Jimmy Carter und das andere Amerika

Der Blick auf die Vereinigten Staaten ist unumgänglich. Insbesondere seit einigen Jahrzehnten zeigt sich die Weltmacht mit verschiedenen Gesichtern. Die immer deutlicher werdende Spaltung des Landes, eine Zerrissenheit innerhalb der Bevölkerung, die ihren bisherigen Höhepunkt in der verhängnisvollen Präsidentschaft Donald Trumps zeigte, hat Einfluss auf die ganze Welt.


Wenn wir von einem Doppelantlitz sprechen, blicken wir meist auf die negative Seite: ein nicht enden wollender Rassismus, Menschenrechtsverletzungen, soziale und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, religiöser und nationalistischer Fanatismus. Dabei ist es durchaus sinnvoll, auf diejenigen Menschen zu blicken, die sich dem Negativen entgegenstellen und sich für andere Vereinigte Staaten von Amerika einsetzen. Die meisten von ihnen bleiben uns jedoch unbekannt. Nicht so Jimmy Carter. Zumindest ist von ihm auch hierzulande bekannt, dass er anders war als andere Politiker und Präsidenten der USA. Jimmy Carter ist bis heute ein Vertreter und Sprecher dieses anderen Amerikas. Er war der Präsident, der schon in den 1970er-Jahren Solarzellen auf das Weiße Haus montieren ließ, ein Bewusstsein für das Thema Klimawandel hatte, den Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten besiegelte, Menschenrechte vor Wirtschaftsinteressen stellte und keinen Krieg führte.

Jimmy Carter, mit vollem Namen James Earl Carter, wurde 1924 als Kind auf dem Land geboren. Er wuchs in schlichten bäuerlichen Verhältnissen auf und hatte in einem Dorf mit einigen Hundert Einwohnern fast nur afroamerikanische Kinder als Spielkameraden. Die Musik, die er hörte, waren Gospels und religiöse Lieder in den Kirchen der kleinen Ortschaften. Schon früh in seinem Leben zeichnete sich ab, was er später realisieren konnte. Er war Erdnussbauer, Diakon in einer Baptistengemeinde, U-Boot-Offizier, Senator, Gouverneur in Georgia und Präsident der USA, später dann Autor, Friedensaktivist, Kämpfer für Menschenrechte, Mediator, Sonntagsschullehrer und Professor.

Seine herausragenden Errungenschaften und Leistungen sind seine Menschenrechtspolitik, Natur- und Umweltschutz und seine Friedensmissionen. Als Präsident handelte er in Camp David einen epochalen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten aus. Mitunter als Weltverbesserer belächelt, geriet er in Vergessenheit, denn zu groß waren die Probleme des Kalten Krieges, mit denen die Welt in diesen Jahren konfrontiert war. Wer fragte sich damals nicht, wie Carters Bekenntnis zu Moral, Anstand, Religion, Menschenrechten, Sozialreformen und Umweltschutz ihm zum Einzug in das Weiße Haus hatte verhelfen können. Scharfsinnige Beobachter hatten rasch eine Erklärung: Die USA sollten durch ihn nach den Erfahrungen mit Vietnam und dem Watergate-Skandal moralisch aufgebaut werden. Als dann aber die Konsequenzen seines auf Verständigung ausgerichteten Handelns deutlich und seine Forderungen in gesellschaftlichen und sozialen Bereichen an jeden einzelnen Bürger herangetragen wurden, verlor er an Akzeptanz. Als er forderte, das eigene Verhalten zu ändern und die Umwelt zu respektieren, hatte er sich nicht nur mit der Großindustrie angelegt, sondern auch den einfachen Bürgerinnen und Bürgern zu viel abverlangt. Als er sich dann weigerte, das Geiseldrama von Teheran gewaltsam zu beenden, wurde der Ruf nach dem starken Mann lauter. So konnte nach nur einer Amtsperiode der Schauspieler und Republikaner Ronald Reagan, und damit ein Vertreter rechtsgerichteter Kräfte, die Macht ergreifen.

Das Carter Center in Atlanta

Carter kehrte zurück in den kleinen Ort Plains in Georgia. Dort wohnt er allerdings nur, denn er ist Weltbürger geblieben. Nach seinem Präsidentenamt zimmerte er in seiner kleinen Werkstatt Möbel für sich, seine Kinder und Enkelkinder. Dann ging er daran, Häuser für Obdachlose und sozial Schwache zu bauen. Mit dieser Initiative stiegen er und seine Frau Rosalynn in die Wohltätigkeitsorganisation Habitat for Humanity ein. Dafür stünde ihm allein schon der Friedensnobelpreis zu, so die ‹Frankfurter Allgemeine›. Einmal pro Jahr verbrachten er und seine Frau bis vor wenigen Jahren mindestens eine Woche mit hochgekrempelten Ärmeln beim Häuslebau in sozialen Randgebieten in Amerika und an vielen Orten in der Welt. Rosalynn Carter, nur drei Jahre jünger als ihr Mann, setzte sich unermüdlich dafür ein, die in den USA noch immer verbreitete Tabuisierung von psychisch kranken Menschen zu durchbrechen. Das von dem engagierten Paar gegründete Carter Center soll ein Ort der Begegnung sein, wo Vertreter streitender Parteien auf neutralem Boden miteinander und mit externer Hilfe an friedlichen Lösungen arbeiten können.

