RJGH4T Mountains, 1923, by Martiros Saryan (1880 – 1972). Armenian painter, the founder of a modern Armenian national school of painting.

Leid und Hoffnung im Schwarzen Garten

Am späten Abend des 9. November 2020 endete der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan mit einem Paukenschlag. Der sechswöchige Krieg hatte sich in der armenisch bewohnten Region Berg-Karabach abgespielt, die völkerrechtlich Aserbaidschan zugesprochen wird. Die Bedingungen des Waffenstillstands schaffen jedoch keine Grundlage für eine Befriedung.


«… So habe ich im gebirgigen Karabach, / in der raubgierigen Stadt Schuschi / von diesen Ängsten gekostet, / die der Seele innewohnen. / Vierzigtausend tote Fenster dort, / Von allen Seiten einzusehen, / und der Mühen seelenloser Kokon, / auf den Bergen begraben …» Osip Mandel’štam, Juni 1931

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev, der armenische Premier Nikol Paschinjan und der russische Präsident Vladimir Putin unterzeichneten (unter indirekter Beteiligung der Türkei) ein Waffenstillstandsabkommen. Die harschen Bedingungen1 sehen unter anderem den Rückzug der armenischen Streitkräfte aus den armenisch kontrollierten Territorien Berg-Karabachs, die dortige Stationierung russischer Friedenstruppen, Gebietsabtretungen an Aserbaidschan und das Rückkehrrecht für aserbaidschanische Vertriebene des ersten Karabach-Krieges (1992–1994) vor. Keine Erwähnung fanden jedoch die armenischen Vertriebenen, die Aserbaidschan zwischen 1988 und 1990 verlassen mussten, auch nicht die bis zu 100 000 seit dem 27. September neu aus Berg-Karabach geflüchteten Armenierinnen und Armenier. Das Abkommen lässt keine dauerhafte Lösung des Konflikts erkennen und ist zudem auf fünf Jahre beschränkt.

Premier Paschinjan wies darauf hin, dass ihn nach der aserbaidschanischen Einnahme der strategischen Stadt Schuschi (Schuscha) die aussichtslose militärische Situation in Berg-Karabach dazu bewegt habe, das Abkommen zu unterzeichnen. Der 2018 selbst an der Spitze einer Massendemonstration gegen die alte, korrupte Regierung an die Macht gekommene Paschinjan wurde nun in Jerevan mit Massenprotesten, Rücktrittsforderungen und dem Vorwurf des Landesverrats konfrontiert. Russland wurde von erzürnten Armenierinnen und Armeniern vorgeworfen, das Land wegen mangelnder Loyalität und Dankbarkeit dem Kreml gegenüber durch militärische Zurückhaltung bestrafen zu wollen. Unter weiten Teilen der Bevölkerung wurden traumatische Erinnerungen an die Geschehnisse während und nach dem Ersten Weltkrieg 1915 bis 1922 wach: an den von türkischer Seite durchgeführten und bis heute weder von der Türkei noch von Aserbaidschan anerkannten Genozid am armenischen Volk und an die damit verbundene Furcht vor völliger Auslöschung der armenischen Kultur mitsamt ihrer 1600-jährigen Schriftsprache und ihrer noch älteren christlichen Glaubenszeugnisse.

Erbe der Sowjetunion

Vor genau 100 Jahren waren nach kurzer Unabhängigkeit die Grenzen Armeniens und Aserbaidschans (wie auch die Georgiens) von den gleichen Akteuren gezogen worden: von Sowjetrussland und der kemalistischen Türkei. Beide Regime waren damals expandierende, kriegführende Revolutionsmächte, die den Südkaukasus unter sich aufteilten. Beide kämpften ihrerseits um die Wahrung ihrer neu errungenen Herrschaft gegen westliche Militärinventionen. Unter maßgeblicher Federführung der für die Nationalitätenpolitik zuständigen Kommissare Sergo Ordžonikidze und Josef Stalin gestanden die Bolschewiken im Vertrag von Kars vom 13. Oktober 1921 der Türkei zu, dass das umkämpfte Berg-Karabach als ein ‹Autonomes Gebiet› Aserbaidschan angegliedert werden würde. Aserbaidschan mit seiner mehrheitlich schiitischen, Aserbaidschan-Türkisch sprechenden Bevölkerung war bereits zwangssowjetisiert. Die schon bestehenden ethnischen und politischen Rivalitäten unter den Völkern des Südkaukasus glaubten die Bolschewiken durch ideologische Umerziehung ausmerzen zu können.

Doch letztlich wurde der Zerfall der Sowjetunion nach Beginn der Reformen Michail Gorbatschows gerade durch die Nationalitätenfragen beschleunigt, die in vielen Teilen des Sowjetimperiums weiterschwelten: Schon seit 1988 forderte die armenische Regierung von den Moskauer Parteibehörden, dass das seit über einem Jahrtausend armenisch besiedelte Berg-Karabach2 an die armenische Sowjetrepublik übertragen werde. Als Reaktion auf die armenischen Bestrebungen kam es in verschiedenen Städten Aserbaidschans zu antiarmenischen Unruhen, die manchen Beobachtern ‹von oben› organisiert schienen. In den aserbaidschanischen Städten Sumgait, Kirovabad (Gandscha) und Baku geschahen zwischen 1988 und 1990 Pogrome und Massaker an der armenischen Lokalbevölkerung. Auf diese Weise wurden noch vor der Auflösung der Sowjetunion an die 350 000 Armenierinnen und Armenier gewaltsam aus Aserbaidschan vertrieben.3 Dies weckte die armenische Erinnerung an den Genozid von 1915 und die verheerenden Massaker von Baku 1918 und Schuschi 1920.

Die ethnischen und politischen Rivalitäten unter den Völkern des Südkaukasus glaubten die Bolschewiken durch ideologische Umerziehung ausmerzen zu können.

Sofort nach dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der alten Sowjetrepubliken 1991/92 erklärte die Region Berg-Karabach ihren Austritt aus dem Staatsgebiet Aserbaidschans und ihre Unabhängigkeit als Republik Arzach. Das entsprechende Referendum vom 10. Dezember 1991 wurde von der aserbaidschanischen Minderheit in Berg-Karabach boykottiert, die damals rund 22,8 Prozent ausmachte. 99,8 Prozent der armenischen Mehrheit stimmten dafür. Die Republik Arzach ist bis heute nicht international anerkannt. Es kam zum Krieg, in dem armenische Streitkräfte die Kontrolle über Berg-Karabach und sieben angrenzende ‹Puffer›-Distrikte übernahmen. Diesmal wurden an die 750 000 Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner aus ihren Siedlungen in Karabach vertrieben.

