Im Kreise denken müssen

Wir freuen uns, dass zum Artikel ‹Windows of Opportunity› von Friedrich Glasl in ‹Goetheanum› 8/2023 sich Leserinnen und Leser zu Wort gemeldet haben. Es gibt polare Auffassungen zu den Ursachen und Haltungen zum Angriffskrieg Russlands: Während beispielsweise der Osteuropawissenschaftler Klaus Gestawa (Universität Tübingen) im Aufstand auf dem Maidan die größte demokratische Bewegung seit 1991 sieht und betont, dass er in vielen Städten der Ukraine stattfand und von der Bevölkerung getragen war, sieht Daniele Ganser (Buchautor) darin einen von US-Geheimdiensten orchestrierten Putsch. Im Nebeneinander und noch besser im Dialog der Blickrichtungen ergibt sich, so hoffen wir, ein wirklichkeitsgemäßes Bild.


Wer trägt die Verantwortung für den Krieg?

Knapp vor der Mitte des Gesprächs stellt Wolfgang Held folgende bedeutende Frage: «Russlands Interessen wurden zu wenig berücksichtigt. Wenn das Land aber zu Gewalt greift, verliert es da nicht jede Legitimation?» Darauf antwortet Friedrich Glasl nur kurz in folgender Weise: «Natürlich. Mit dem Angriff auf die Ukraine ist alles anders und auch Russland hat ja Vertragsbruch begangen.» (Dann stellt Held eine Frage bezüglich der verschiedenen Interessen der EU, der USA usw.) Diese Antwort hat mich sehr überrascht: Ich erwartete, dass Glasl nun die Gelegenheit ergreift, diesen Angriffskrieg Putins und seiner Regierung in seiner Art und Wirkung näher zu schildern, doch er hat das weder hier noch sonst wo im Interview gemacht.

Ich möchte dazu an ein paar Eckpunkte erinnern: 24. Februar 2022: Angriff Russlands auf die Ukraine vom Osten, vom Süden und auch vom Norden her Richtung Kiew. Die russische Armee umfasste damals mehr als 100 000 Soldaten. Putin nennt diese Aktion (laut Medienberichten) ‹Militäroperation zur Entnazifizierung der Ukraine›.

Die Art der Kriegsführung Russlands ist von äußerster Brutalität. Das zeigte sich zum Beispiel in Butscha (dort werden später Hunderte Leichen und gefesselte und getötete Zivilisten gefunden; von Vergewaltigungen wird berichtet), und auch in anderen Städten wie Mariupol. Im Laufe des Krieges werden immer wieder russische Raketen und Drohnen auf Wohnhäuser in vielen ukrainischen Städten, auf Energieeinrichtungen, sogar auf Krankenhäuser gerichtet, die starke Zerstörungen anrichten.

Viele verwundete oder tote Kinder (angeblich etwa 600) und verwundete oder tote Zivilisten (angeblich mehrere Tausend). Die verwundeten und toten Soldaten zählen insgesamt – angeblich – Hunderttausende. Und es gibt viele Millionen Flüchtlinge im Land, Millionen Menschen sind aus der Ukraine ins Ausland geflüchtet. Glasl hat diese entscheidenden Fakten, diese ungeheure Einseitigkeit in diesem Krieg – nämlich ausgehend von Russland, die Ukraine verteidigt nur ihr Land – nirgendwo angesprochen, niemals bei diesem Gespräch ins Auge gefasst! Immer wieder spricht er zwar vom ‹Krieg›, aber so, dass ich den Eindruck gewinne, er meint, die kriegführenden Parteien verursachen beide diesen Krieg. Das zeigt sich in folgender Aussage Glasls: «Die Argumentationen sowohl von der russischen wie auch von der ukrainischen Seite beziehen sich auf das Nationale, Geschichtliche. All diese Ansprüche sind irrelevant und stehen einer Lösung im Weg.» Was soll diese Bemerkung über die Ukrainer und Ukrainerinnen? Es geht ihnen doch jetzt in diesem Krieg darum, ihr Leben zu verteidigen und zu erhalten, den Bestand ihres Volkes, ihres Landes gegenüber einem stark aggressiven Nachbarstaat zu verteidigen: ein höchst relevanter Anspruch!

