Leitmedien, wie den oben zitierten Artikeln im ‹Tagesspiegel› und der ‹taz› oder in der ‹Zeit›. Aber auch die ‹SZ› spekuliert über die niedrigen Impfquoten im Alpenraum und den Einfluss dieser Gruppe. Schaut man auf die Früchte der Anthroposophie, so sind GLS-Bank, Weleda, Dr. Hauschka, dm-Märkte, Waldorfschulen, Demeter und biologisch-dynamische Landwirtschaft (inkl. Ökologie) und auch die anthroposophischen Kliniken und die Heilpädagogik jeweils Spitzenreiter in ihren jeweiligen Branchen. Diese kleine gesellschaftliche Gruppe der Anthroposophie-Interessierten schafft es überall, wo sie aktiv ist, mit ihren Früchten hohes Ansehen und Wertschätzung aus der Gesellschaft zu erfahren und Spitzenreiter ihrer Branche zu werden.

Warum Esoterik erfolgreich ist

Dies kann all jene, die der Anthroposophie nicht nahestehen, verunsichern, stellt sich doch die Frage, was diese Menschengruppe so erfolgreich macht? Meist wachsen die schönsten Früchte nicht an kranken und maroden Bäumen, sondern sind Ausdruck der Gesundheit der Pflanze. Durch Anthroposophie erschließt sich uns erkenntnismäßig ein differenziertes Menschen- und Weltbild. Dieses Menschen- und Weltbild ist hochkomplex und es bedarf der intensiven Erkenntnisarbeit, sich dieses immer mehr zu erschließen. Die Komplexität ist nicht der Methode, sondern dem Inhalt geschuldet, sodass diese Komplexität eben durch die Komplexität des Menschen und der Welt bedingt ist. Anthroposophinnen und Anthroposophen beschäftigen sich daher mit komplexen Systemen und nutzen dazu die Erkenntnisse der Naturwissenschaften ebenso wie der Lebenswissenschaften, der Psycho- und Sozialwissenschaften und der Geisteswissenschaften. Die Schulung des Denkens und deren Erkenntnisgewinnung stehen dabei im Zentrum und werden gemäß dem Erkenntnisobjekt in den verschiedenen Wissenschaften genutzt. In der Geisteswissenschaft und der Philosophie steht dabei auch die Erkenntnis nicht-sinnlicher Inhalte, nämlich geistiger Erkenntnisse und deren innerer Spiritualität (= Esoterik = ἐσωτερικός für ‹innerlich›), als Erkenntnisarbeit für die eigene Ich-Erkenntnis auf der Angebotsliste einer Selbsterkenntnis im Verhältnis zur Welterkenntnis. Wenn dieses Menschen- und Weltbild Grundlage für die vielen gesunden Früchte der Anthroposophie ist, stellt sich natürlich die Frage nach dessen gesunden und vitalen Wurzeln.

Wenn für die Politik die Impfverweigerer Projektionsobjekte einer gescheiterten Corona-Politik sind, so sind es offensichtlich für die fünfte Macht im Staate, die Leitmedien, die Anthroposophen und Anthroposophinnen. Fakt ist, dass auch hier das GKH Hochleistungsmedizin und gesellschaftliches Engagement zeigt. Heruntergebrochen auf die Anzahl der Betten und des Personals versorgt das GKH in Relation weit mehr Patientinnen und Patienten mit Covid als die Städtischen-Krankenhäuser oder die Charité mit ihren jeweiligen Mitarbeiterzahlen. Keinesfalls verweigern wir die Impfungen, sondern haben eines der leistungsstärksten Impfzentren errichtet. Interessanterweise ist in der gleichen Ausgabe des ‹Tagesspiegels› mit dem Anthroposophie-Bashing auch ein positiver Bericht über das Impfzentrum Havelhöhe, was nun völlig den Aussagen von Herrn Rautenberg widerspricht, der ja auch kaum substanziierte Argumente für seine steilen Thesen anführen kann. Gleiches gilt für das Titelbild, soll es doch suggerieren, die Anthroposophen seien von vorgestern, auch wenn sie wie beim Wettlauf von Hase und Igel schon immer (an der Spitze) da sind.

Besonnen und solidarisch

Die Projektion eigenen Versagens und eigener Defizite auf elitäre gesellschaftliche Gruppen hat in Deutschland Tradition und darf daher nicht verwundern. Vielleicht sollten wir uns in gewisser Weise auch geadelt fühlen, können wir doch einerseits stolz auf unsere eigenen Früchte und Leistungen sein und andererseits ein (therapeutisches) Verständnis für Politik und Gesellschaft entwickeln, gelingt ihnen offensichtlich nicht das Gleiche, was wir im GKH schaffen: einen konstruktiven und sozial angemessenen Umgang mit Covid-19; auch wenn wir alle durch die harte Arbeit zunehmend erschöpft sind und durch das Bashing der Medien frustriert werden. In unserer täglichen Arbeit im Krankenhaus wie auch in der Impfambulanz können wir aber derzeit im direkten Menschenkontakt erleben, welche Dankbarkeit wir erfahren dürfen.

Auch wenn es schwerfällt, die eindimensionale Politikstrategie mit weiterhin alleinigem Glauben an die Impfung zu akzeptieren, sollten wir weiterhin besonnen mit den politischen Verordnungen umgehen und einen für unser Haus angemessenen sozialen Umgang untereinander pflegen und gegebenenfalls aber auch in Solidarität füreinander in den verschiedenen Berufsgruppen stehen, damit nicht ein weiterer Pflegeverlust eintritt.

Die Antwort auf die ‹Tagesspiegel›-Frage ‹Macht Esoterik immun gegen Fakten?› lautet daher: Braucht es Esoterik, um Fakten zu lesen und zu verstehen? Ja, der Mensch braucht gerade auch in Krisenzeiten eine Rückbesinnung auf sich selbst = Esoterik als Erkenntnis seines eigenen Geistwesens, um die Kraft für Spitzenleistung zu haben und mit den Göttern zu kämpfen: «Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.» (Friedrich Schiller, ‹Die Jungfrau von Orleans›)


Illustration: Fabian Roschka

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