In den Bergen, Martiros Saryan, 1923

Aufrüstung und Bündnisse

Mit dem Waffenstillstand vom 9. November 2020 wurden die als «Rückeroberung und Befreiung» bezeichneten Erfolge des aserbaidschanischen Militärs festgeschrieben. Die Offensive gelang, weil das autoritär regierte Land einen wesentlichen Teil seiner finanziellen Einnahmen aus dem Energiesektor in die militärische Aufrüstung investiert hatte. Auch vertiefte Baku in den letzten Jahren das ‹brüderliche› Bündnis mit dem NATO-Mitgliedstaat Türkei. Einen besonderen Ausschlag ergab die Verwendung modernster Drohnentechnologie, über die die armenische Seite nicht verfügte. Noch im Frühsommer 2020 erwarb das aserbaidschanische Militär von der Türkei Dutzende bewaffneter Drohnen vom Typ Bayraktar TB2. Aserbaidschan nutzte seine von der Türkei und Israel gekaufte Drohnenflotte ausgiebig, um Armeniens Verteidigung in Berg-Karabach zu zerstören und einen schnellen Vormarsch der eigenen Truppen zu ermöglichen.

Generell werden bewaffnete, mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Drohnen entscheidend für die moderne Kriegsführung. Berg-Karabach war für internationale Beobachter, so könnte man zynisch bemerken, ein großes Versuchslabor, das Investoren profitversprechend bewies, wie kleine und relativ kostengünstige Angriffsdrohnen die Strategie in Konflikten verändern und zugleich die Schwachstellen herkömmlicher Waffensysteme ohne spezifische Drohnenabwehr bloßlegen können.4 Die anonyme und lautlos-präzise Vernichtungsgewalt der Waffensysteme führte unter den armenischen Soldaten zu hohen Verlusten; die entsprechenden Videobilder dienten der psychologischen Kriegsführung. Aserbaidschan veröffentlichte die videospielartigen Clips der Drohnenangriffe täglich auf der Website des Verteidigungsministeriums, auf großen Bildschirmen in der Hauptstadt Baku und online für die Weltöffentlichkeit über Twitter und Youtube. Anders als Armenien sperrte jedoch Baku der eigenen Bevölkerung während des Krieges den Zugang zu sozialen Medien.

Die Türkei half seit Juli 2020 durch gemeinsame türkisch-aserbaidschanische Militärübungen bei der Ausbildung an den Waffensystemen (Raketensysteme, Fahrzeuge, F-16-Kampfflugzeuge, Hubschrauber und TB2-Drohnen). Ferner stationierte man eine Bataillonsgruppe sowie Militärberatende der türkischen Armee auf dem Gebiet Aserbaidschans, die eine leitende Funktion bei der Offensivoperation gegen Berg-Karabach übernehmen sollten.5

Aserbaidschan veröffentlichte die videospielartigen Clips der Drohnenangriffe täglich auf der Website des Verteidigungsministeriums, auf großen Bildschirmen in der Hauptstadt Baku und online für die Weltöffentlichkeit über Twitter und Youtube.

Wie zuvor im Bürgerkrieg in Libyen, organisierte die Türkei seit Sommer 2020 den Lufttransport von Söldnern. Er erfolgte von türkischem Boden über Georgien nach Aserbaidschan, was darauf hindeutet, dass der Angriff auf Berg-Karabach von langer Hand geplant wurde. Drei Gruppen kaukasischer Dschihadisten trafen bereits im Juli in Aserbaidschan ein. Es handelte sich um Angehörige von Ajnad al-Kavkaz, der im Norden Syriens (Nordlatakien und Idlib) aktiven islamistischen, von Tschetschenen dominierten Salafistengruppe des Kaukasus. Sie kämpfte dort gegen die Assad-Regierung sowie deren russische und schiitisch-iranische Verbündete. Das eigentliche Ziel der Gruppe ist jedoch, die Präsenz Russlands im Nordkaukasus zu beseitigen, um dort einen streng islamischen Staat aufzubauen. Ab Anfang September warben die türkischen Sicherheitskräfte mindestens 2000 syrische Kämpfer an, darunter viele syrische Turkomanen, die aus bewaffneten Gruppen der Sultan-Murad-Division, der Hamza-Brigade oder der von der Türkei (und den USA) unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) rekrutiert wurden. Weiter wurden syrische Zivilisten dazu aufgefordert, angesichts der miserablen wirtschaftlichen Situation in den Lagern des türkisch kontrollierten Afrin-Gebiets das ‹türkische Angebot› auf Entlohnung anzunehmen, auch wenn sie noch nie zuvor eine Waffe getragen hatten. Der Erstflug dieser Söldner nach Aserbaidschan erfolgte am 22. September 2020, fünf Tage vor Kriegsbeginn. Sie dienten der aserbaidschanischen Offensive in Berg-Karabach an vorderster Front als ‹Kanonenfutter›.6

In den Medien Russlands wie auch des Irans wurde ausführlich kommentiert, dass nun jene sunnitischen, islamistischen Dschihadisten, die sich seit Beginn der Offensive auf aserbaidschanischem Boden befinden, eine direkte Gefahr für die angrenzenden Nachbarländer darstellen. Es sei zu befürchten, dass sie über die Landesgrenzen in den russischen Nordkaukasus und in den turksprachigen Nordiran einsickern könnten.7

Im Norden Syriens, vor allem in der Aleppo-Region, lebten bis zum Beginn des syrischen Bürgerkriegs an die 100 000 Armenierinnen und Armenier, oftmals Nachkommen von Überlebenden des türkischen Völkermords 1915. Nach 2012 brachen während der Schlacht von Aleppo erneut Verfolgung und Vertreibung über die lokale armenische Gemeinschaft herein. Sie wurde von den al-Qaida nahestehenden Dschihadisten (al-Nusra-Front etc.) wie alle anderen Christen Syriens als loyal gegenüber der alawitischen Assad-Regierung und damit als Gegner eingestuft, die es zu beseitigen galt. Über 16 000 armenische Flüchtlinge wurden in der Folge bis 2015 von Armenien und Berg-Karabach aufgenommen.8 Doch nun, im Herbst 2020, standen diese Geflüchteten in Berg-Karabach wiederum Dschihadisten gegenüber – ein neuerlicher Schlag auf die seit dem Völkermord unverheilte traumatische Wunde.