Ich frage mich: Warum spricht Glasl diese entscheidenden Fakten nicht an? Im ersten Interview mit ihm zum Ukrainekrieg, Anfang März des Vorjahres (vgl. ‹Goetheanum›, 11. März 2022, S. 8) wurde er gefragt: «Warum sind die Gespräche vor dem Krieg gescheitert?» Darauf antwortete er: «Weil jede Seite nur Forderungen an die andere gestellt hat: Ihr müsst dies oder das tun. Da war von keinem zu hören, wir sind zu diesem oder jenem bereit. Ich meine jetzt vor allem die westliche Seite, die EU, die USA und die Nato.» Meint er damit, die westliche Seite ist mitverantwortlich für diesen Angriffskrieg Russlands?

Mir fällt auf, dass es Herr Glasl sichtlich vermeidet, klar und deutlich die Tatsache der verbrecherischen Befehle und Taten der russischen Regierung hinsichtlich der Durchführung dieses Angriffskrieges gegen die Ukraine anzusprechen. Und andererseits formuliert er immer wieder so, dass ich den Eindruck gewonnen habe, eigentlich meint er, ohne es klar zu sagen, Folgendes: Stark mitverantwortlich, vielleicht sogar letztverantwortlich für diesen Krieg sind in Wirklichkeit die USA und die Nato!

Ich habe in den letzten zwölf Monaten oft politische Diskussionsrunden im deutschen und auch im österreichischen Fernsehen zum Thema Ukrainekrieg angehört und angesehen. Dabei ist in weit überwiegender Weise herausgekommen: Für diesen Angriffskrieg ist die russische Regierung allein verantwortlich, die Ursachen dieses Krieges lassen sich nicht auf vorher bestehende Spannungen zwischen Russland und anderen Ländern zurückführen.

So komme ich schließlich dazu, Glasls Analysen zum Thema Ukrainekrieg in ganz bedeutenden Punkten als nicht wirklichkeitsgemäß zu bezeichnen. Andererseits spüre ich auch aus seinen Ausführungen: Sein unermüdliches Eintreten und Aufrufen zum Aufsuchen von Wegen zum Frieden sind sehr, sehr überzeugend und tröstlich angesichts der sehr besorgniserregenden Situation in Europa und weltweit. Josef Kaltenberger

Malerei von Adrien Jutard, ‹Ohne Titel›, 42×29,7cm, 2021

Antwort des Autors

Mein Anliegen war, nach einem Jahr des verbrecherischen russischen Angriffskrieges über Wege aus dem mörderischen Geschehen zu sprechen und nicht über das militärische Tagesgeschehen. Die Medien sind ja voll davon und ich sehe keinerlei Nutzen, unser Bewusstsein ständig darauf einzuengen. Dabei wird in Ost und West ständig suggeriert, dass es keine Alternative zu einer militärischen Entscheidung gibt, und das blockiert das Suchen nach diplomatischen Bemühungen. Bei unvoreingenommener Lektüre meiner Aussagen im Kontext des ganzen Gesprächs müsste dieses Anliegen wohl deutlich werden.

Ich frage mich nun, wieso unterstellt wurde, dass die sich verteidigende Ukraine im selben Maße Verursacher des Überfalls wäre wie Russland, weil ich von einem ‹Krieg› spreche. Denn sowohl das Land, das sich verteidigt, als auch die angreifende Seite sind gleichermaßen an das Kriegsvölkerrecht gebunden: Schonung und Schutz von Zivilpersonen und -gütern, korrekte Behandlung von Kriegsgefangenen, Schutz humanitärer Organisationen usw. Der Begriff ‹Krieg› hat nichts mit Ursachen- oder Schuldzuweisung zu tun.

