‹King Lear› zwischen Historie und Märchen

Die Tragödie von Shakespeare hat mythische Tiefe, zeigt menschliche Seele und wurzelt zugleich in der politischen Geschichte. So schlägt sie die Brücke vom täglichen Leben, den Wogen der Seele und Urbildern des Menschlichen.


‹König Lear› ist kein gewöhnliches klassisches Königsdrama, sondern wie ‹Hamlet› und ‹Macbeth› eine Art von Tragödie, die urbildlichen Charakter hat. Der geschichtliche Hintergrund verschwimmt hinter dieser Urbildlichkeit. In ‹König Lear› wird das Verhältnis von Vätern zu ihren Kindern thematisiert. Einerseits das Verhältnis von Lear zu seinen drei Töchtern, andererseits das Verhältnis Graf Glosters zu seinen zwei Söhnen.

Beide Handlungsstränge greifen die ‹Ur›­beziehung von Vätern zu ihren Kindern auf. Gerade umgekehrt ist es in der berühmten König-Oedipus-Tragödie, wo es um die Beziehung des Sohnes (Oedipus) zu seinem Vater Laios geht. Shakespeare schildert diese Beziehungen so intensiv, dass politische Fragen irrelevant werden. Wir müssen zum Beispiel nicht wissen, warum genau der König von Frankreich, frisch mit Cordelia verheiratet, von Dover aus zur Eroberung Englands ansetzt.

Auch im Grimm-Märchen ‹Die Gänsehirtin am Brunnen› geht es um diese Beziehung des Vaters zu seinen drei Töchtern. Wie in Shakespeares Tragödie teilt der herrschende König sein Reich unter seine drei Töchter. Die ersten beiden Töchter reagieren ähnlich wie Lears Töchter Goneril und Regan. Die erste hat den Vater «so lieb wie den süßesten Zucker», die zweite «so lieb wie mein schönstes Kleid». Die dritte verstummt zuerst wie Cordelia. Sie «kann ihre Liebe mit nichts vergleichen». Der Vater aber besteht darauf, sie müsse etwas nennen. Da sagt sie endlich: «Die beste Speise schmeckt mir nicht ohne Salz, darum habe ich den Vater so lieb wie Salz.» Der König, der im Märchen wie seine Töchter namenlos bleibt, lässt seiner jüngsten einen Sack Salz auf den Rücken binden und zwei Knechte müssen sie «hinaus in den wilden Wald» führen. «Wir haben alle für sie gefleht und gebetet», sagt die Königin, «aber der Zorn des Königs war nicht zu erweichen. Wie hat sie geweint, als sie uns verlassen musste! Der ganze Weg ist mit Perlen besät worden, die ihr aus den Augen geflossen sind.» Wenn die Jüngste nämlich weinte, «so fielen nicht Tränen aus ihren Augen, sondern lauter Perlen und Edelsteine.» Diese Spur der Tränen führt denn auch genau drei Jahre später zur Erlösung der verstoßenen Tochter und zur Versöhnung mit ihrem Vater …

Bei Shakespeare ist im Gegensatz zum Grimm-Märchen das Urbildhafte mit geschichtlichen Anspielungen vermischt. Der Märchenstoff wird zur Tragödie. Das ist auch ein Grund dafür, dass einem die Handlung so nahegeht und wir kaum aushalten können, dass zuletzt fast alle ermordet oder gestorben vor uns liegen. Fast erdrückt sitzt man da, bevor der Applaus einsetzt. Aber dadurch, dass man sich der Tragik stellt, kann man sich durch eine echt shakespearesche Katharsis gereinigt, wieder erfrischt dem Alltag zuwenden.

Zur Aufführung selbst: Die Integration von Spielenden der Jungen Bühne und professionellen Schauspielern und -spielerinnen ist erstaunlich gut gelungen. Als Zuschauer hatte man den Eindruck eines harmonisch gewachsenen Ensembles. Anders ausgedrückt: Die Ausbildung, welche ehemalige Mitglieder der Jungen Bühne mitbringen, ist von hoher Qualität. Das ändert nichts daran, dass viele von ihnen zusätzlich eine professionelle Ausbildung anstreben oder schon mittendrin stecken.

Das Lichtdesign (Klaus Suppan) war raffiniert gut, hat viel zur Wirkungsstärke der Aufführung beigetragen. Ein Beispiel: Wenn Gloster, um seinem Leben ein Ende zu setzen, im Dämmerdunkel die angebliche Klippe von Dover hinunterspringt, wird es exakt im richtigen Moment seines «Falls», der ein vorgetäuschter harmloser Fall ist, weil sein ihn unerkannt begleitender Sohn Edgar den Selbstmord seines Vaters verhindern will, plötzlich ganz hell.

Nachtrag zu Gloster: Ihm gehen nach seiner Blendung durch den gewalttätigen Grafen von Cornwall, den Ehemann Regans, die Augen auf. Er erkennt, dass er Opfer einer Intrige seines unehelichen Sohns Edmund geworden ist und seinen legitimen Sohn Edgar zu Unrecht verstoßen hat. Gloster, der den König davon abbringen wollte, seine Lieblingstochter Cordelia zu verstoßen, merkt tragischerweise nicht, dass er genauso ‹falsch› handelt wie Lear, als er seinen Lieblingssohn Edgar verstößt. Der erblindete Gloster (Thorsten Blanke) ist sehr glaubwürdig dargestellt.

Das für alle Szenen einheitliche Bühnenbild (Nils Frischknecht/Klaus Suppan) ist genial konzipiert und auf verschiedenste Weise bespielbar. Überraschend und ganz besonders an der Inszenierung (Regie: Andrea Pfaehler) war, dass man als Zuschauender durch die Bestuhlung und den Ablauf ins Geschehen miteinbezogen wurde und damit an der Tragödie unmittelbar teilhatte. Eine lohnende Inszenierung der besonderen Art.


‹King Lear› im Goetheanum

Freitag, 9. Juni,
Samstag, 10. Juni,
jeweils 19 Uhr

Freitag, 16. Juni,
Samstag, 17. Juni,
jeweils 19 Uhr

Werkeinführung 18.30 Uhr


Fotos François Croissant

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