Die Haltung Israels

Eine weitere Tragik des Berg-Karabach-Konflikts liegt in der Tatsache, dass umfangreiche Waffenexporte an Aserbaidschan ausgerechnet vonseiten Israels erfolgten. Aserbaidschan ist seit den 1990er-Jahren für Israel zu einem wichtigen Lieferanten von Rohöl geworden, zudem drittstärkster Käufer israelischer militärischer Hardware, wie Harop-Kamikaze-Drohnen und modernste Radarsysteme. Noch nach Beginn des Krieges in Berg-Karabach beförderten Maschinen der aserbaidschanischen Silk Way Airlines Waffenlieferungen über den Luftraum der Türkei und Georgiens von Tel Aviv nach Baku.9 Israel betrachtet Aserbaidschan als einen sehr wertvollen Verbündeten; so bemerkte Israels Außenminister Avigdor Lieberman bei seinem Besuch in Baku im April 2012: «Aserbaidschan ist für Israel wichtiger als Frankreich.» Und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijev beschrieb die Beziehung andersrum wie einen Eisberg: «Neun Zehntel davon befinden sich unter der Oberfläche.»10

Strategisch ist Aserbaidschan, das im Süden an den Iran angrenzt, für Israel wichtig: Der Staat bildet einen ‹geopolitischen Isthmus› zu der von Israel unterstützten ‹Verwirklichung der Vision eines neuen Commonwealth der ‚türkischen Welt‘›. Dies soll ein expansives Vordringen des Irans verhindern. Als ‹Hintertür› zum Nachbar Iran dient es Geheimdiensten wie Mossad bereits als Ausgangsbasis für verdeckte Operationen.11

Trotz der eigenen leidvollen Erfahrung der Schoah und trotz der Besetzung der palästinensischen Gebiete – für die die Regierung Netanjahu Kritik wie die Erdoğans12 stets scharf zurückwies – hat sich Israel aus Rücksichtnahme auf die Reaktionen in Ankara und Baku bislang geweigert, den Völkermord an dem armenischen Volk anzuerkennen.13 Einer aserbaidschanischen Nachrichtenagentur gegenüber äußerte Yosef Shagal, ein in Aserbaidschan geborener ehemaliger Parlamentarier der israelischen Knesset, in einem Interview 2008: «Ich finde die Versuche einiger Historiker zutiefst beleidigend und sogar blasphemisch, den Holocaust des europäischen Judentums während des Zweiten Weltkriegs mit der Massenvernichtung des armenischen Volkes während des Ersten Weltkriegs zu vergleichen. Der Grund für die rücksichtslose Ausrottung von sechs Millionen Juden war allein, weil sie Juden waren. Punkt! […] Was die Ausrottung von eineinhalb Millionen Armeniern betrifft, so sieht das Bild hier grundlegend anders aus: Die türkischen [sic! d. h. osmanischen] Armenier strebten nach Staatlichkeit und nationaler Unabhängigkeit und stellten sich auf die Seite des russländischen Reiches, das gegen die Türkei [sic! das Osmanische Reich] kämpfte. Wofür sie bezahlt haben – und das ist unbestritten! – ein sehr teurer Preis. […] Ich respektiere die Trauer des armenischen Volkes zutiefst, lehne aber gleichzeitig in diesem Zusammenhang alle Parallelen zum Holocaust des europäischen Judentums kategorisch ab!»14

Dies ist eine befremdliche Aussage, die die türkisch-aserbaidschanische Propaganda des kollektiven Verrats des armenischen Volks im Ersten Weltkrieg und dessen ‹konsequenter Bestrafung› übernimmt. Man kann sie an den Sätzen Adolf Hitlers spiegeln, die er auf der Geheimrede am 22. August 1939 äußerte: «So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?»15

Die Hunde von Konstantinopel, Martiros Saryan, 1910

Sozialdarwinismus und Völkermord

Die heutigen Gedankenformen, mit denen diese Hassregister gerechtfertigt werden, entspringen den politischen und wissenschaftlichen Vorstellungen, die die Welt nach 1879 schon in den Ersten Weltkrieg getrieben hatte.16 Einerseits die fixe Idee der Allmacht des Einheitsstaates, dessen Gedeihen von einer homogenen Gesellschaft und ihrer ererbten Identität abhängt. Andererseits aber auch die der effizient verwalteten Neoimperien, die ihre Herrschaft festigen, indem ethnische, religiöse oder soziale Spannungen gegeneinander ausgespielt werden. Der dadurch polarisierte Hass der Gruppen auf- und untereinander verschleiert die übergeordneten Machtverhältnisse.

Das Osmanische Reich war vor dem Ersten Weltkrieg wie Österreich-Ungarn oder das zaristische Russland faktisch ein plurireligiöses Vielvölkerreich. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Emanzipationsbestrebungen nicht nur der einzelnen Menschen, sondern auch die innerhalb verschiedener Gemeinschaften. Für Rudolf Steiner waren Nationalimpuls und Persönlichkeitsimpuls in der Neuzeit zwei Kräfte derselben nach Autonomie strebenden menschlichen Kraft der Bewusstseinsseele, die ihre Hüllen abstreift. Aber dieser Bewusstseinsseelen-Impuls wirkte wie ein ‹Zauberlehrling›. Der Umgang mit diesen innermenschlichen Kräften verlangt ein spirituell durchdrungenes Verständnis, um sich nicht in zerstörerischer Weise zu verselbständigen und einem sich immer stärker zersplitternden Egoismus des Einzelnen wie des Kollektivs, dem «Krieg aller gegen alle», zu dienen.17

Der Siegeszug westlicher Naturwissenschaft und Technik stellte die osmanischen Reichseliten während der Reformphase des Tanzimat (1839–1876) vor die Frage, auf welche Weise sich das Reich modernisieren oder gar säkularisieren ließ. Seit 1876 strebten Gruppierungen junger Intellektueller nach liberalen Reformen und einer konstitutionellen Staatsform. Im Ausland wurden sie schnell ‹Jungtürken› genannt, obwohl sie sich nicht nur aus ethnischen Türken zusammensetzten. Und auch die Teile der osmanischen Bevölkerung mit arabischer, kurdischer, griechischer und armenischer Herkunft entwickelten nationalistische Träume.

Durch ihr Studium an deutschen, französischen oder britischen Universitäten entdeckten die Intellektuellen ‹moderne›, säkulare Ideologien – darunter die bitteren Früchte der materialistischen naturwissenschaftlichen Sozialtheorien, des Marxismus, des Biologismus und des Sozialdarwinismus. Diese wollten sie auf ihre Heimat übertragen und an die Stelle des alten, im Islam wurzelnden religiösen Zusammenhalts setzen.18

Die wachsende finanzielle Abhängigkeit des Osmanischen Reichs vom Westen bot den Großmächten eine Möglichkeit, die ‹Orientalische Frage› im Sinne der eigenen Machtinteressen zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang wurden auch die aus Europa stammenden Theorien des Panturkismus und Panturanismus im Osmanischen Reich gefördert. Die Türken sollten unter Führung des Osmanischen Reichs eine Bewegung unter den Turkvölkern Russlands ins Leben rufen, die zu einer politischen Einigung ‹Turaniens› vom Altaigebirge bis zum Bosporus führen könne, um das Zarenreich zu destabilisieren. Derartige Ideen vertrat in Konstantinopel etwa der ungarisch-jüdische Philologe und Forschungsreisende Ármin Vámbéry (Hermann Vamberger, 1832–1913) als Agent des britischen Foreign Office.19

Nationalimpuls und Persönlichkeitsimpuls in der Neuzeit zwei Kräfte derselben nach Autonomie strebenden menschlichen Kraft der Bewusstseinsseele, die ihre Hüllen abstreift. Aber dieser Bewusstseinsseelen-Impuls wirkte wie ein ‹Zauberlehrling›.