Als Friedensforscher und praktizierender Mediator entspricht es meinem ethischen Verständnis – auch in Friedensprozessen wie in Nordirland und in Ostslawonien –, in meinen um Objektivierung bemühten Analysen aufzuzeigen, dass in der Vorgeschichte des Krieges Spannungen und politische Konflikte bestanden haben, die nicht gelöst worden sind und später zu kriegerischen Handlungen eskalierten. In Konflikten besteht auf beiden Seiten und im Umfeld der Konfliktparteien das Bedürfnis, ganz eindeutige und einfache Ursachen zu definieren – während es nachweislich um ein komplexes Geflecht vieler Faktoren geht, die keine einfache Zuschreibung von Gut und Böse, von Unschuld und Schuld erlauben. In der sozialen Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine Ursache-Wirkung-Beziehung, die nur in eine Richtung geht, sondern um Wechselwirkungen, für die Rudolf Steiner in Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse gesagt hat, dass wir «im Kreise denken müssen». In einem Interview in der Zeitschrift ‹Sozialimpulse›, März 2022, habe ich in Einzelheiten erläutert, was in der Ost-West-Beziehung nach 1991 an Konstruktivem und Destruktivem geschehen ist. Darum betone ich: Wenn ich die komplizierte Vorgeschichte nicht berücksichtige, ignoriere ich die Realität. Im ‹Goetheanum›-Interview, Februar 2023, war dafür zu wenig Platz. Vor allem auch, weil ich auf ‹Fenster zum Frieden› weisen wollte, statt Weiteres zur sogenannten ‹Problemhypnose› beizutragen, die blind macht für Chancen und positive Ansätze.

Ein zentraler Kritikpunkt ist meine Aussage, viele Anzeichen sprächen dafür, dass Washington, Nato, Moskau und Kiew die Fortsetzung des Krieges wollen; sie können sich eine Beendigung des Krieges nur durch eine militärische Entscheidung vorstellen. Es gibt wiederholt Aussagen der Führungsspitzen, dass sie sich eingestellt haben auf einen längeren «Abnützungskrieg» – was für ein menschenverachtendes Wort, als ob es nur um den Verschleiß von Dingen ginge! Für den ‹Westen› wie auch für den ‹Osten› geht es gar nicht mehr um die Ukraine, sondern um größere geopolitische Ziele. Hingegen macht Kiew die Anerkennung der Grenzen von 2014 zur Bedingung von Verhandlungen, weil sich die Regierung von Rückeroberungen eine bessere Verhandlungsposition verspricht. So kann es durch diese Bedingung gar nicht zu Verhandlungen kommen.

Im Interview habe ich auf die Initiative der chinesischen Regierung für ein ‹Political Settlement of the Ukraine Crisis› hingewiesen, in der in zwölf Punkten, die professionell diplomatisch verfasst sind, für eine kompromisslose Rückkehr zum Völkerrecht und zur Rolle der UNO geworben wird. Trotz der vorschnellen, sachlich nicht begründeten negativen Äußerungen westlicher Regierungsspitzen hoffe ich, dass darüber in der Öffentlichkeit diskutiert wird, denn hier sind wirklich Fenster zum Frieden geöffnet worden. Und die Zivilgesellschaft muss die Möglichkeit bekommen, sich zu Wort zu melden!

Welche taktischen Atomwaffen?

Mit großem Interesse habe ich das Interview mit Herrn F. Glasl gelesen. In der letzten Spalte auf S. 11 macht Herr Glasl eine Aussage, welche mich in höchstem Maße erstaunt und beunruhigt hat: «Jetzt müssen wir etwas tun, auch im Denken, damit der mögliche Einsatz von taktischen Atomwaffen nicht geschieht – sie wurden im Golfkrieg eingesetzt, vergessen wir das nicht.» Leider wurde diese Aussage ohne jegliche Quellenangabe getätigt. Daher meine Frage: Welche taktischen Atomwaffen wurden in welchem Golfkrieg von wem eingesetzt? Man spricht generell von mindestens zwei Golfkriegen. Dominik Gerber Hostettler

Antwort des Autors

Nach dem ersten Golfkrieg gab es in den USA bei Soldaten, die im Krieg eingesetzt worden waren, Strahlenschäden, für die sie vom Staat Anerkennung und Entschädigung forderten. Es gab dazu Gerichtsverfahren mit negativem Ausgang. Die ganze Sache wurde auch im US-Kongress behandelt, worüber es Protokolle gibt. Von unabhängiger medizinischer Seite wurden die Erkrankungen als Strahlungsschäden bestätigt, aber in allen Fällen weigerte sich der Staat, das anzuerkennen und dafür Verantwortung zu übernehmen, weil er nicht zugeben wollte, dass es durch Nuklearwaffen verursacht worden sei. Außer den Kongressprotokollen gibt es nur Akten der Stellen, die sich für die Veteranen eingesetzt hatten.

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