Jimmy Carter, ca 1985-87, Quelle: Wikimedia Commons

Dabei geht Carter auch unangenehmen Themen nicht aus dem Weg und scheute sich nicht, mit Diktatoren und Despoten zusammenzutreffen, unter anderen mit Kim Il-sung, dem 1994 verstorbenen stalinistischen Regenten von Nordkorea. Dies brachte ihm schärfste Kritik seiner Gegner ein. Geleitet, wie er sagt, vom christlichen Geist der Versöhnung, der Nächstenliebe, formuliert er sein Gegenargument und sagt, auch diese Burschen brauchten jemanden, der ihnen zuhört. Besonders wichtig ist den Carters die Bekämpfung des Hungers, weil der Hunger in der Welt mehr als halbiert werden könnte, wenn jede Person in der hochentwickelten Welt eine geringe, kaum spürbare monatliche Spende für Programme zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion und für die Bekämpfung chronischer Unterversorgung leisten würde. Schon 1993 verkündete Carter seine Doktrin zum Hunger auf der Konferenz der Weltbank. Explizit wies er darauf hin, dass er nicht als ehemaliger Präsident spreche, sondern als Vertreter einer Nichtregierungsorganisation, als einer von Hunderten, die sich des Problems des Hungers in der Welt angenommen haben. Er bezeichnet die Kluft zwischen Arm und Reich als das Kernproblem, wobei ihm nicht erst die Anhäufung von Besitz und Geld als Reichtum gilt, sondern eine Lebensweise, die elementare Bedürfnisse anderer Menschen unberücksichtigt lässt. Bereits 1980 erschien in seinem Auftrag der Bericht ‹Global 2000›, ein epochales Werk über den Zustand der Welt mit Zahlen, Fakten und Dokumenten. Dieses Buch hat einer ganzen Generation die Augen geöffnet und wird noch heute als Nachschlagewerk geschätzt.

Immer gegen den Strom

Jimmy und Rosalynn Carter hatten trotz ihres hohen Lebensalters bis vor Kurzem ein beachtliches Arbeitsprogramm. Denn, so formuliert es Carter, der Frieden hat immer eine Chance.

Carter hat 33 Bücher geschrieben. Nicht nur zu politischen, privaten und historischen Themen äußert sich der intellektuelle Ex-Präsident, sondern er hat auch Fachbücher für Fliegenfischer, ein Kinderbuch und einen Band mit Liebesgedichten verfasst. Geschätzt wird auch sein Werk zur Problematik des Alterns, das in den USA eine Diskussion über den bis ins Groteske verzerrten Jugendkult auslöste. Aus seinem tief verwurzelten christlichen Glauben hat er ein Meditationsbuch mit Texten für jeden Tag des Jahres geschrieben. Carter stellt sich bewusst gegen den Strom der Zeit und scheut sich nicht, auch ganz persönliche Erfahrungen zu thematisieren, zum Beispiel, wenn er freimütig über Sexualität im Alter spricht. Er gibt auch nicht vor, ein Historiker zu sein, sondern verpackt seine Kritik an der fehlenden Aufarbeitung amerikanischer Traumata in einem Roman (‹Die Rebellen›, 2004). Nach seiner Ansicht sei es ein wichtiger Schritt, die patriotisch-nationalistische Glorifizierung der amerikanischen Geschichte zu durchschauen und sich der kalten Logik unnötiger Kriege entgegenzustellen. Carter wird nicht müde, seine Meinung über die Politik der USA zu äußern, so über den Völkermord an den Indigenen, die Sklaverei, den Rassismus, die Stellung Amerikas in der Welt, den Nahostkonflikt, den Irakkrieg, Guantanamo-Bay, die Einschränkung der Bürgerrechte, über den amerikanischen Fundamentalismus, den Mangel an Umweltschutz, die zunehmende Verarmung und das soziale Elend ganzer Bevölkerungsschichten.

Das andere Amerika

Jimmy Carter wurde zum prominentesten Sprecher eines anderen Amerikas. Er ist das krasse Gegenbild zu George W. Bush oder Donald Trump. Die USA seien inzwischen keine rechtsstaatliche Demokratie mehr, so Carter. In einem Interview sagte er, dass die USA eine Oligarchie mit grenzenloser politischer Bestechlichkeit und Korruption seien. Geldzuwendungen trügen dazu bei, wer Präsidentschaftskandidat und letztendlich Präsident des Landes werde.

Vor einiger Zeit hat der fast 100-Jährige eine Krebserkrankung und mehrere Operationen überstanden, ist jetzt wieder quicklebendig und hat einen weiteren Grammy-Award für sein Hörbuch ‹A Full Life: Reflections at Ninety› erhalten. Persönliche Begegnungen sind ihm wichtig. Briefe beantwortet er meist handschriftlich. Sein Wirken ist mit seinen 97 Lebensjahren noch nicht zu Ende. Selbst die mit Lob eher sparsame FAZ spricht dem «lästigen Idealisten» eine verstärkte moralische Autorität zu. Carter dürfe als «das Gewissen Amerikas auftreten, weil er selbst ein Gewissen hat».

Carter lässt sich einreihen in die edlen amerikanischen Traditionen eines Häuptlings Seattle, der Philosophen Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller und anderer Transzendentalisten, aber auch in die Welt seiner Zeitgenossen, wie Martin Luther King, Rosa Parks, Joan Baez, Noam Chomsky, Ruth Bader Ginsburg und vieler anderer, eher stiller und bisher unbekannt gebliebener Amerikaner und Amerikanerinnen. Er ist einer von ihnen, sie alle stehen für das andere Amerika.


Von Harald Kiczka erscheint demnächst: ‹Jimmy Carter und das andere Amerika. Eine Biographie› im Info3-Verlag Frankfurt.

Titelbild: President Jimmy Carter, August 1977. Fotoquelle: The U.S. National Archives

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