Türkische Denker wie Yusuf Akçura entwickelten daraus die Grundlagen eines rassebetonten Nationalismus. Akçura und andere forderten, sich vom Westen zu inspirieren, um die nötigen technologischen Rückstände nachzuholen. Begriffe wie Staat, Nation, Rasse, Millî İktisat (Volkswirtschaft) und Gesellschaft sowie ihre positivistische und insbesondere evolutionistische Übersetzung bei gleichzeitiger Ablehnung der alten religiösen Werte des Islams wurden zum täglichen Brot der neuen, ‹jungen› Türken.20

Dazu gesellte sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs die militärische Kooperation zwischen Berlin und Konstantinopel, in deren Verlauf das osmanische Militär nach dem Muster des preußisch-deutschen Modells umgebildet wurde. Von den entsandten deutschen Offizieren wie Colmar von der Goltz konnte man erfahren, dass Zwangsumsiedlungen (‹Bevölkerungsaustausch›) und ‹wohldurchdachte und gut vorbereitete innere Kolonisation› bei einer Befriedung des Reichs unschätzbare Dienste leisten würden.21

Im Rückblick erscheint natürlich überdeutlich, welcher Art die Impulse hätten sein müssen, die aus dem Deutschen Reich an den Bosporus vermittelt wurden. Anstelle von Militär und Industrie hätte Kultur und Wissenschaft mit einem spiritualisierten Menschenbild, für das im deutschen Idealismus Grundlagen geschaffen worden waren, gänzlich andere Wirkungen verbreitet. Doch über der preußisch-deutschen Einflussnahme lastete bis zu den Geschehnissen des Ersten Weltkriegs der Schatten des Ökumenischen Konzils von 869/70.

Konkrete Planungen ‹ethnischer Säuberung› zur Schaffung eines künftigen homogenen Nationalstaats – sozialdarwinistisch, rassistisch und biologistisch argumentierend –, der bis zu sechs Prozent Minderheiten ‹assimilieren› (das heißt turkisieren) könne, waren seit 1914 aufseiten der jungtürkischen intellektuellen Elite in vollem Gange.22 Sie schufen die theoretische Grundlage, die jungtürkische Politiker und Militärs seit Frühjahr 1915 zu Massendeportationen, Todesmärschen und kalkuliertem Völkermord von bis zu 1,5 Millionen Menschen hinreißen ließ. Opfer war die armenische, aber auch assyrische Bevölkerung. Es traf damit die Menschen jener Kulturen, zu denen das Christentum bereits im ersten Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha gedrungen war.

Deutsche Beobachter dieses Geschehens meldeten nach Berlin, wo man sich aus Rücksicht auf den Kriegsverbündeten in Schweigen hüllte: «Auch die Mollahs sagen in den Moscheen, nicht die Hohe Pforte, sondern die deutschen Offiziere hätten die Misshandlung und Vernichtung der Armenier angeordnet. Die Dinge, die hier jedermann seit Monaten vor Augen hat, bleiben in der Tat ein Schandfleck auf dem Ehrenschilde Deutschlands im Gedächtnis der morgenländischen Völker. […] Es ist eine Gewissenspflicht, diese Dinge zur Sprache zu bringen. […] Das Ziel der Deportation ist die Ausrottung des ganzen armenischen Volkes.»23

Das sich aktuell wiederholende weitgehende Schweigen der offiziellen Bundesrepublik, ja des offiziellen Europa, über die Vorgänge in Berg-Karabach sorgt in Armenien nicht zuletzt vor diesem Hintergrund für tiefe Enttäuschung und Entrüstung.

Meine Familie, Martiros Saryan, 1929

Von Sèvres nach Lausanne: Atatürks Revolution vor 100 Jahren

Aber auch die heutige Türkei hat die Versuche der Aufteilung des Osmanischen Reichs nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg keineswegs vergessen. Neoosmanische24, imperiale Ambitionen und die Rückbesinnung auf traditionelle religiöse Werte wuchsen unter der immer autoritäreren Präsidentschaft Recep Erdoğans in dem Maße, wie dem Land eine reelle Perspektive auf einen Beitritt zur Europäischen Union versagt blieb.

Im Friedensvertrag von Sèvres (August 1920) wurde das Osmanische Reich unter den alliierten europäischen Siegermächten annektiert und zerteilt. us-Präsident Woodrow Wilson hatte für die 1917/18 neu entstandene Demokratische Republik Armenien sogar Grenzen vorgesehen, die Teile des alten historischen Siedlungslands in Ostanatolien umfassten (das am stärksten vom Genozid betroffen gewesen war). Doch Mustafa Kemal (später Atatürk genannt) sammelte die osmanische Armee zum Aufstand gegen die Kapitulation von Sèvres. Er begann den nationaltürkischen Unabhängigkeitskrieg, der bis 1923 die Grenzen der heutigen türkischen Republik schuf. Dazu erfolgten im Osten Atatürks Grenzabsprachen mit den bolschewistischen Revolutionären, die von Norden kommend der Unabhängigkeit der kaukasischen Völker ein vorläufiges Ende bereiteten.

Um die Bevölkerung des neuen Nationalstaats durch Turkisierung nach positivistischer Methode ‹assimilieren› und separatistische Forderungen kontrollieren zu können, führte Atatürk die ‹ethnischen Säuberungen› der Jungtürken weiter. Mit der Aussiedlung von 250 000 Menschen bulgarischer Abstammung aus der Türkei, Griechenland, dem Königreich Jugoslawien und Rumänien sowie der Aussiedlung von mehr als einer Million Griechinnen und Griechen aus Kleinasien und von 400 000 Türkinnen und Türken aus Griechenland in das jeweilige Mutterland setzte er mit Zwang eine Politik durch, die im Namen des ethnischen Kollektivs und seines fiktiven ‹Selbstbestimmungsrechts› alle individuellen Menschenrechte mit Füßen trat. Der neu gegründete Völkerbund billigte dies, weil dadurch die ‹ethnische Homogenität› der jeweiligen Länder gefördert würde.

Der Flüchtlingskommissar des Völkerbunds, Fridtjof Nansen, formulierte auf der Konferenz von Lausanne im Namen der vier Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan) am 1. Dezember 1922, «dass die Entmischung der Bevölkerungen des Nahen Ostens die wahre Befriedung des Nahen Ostens garantieren wird […] und dass der Bevölkerungsaustausch der rascheste und wirksamste Weg ist, um mit den schweren ökonomischen Folgen fertigzuwerden, die sich aus der großen Bevölkerungsbewegung, die bereitseingesetzt hat, ergeben.»25

Zum ‹Austausch› der Völker als Kollektiv sollte sich alsbald auch die kollektive ‹Bestrafung›, ja die kollektive Vernichtung gesellen. Es entspringt derselben Gedankenform: Menschen wurden zu Tierherden, die man von einem Ort zum anderen treiben konnte, die einen statistisch erfassbaren ‹Stempel› (ethnische Zugehörigkeit, Sprache, Religion) erhielten. Die Entfesselung triebhafter Nationalismen war nur ein Teil dieses Phänomens. Auf der anderen Seite gab es Stäbe von Sozialwissenschaftlern, Anthropologen, Ethnologen, Historikern, Wirtschaftswissenschaftlern und anderen Experten, die genau ausgearbeitete Pläne vom Reißbrett lieferten. Hier handelte es sich um langfristig geplante, aufgeklärt-rationalistisch durchdachte und logistisch organisierte Blaupausen. Das entfesselte, gewissermaßen sexualpathologische Triebleben vermählte sich mit präziser intellektueller Eiseskälte, der jede Form von Mitgefühl oder Empathie wesensfremd ist. Mit derselben Kälte wurden Grausamkeiten bewusst ins Kalkül gezogen und Leidenschaften notfalls künstlich hochgeputscht, denn man hatte nicht umsonst bei Gustave Le Bon in seiner Schrift ‹Psychologie der Massen› (1895) nachgelesen, wie ein ‹Führer› mit den ‹Triebkräften› der Massen gezielt arbeiten könne.26

Einer dieser Triebe ist darauf gerichtet, dasjenige, «was sich als Mensch kundgibt, nur äußerlich anzuschauen, nur so anzuschauen, wie es sich äußerlich in die Welt hineinstellt». Nicht das innerlich Individuell-Seelische, sondern allein die körperliche Hülle der äußeren Erscheinung zählt in diesem Nationalismus, der den Menschen «so ausgestalten will im Leben, dass er nur noch als Angehöriger der Nationalität aufgefasst wird, nicht seinem Inneren nach […]. Dadurch würde die Erdenmenschheit immer mehr und mehr sich innerhalb nationaler Grenzen abschließen, und es würde in der Zukunft niemals diese nationale Grenze überschritten werden können.»27

Das Opfertrauma

Wie im übrigen Europa wurde zugleich auch die Geschichtswissenschaft in den Dienst rein staatlich-zentralistischer, parteilicher oder ideologischer Absichten gezwungen. Geschichte konnte entweder als ein Mittel der Verteidigung und Untermauerung bestehender Herrschaftsansprüche, der Rückprojektion nationalstaatlicher oder gar rassistischer Fantasien oder aber als Waffe im nationalen Freiheitskampf interpretiert und gebraucht werden. Geschichtsschreibung diente als ein wichtiges Instrument der Manipulation und Kontrolle kollektiver Erinnerung. Denn mit der Erinnerung ist zugleich der Prozess der Selbstbewusstwerdung verbunden. Geschichtsschreibung bedeutet nicht zuletzt, sich eine Art von ‹Gedächtnis› zu schaffen, um auf diese Weise die eigene Identität er-, begreifen und fortsetzen zu können.

Geschichtsschreibung diente als Instrument der Manipulation und Kontrolle kollektiver Erinnerung. Denn mit der Erinnerung ist zugleich der Prozess der Selbstbewusstwerdung verbunden.

In Armenien ist das Gedenken an den erlittenen Völkermord ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Identität und des Zusammenhalts. Auf den berühmten armenischen Kreuzsteinen, den Chatschkaren, wird der tote Stein in der künstlerischen Gestaltung spirituell durchdrungen und belebt; das Kreuz erstarrt nicht im Mineralischen, sondern ersteht in rhythmischen Licht- und Wasserwellen als blütentragender Weinstock verwandelt wieder auf. So darf auch eine fruchtbare gesellschaftliche Identität nicht allein mit dem Blick auf das Todesleid gebannt bleiben, sondern muss innermenschliche Auferstehungskräfte suchen und pflegen. Dies ist schwer zu verwirklichen, wenn immer wieder politische Situationen entstehen, die alte Traumata neu aufsteigen lassen.

Wie in der kemalistischen Türkei, spielt auch im postsowjetischen Aserbaidschan der Völkermord für die nationale Identität eine wesentliche Rolle – unter umgekehrten Vorzeichen. Unter Heydar Aliyev (Präsident 1993–2003) und seinem Sohn und Nachfolger İlham entstand in Aserbaidschan ein autoritär geführter, repressiver Staat, der durch die Erschließung riesiger Öl- und Gasreserven in den 80er- und 90er-Jahren über üppige finanzielle Mittel verfügt. Schon Mitte der 90er-Jahre wurden westliche Unterstützer und Lobbyisten wie der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski für große Energieprojekte gewonnen, die Gas und Öl unter Umgehung Russlands in Richtung Türkei leiten sollten (Bsp.: Baku-Tbilisi-Ceyhan-Pipeline).

Neben dem Personenkult der Alijevs nutzt die staatlich konstruierte Identität zum großen Teil das Narrativ, dem zufolge das umkämpfte Aserbaidschan einer ständigen Opferrolle unterliege, für die historisch Armenien und das armenische Volk (verschworen mit den Russen) die Hauptverantwortung trügen.28 Stärker noch als in der Türkei, weigert sich die aserbaidschanische Elite, den Völkermord von 1915 anzuerkennen. Stattdessen werden die Armenierinnen und Armenier zu nationalistischen, ja terroristischen Verrätern stigmatisiert, zu willigen Werkzeugen des russischen Imperialismus, die 1915 den Fortbestand des Osmanischen Reichs gefährdeten. Zudem seien hauptsächlich sie 1918 für die Massaker an der muslimischen Bevölkerung im Südkaukasus zur Rechenschaft zu ziehen.

Diesen problematischen Streit um die ‹Nationalisierung› von Massenmorden in der jüngeren Geschichte, das Auftürmen von wechselseitigen Abrechnungen der Hassregister ist leider auch aus anderen Regionen des postsowjetischen Raums bekannt. In der Bekämpfung des armenischen Opferdiskurses wurde in Aserbaidschan ein polarer Anti-Opferdiskurs entwickelt. Dabei wird auch behauptet, dass die christlichen Länder des Westens Armenien nur unterstützen, weil sie dem Islam feindlich seien. In der aserbaidschanischen Geschichtsschreibung wurden Theorien konstruiert, wonach türkische Aserbaidschaner die legitimen Ureinwohner der alten aserbaidschanischen ‹Staaten› sind und dass Armenier aus dem Iran und Anatolien von den Russen erst im frühen 19. Jahrhundert absichtlich in der Region angesiedelt worden seien.29 Jeder Ausländer, der einer solchen Haltung widerspricht, läuft Gefahr, als armenischer Agent bezichtigt zu werden.

Doch wie in der Türkei gibt es in Aserbaidschan sehr wohl alternative Stimmen, die jedoch Drohungen und Repressionen ausgesetzt sind. Der Fall des Schriftstellers Akram Aylisli ist ein gutes Beispiel. Aylisli war als Volksautor respektiert und von 2005 bis 2010 sogar Abgeordneter. Das änderte sich, als er im Dezember 2012 den Roman ‹Steinerne Träume› in einer russischen Literaturzeitschrift veröffentlichte. Der Roman schildert die Pogrome von Sumgait aus der Perspektive zweier aserbaidschanischer Figuren, die versuchen, ihre armenischen Nachbarn zu retten. Schon dieser kleine Versuch, Brücken zwischen Nachbarn zu bauen, wurde vom aserbaidschanischen Establishment heftig angegriffen: Aylisli verlor seinen Titel und seine finanziellen Privilegien, seine Familienmitglieder ihre Arbeit. Es wurden Demonstrationen organisiert, an denen Personen teilnahmen, die den Roman nicht einmal gelesen hatten. Hafiz Haciyev, Vorsitzender der regierungsnahen Partei Muasir Musavat, setzte eine Belohnung dafür aus, Aylisli die Ohren abzuschneiden.30

‹Lichter und dunkler Bruder› treffen nicht mehr nur äußerlich aufeinander, sondern vor allem in der innermenschlichen Seelenwelt.

All diese historisch weit zurückreichenden und tief verwickelten Spannungen, die sich in vielen Krisen der Gegenwart entladen, verlangen nach grundlegend neuen Formen sozialer Gestaltung. Weder der unitaristische Nationalstaat noch der sozialdarwinistische Wettbewerb der heutigen kommerziellen Neoimperien in West und Ost können zu einer nachhaltigen Befriedung und Wandlung beitragen, solange der kulturelle und ethnische Reichtum von Kulturräumen wie dem Südkaukasus nur als ‹Cordon sanitaire› der Blutgrenzen geopolitischer Einflusszonen betrachtet wird.31 «Während von Westen her der Osten und Mitteleuropa nur gemacht werden sollen zu einem großen Konsumtionsgebiet für eine produzierende Welt des Westens, wird nicht nur die Auflehnung des konsumierenden Proletariats von Osten gegen Westen strahlen, sondern vor allen Dingen die unruhige Welle des Blutes. Blut und Nerven könnte man auch dasjenige nennen, was in die Welt hineinkommt und was verstanden sein will, was mit dem Verständnis bewältigt werden will.»32

Rudolf Steiner umriss dem gegenüber die Notwendigkeit der Befreiung des Kultur- und Geisteslebens: «Die politischen Grenzen dieses Einheitsstaates [durften] von einem gewissen Zeitpunkte an keine Kulturgrenzen sein […] für das Völkerleben. Wäre eine Möglichkeit vorhanden gewesen, dass das auf sich selbst gestellte, von dem politischen Staate und seinen Grenzen unabhängige Geistesleben sich über diese Grenzen hinüber in einer Art hätte entwickeln können, die mit den Zielen der Völker im Einklange gewesen wäre, dann hätte der im Geistesleben verwurzelte Konflikt [des Weltkrieges] sich nicht in einerpolitischen Katastrophe entladen müssen.»33

Iran, Turan und die Kraft der Verwandlung

Der gesamte Südkaukasus – Armenien, Aserbaidschan, aber auch Ostgeorgien (Kartli) – wurde jahrhundertelang stark geprägt von der persischen Kultur und der Religion Zarathustras, der Lehre von Licht und Finsternis. Auch der Name Āzarbāijān (Āturpātākān) ist eigentlich persischen Ursprungs und bezeichnete als eine persische Reichsprovinz das gesamte Gebiet von den Südosthängen des Kaukasus bis zum Ostufer des Urmia-Sees. Dort siedelten allmählich neben kaukasischen auch iranische Stämme wie die Alanen und turkische wie die Chazaren. Rom und Iran rangen in jahrhundertelangen Kriegen um die Vorherrschaft in diesen Gebieten. Das Königreich Armenien bildete ein begehrtes Herzland in dem Hegemoniestreben beider Rivalen. Doch um die Zeitenwende ging ein neuer Stern auf, den Zarathustra bereits prophezeit hatte. Seine Strahlkraft gelangte früh und dreigliedrig in die Landschaften des Südkaukasus, formte drei Christenheiten aus, die viel von dem tieferen spirituellen Impuls der zoroastrischen Lehre in sich trugen: die armenische, die (alanisch-)albanische (auf dem Boden des heutigen Staates Aserbaidschan) und die georgische.

Armenien, Martiros Saryan, 1923

Auch die nomadischen Turkstämme, die seit den Seldschuken in den folgenden Jahrhunderten in den Südkaukasus und das iranische Hochland drangen, nahmen sehr schnell die persische Kultur und Literatursprache an, aber in Gestalt des Islams. Ferdowsi erzählte um 1000 in seinem Epos ‹Schāhnāme› die zoroastrische Mythe vom Urkampf der Reiche zweier Brüder, Iradsch und Tur, von Iran und Turan, von Licht und Finsternis. Ursprünglich waren die Turaner in ihrem Wesen ‹verdunkelte Iraner›34, also Menschen, die aus der lichtgöttlichen Sphäre Ahura Mazdās gefallen und sich willentlich dem Dienst Ahrimans verschrieben hatten. Dieser Anschauung lag in ihrem Kern keine geburtliche Vorherbestimmung zugrunde, die den Menschen aufgrund seiner körperlichen Abstammung festzulegen suchte. Vielmehr wurden die Turaner erst zu Dienern des Ahriman, als sie sich nicht um die Verwandlung und Durchlichtung der Erde mühen wollten, sondern im Gegenteil auf ihren Raubzügen die geleistete Kulturarbeit zerstörten und das Land veröden ließen.

Von zentraler Bedeutung ist der Umstand, dass sich im Durchgang durch das Mysterium von Golgatha die geistige Wesenssubstanz, die sich hinter dem Mythos verbirgt, aus der Offenbarung im Raum immer mehr in die Offenbarung des individuellen menschlichen Inneren verlagerte. ‹Lichter und dunkler Bruder› treffen nicht mehr nur äußerlich aufeinander, sondern vor allem in der innermenschlichen Seelenwelt, den «zwei Seelen in der Brust» Goethes.

‹Iran und Turan› bezeichnen folglich nicht länger fest umrissene soziale Menschengemeinschaften wie in der älteren Zeit, sondern wurden Wesensqualitäten individueller menschlicher Gesinnung. Der Kampf zwischen beiden spielt sich für den heutigen Menschen in seinem ureigenen Inneren ab, als Ringen zwischen aufbauend-heilenden und destruktiven Kräften, Neigungen und Trieben, die das menschliche Wachbewusstsein in ihrer Qualität erkennen und in sich zulassen bzw. abweisen sollte. Aus diesem Grund kann man die duale Gegensätzlichkeit nicht mehr einseitig auf äußere soziale Verhältnisse projizieren, sie gar mit einer bestimmten Volksgruppe oder einer Religion identifizieren.35

Zum Künstler

Martiros Saryan lebte von 1880 bis 1972 und war einer der berühmtesten Maler Armeniens. Nahe am Don geboren, studierte er in Moskau Malerei und reiste durch die kaukasischen Ländern, den Iran, Ägypten und kam in Jerewan zur Ruhe. Seine Werke verbinden Licht und die Kraft der Farbe, um den Gegenstand für das Geistige durchlässig zu machen.

In dem allmählichen Verstehen dieser gemeinschaftlichen Grundlage der südkaukasischen Welten und der darin verborgenen spirituellen Aufgabe, der heilenden Wandlung des eigenen Wesens, liegt ein Keim einer hoffnungsvolleren Zukunft. Dieser lichte Keim wurde von dem großen Menschheitslehrer gepflegt, der gleichfalls kaukasische Wurzeln hatte36 und in dem Weltenkreuz zwischen den vier Meeren (Schwarzes und Kaspisches Meer, Persischer Golf und Östliches Mittelmeer) zur Welt kam: Mani.

In der Zeit um 1200 dichtete Wolfram von Eschenbach seine Gralsgeschichte, in der von den Schicksalen der beiden Halbbrüder Parzival und Feirefiz berichtet wird. Im fernen kaukasischen Arran, in der Stadt Gandscha (heute in Aserbaidschan, bis 1918 türkisch und armenisch bewohnt) dichtete währenddessen sein Geistesbruder, der große muslimische Dichter kurdisch-iranischer Abstammung Nezāmī, in persischer Sprache die Verse:

«Alle Wunder, die bestehen, sind hier bei (spirituellem) Wein versammelt: / Muslime, Armenier, zoroastrische Magier, Nestorianer, Juden. / Suchst Du Gemeinschaft mit allem, was hier zu finden ist, / Musst Staub Du werden auf den Füßen (Wanderungen) eines jeden, um Dein eigenes inneres Geistwesen zu finden.»37

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Footnotes

  1. «Zajavlenie Prezidenta Azerbajdžanskoj Respubliki, Prem’er-ministra Respubliki Armenija i Prezidenta Rossijskoj Federacii», 10. November 2020
  2. Berg-Karabach ist Teil der größeren Landschaft von Karabach zwischen den Flüssen Kura und Araks, die sich über die heutigen Staatsterritorien Armeniens und Aserbaidschans erstreckt. Der seit dem 13. Jahrhundert nachweisbare Name Karabach setzt sich dem türkischen Wort für ‹schwarz› (kara) und dem persischen Wort für ‹Garten› (bāgh) zusammen. Bereits in den Jahrhunderten zuvor tauchte der ‹gebirgige schwarze Garten› unter der Bezeichung Arzach (Arc’ax) oder auch Chatschen in den Quellen als eigenständiges christliches Königreich auf. Von dieser frühen Zeit zeugt etwa das erstmals im 9. Jahrhundert erwähnte Kloster Dadivank. In der lokalen Tradition heißt es, es sei schon im 1. Jahrhundert durch den heiligen Dadi gegründet worden, einen Schüler des Apostels Thaddäus, der im ersten Jahrhundert nach Christus das Christentum auch nach Arzach verbreitet haben soll.
  3. Das Massaker von Sumgait gilt als «die allererste Massengewalt der späten Sowjetzeit» (Thomas de Waal: Black Garden. Armenia and Azerbaijan through Peace and War. New York University Press, 2003, S. 31). «Sumgait hat uns sehr stark beeinflusst. […] Es war, als würde man Salz auf unsere Wunden streuen. Wir hatten bereits Komplexe in Verbindung mit dem Völkermord von 1915, mit unserer früheren Geschichte, und Sumgait machte uns klar, dass die Sowjetunion keine Schutzgarantie gegen neue Massaker bot.» Der armenische Politiker Vazgen Manukjan, Jerevan, 18. Dezember 2004. Vicken Cheterian: The Uses and Abuses of History. Genocide and the Making of the Karabakh Conflict, in: ‹Europe-Asia Studies› 70 (2018), S. 884–903, hier S. 893.
  4. Azerbaijan’s drones owned the battlefield in Nagorno-Karabakh – and showed future of warfare. ‹The Washington Post›, 11. November 2020; The Fight For Nagorno-Karabakh: Documenting Losses on The Sides Of Armenia and Azerbaijan. Oryx Blog, 27. September 2020
  5. Prinuždenie k konfliktu. Istočniki rasskazali, kak Turcija gotovila počvu dlja obostrenija v Nagornom Karabache. ‹Kommersant›, 16. Oktober 2020; Turkey transferred six F-16 fighters, twenty TB2 drones and eight T-129 attack helicopters to Azerbaijan. ‹Global Defense Corp›, 22. Oktober 2020.
  6. Hierzu der reich dokumentierte Report von Syrians for Truth and Justice: Government Policies Contributing to Growing Incidence of Using Syrians as Mercenary Fighters, 2. November 2020; Turkey Sends Sayf Balud, ISIS Warlord, to Azerbaijan to Face-Off Against Putin’s Armenian Allies, ‹The Daily Beast›, 2. Oktober 2020.
  7. Iran’s deploys troops on borders with Azerbaijan, Armenia. ‹Memo: Middle East Monitor›, 26. Oktober 2020.
  8. V Sirii ostalos’ 15 tysjach Armjan. Lragir.am, 16. September 2015
  9. Israel’s Elbit Systems sells Azerbaijan SkyStriker suicide drone. ‹The Jerusalem Post›, 11. Januar 2019; Azerbaijan’s president: We’ve bought almost $5 billion in Israeli military goods. ‹Haaretz›, 14. Dezember 2016.
  10. Alexander Murinson, The Ties Between Israel and Azerbaijan. The Begin-Sadat Center for Strategic Studies. Bar-Ilan University 2014, S. 9.
  11. Ebd.; siehe auch Netanyahu and Erdogan in Unlikely Alliance Against Iran in Nagorno-Karabakh? ‹Haaretz›, 2. Oktober 2020.
  12. So erwähnte Recep Erdoğan vor Kurzem in einer Rede in Ankara: «In dieser Stadt, die wir während des Ersten Weltkriegs unter Tränen verlassen mussten, sind immer noch Spuren des osmanischen Widerstands zu sehen. Jerusalem ist also unsere Stadt, eine Stadt von uns. […] Wir betrachten es als eine Ehre im Namen unseres Landes und unserer Nation, die Rechte des unterdrückten palästinensischen Volkes, mit dem wir seit Jahrhunderten zusammenleben, auf jeder Plattform zur Sprache zu bringen.» ‹The Times of Israel›, 1. Oktober 2020.
  13. Emily Schrader, Israel’s failure to recognize the Armenian Genocide is indefensible. In: ‹Jerusalem Post›, 24. April 2020
  14. Č. Ali, Deputat parlamenta Israilja. In: Day.Az, 28. März 2008.
  15. Richard Albrecht, Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier? Kommentierte Wiederveröffentlichung der Erstpublikation von Adolf Hitlers Geheimrede am 22. August 1939, in: ‹Zeitschrift für Weltgeschichte› 9 (2008), S. 115–132, hier S. 127.
  16. Siehe Rudolf Steiner 1917, GA 177; Markus Osterrieder, Welt im Umbruch. Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 2014, S. 1093 ff., S. 1598 ff.
  17. Rudolf Steiner, Dornach, 18. Oktober 1918, GA 185, S. 25, S. 32; Bern, 4. November 1919, GA 193, S. 181.
  18. Nach Rudolf Steiner verbarg sich in der von Rom vorgegebenen Formulierung des Beschlusses die dogmatische ‹Abschaffung des Geistes› oder konkreter gesagt: die Verurteilung der Lehre von der Trichotomie, der dreigliedrigen Differenzierung der menschlichen Wesenheit in Geist, Seele und Leib. In den Konzilsbeschlüssen von 869/70 wandte man sich nicht explizit gegen das höhere Geistwesen im Menschen, sondern man erwähnte es gar nicht mehr. Es wurde nur noch von dem irdischen Teil des Menschen gesprochen, nicht mehr von der Existenz eines höheren Selbst, das in der Geisttaufe den irdischen Menschen potenziell durchdringen kann. Der Konzilsentscheid von 869/70 beschleunigte in der von der Römischen Kirche dogmatisch dominierten Hemisphäre den Hang zu einseitig materialistisch ausgerichteten Gedankenformen; das seelische Erleben richtete sich verstärkt nach sinnlich-materiellen Gegebenheiten und wurde schließlich nach dem Aufkommen der mechanistischen Naturwissenschaftslehre im 18./19. Jahrhundert als Resultat chemisch-physiologischer Prozesse definiert. Ausführlich hierzu Markus Osterrieder, Verschweigen des Geistes. Einige Anmerkungen zur geistesgeschichtlichen Bedeutung des Konzils von 869/70, in: ‹Jahrbuch für Schöne Wissenschaften›, Sektion für Schöne Wissenschaften, Dornach 2005, S. 305–321.
  19. Osterrieder: Welt im Umbruch, S. 164 ff.
  20. Hamit Bozarslan, Histoire de la Turquie. De l’Empire à nos jours. Paris 2015. Şerif Mardin, The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkish Political Ideas. New Edition. Syracuse University Press 2000.
  21. Colmar von der Goltz, Der jungen Türkei Niederlage und die Möglichkeit ihrer Wiedererhebung. Berlin 1913, S. 44 f., S. 52–54, S. 58 f., S. 62. Vgl. Markus Osterrieder, Helmuth von Moltke, Colmar von der Goltz und das Osmanische Reich. Teil I: Von Berlin nach Konstantinopel; Teil II: Eine Schicksalsrune. In: ‹Die Drei›, Jg. 86, Nr. 6 (2016), S. 55–65 und Nr. 7 (2016), S. 55–64.
  22. Ein Überblick über den neueren Stand der Forschung, an dem sich auch kritische türkische Historiker beteiligen, u. a. bei Ronald Grigor Suny: ‹They Can Live in the Desert but Nowhere Else›. A History of the Armenian Genocide. Princeton 2015; Taner Akçam, The Young Turks’ Crime against Humanity. The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire. Princeton 2012; Raymond H. Kévorkian, The Armenian Genocide. A Complete History. London 2011; Uğur Ümit Üngör, The Making of Modern Turkey. Nation and State in Eastern Anatolia, 1913–1950, Oxford 2011.
  23. Das Geheime Zivil-Kabinett des Kaisers (Valentini) an den Reichskanzler (Bethmann Hollweg), 10. September 1916. Wolfgang und Sigrid Gust (Hg.): www.armenocide.net. A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. Vgl. Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Berlin 2015.
  24. Eine der ersten Verwendungen des Begriffs erfolgte 1985 in einem Artikel des Engländers David Barchard im Chatham House, in dem Barchard suggerierte, dass eine «neoosmanische Option» ein möglicher Weg für die zukünftige Entwicklung der Türkei sein könnte. David Barchard, Turkey and the West. Royal Institute of International Affairs, 1985.
  25. Zit. nach Stephen P. Ladas, The Exchange of Minorities. Bulgaria, Greece and Turkey. New York 1932, S. 335. Vgl. auch Erik Goldstein, Fridtjof Nansen and the Greek Refugee Crisis, 1922–1924. In: ‹Mediterranean Quarterly› 23/4 (2012), S. 135–137.
  26. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen. Stuttgart 1951, S. 100 f.
  27. Rudolf Steiner, Dornach, 18. September 1916, GA 171, S. 66.
  28. Jeremy Smith, Red Nations. The Nationalities Experience in and after the USSR. Cambridge University Press 2013, S. 295 f.
  29. Ceylan Tokluoğlu, The Political Discourse of the Azerbaijani Elite on the Nagorno-Karabakh Conflict (1991–2009), in: ‹Europe-Asia Studies› 63 (2011), S. 1223–1252.
  30. Vicken Cheterian, The Uses and Abuses of History, S. 898.
  31. «Oh, und noch ein schmutziges kleines Geheimnis aus 5000 Jahren Geschichte: Ethnische Säuberungen funktionieren.» Ralph Peters, Blood borders. How a better Middle East would look. In: ‹Armed Forces Journal›, Juni 2006. Auch die EU solle sich als wirtschaftliche ‹Supermacht› definieren, welche «die Sprache der Macht» zu erlernen habe, um sich gegen die Konkurrenten zu behaupten (Ursula von der Leyen 2019); andere EU-Politiker vergleichen die EU als Schöpfung gern ‹mit der Organisation des Imperiums› (José Manuel Barroso 2007), ja die EU solle zu einem Imperium erwachsen, weil «die Weltordnung von morgen […] eine Weltordnung [ist], die auf Imperien basiert» (Guy Verhofstadt 2019).
  32. Rudolf Steiner, Dornach, 22. November 1918, GA 185a, S. 170.
  33. Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage (1919), GA 23, S. 117.
  34. irdawsī, Schahnameh. The Persian Book of Kings, übers. v. Dick Davis. Penguin 2016, Kapitel ‹The beginning of the war between Iran and Turan›.
  35.  Markus Osterrieder, Zarathuštra bei den Slaven. Die iranische Grundlage des slavischen Geisteslebens (I): Die Kultur des slavischen Ostens und der Schatten von Turan. In: ‹Das Goetheanum› 28/2000, S. 577–581; 29/2000, S. 608–610; 30–31/2000, S. 633–636.
  36. Manis Mutter Maryam war parthisch-armenischer Herkunft. W. B. Henning, The Book of the Giants, in: ‹Bulletin of the School of Oriental and African Studies› 11 (1943), S. 52.
  37. Saied Nafisi, Diwan-e Ghasayed va Ghazaliyat Nezami Gangavi. Tehran 1964, S. 285.

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