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Gesang der Zeiten

Begriff und Bild des doppelten Zeitenstroms, der die Grundlage für geistiges Schauen ist. Das poetische Bild Rilkes kann helfen, die Wurzelerkenntnis von Rudolf Steiners Werk besser zu verstehen.


«Von traumhafter Bildlichkeit durch voll bewusste Abstraktion zur ebenso voll bewussten Imagination: Das ist der Entwicklungsgang des menschlichen Denkens. Der Aufstieg zu dieser bewussten Imagination steht als Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit.» (1) Die ‹freie Imagination› soll jeder moderne Mensch im Laufe der Bewusstseinsseelenepoche erwerben, die noch mehr als anderthalb Jahrtausende dauern wird.

Sie ist eine Voraussetzung für das Erwachen zur natürlichen und zur sozialen Lebenswelt. Und es ist wichtig, dass einzelne Menschen heute schon mit dieser Fähigkeit kulturwirksam werden.

Erforderlich für die Imagination ist eine Änderung des Zeitverständnisses. Alle Geschehnisse sind erst künftig, sie ereignen sich in der Gegenwart und strömen dann immer weiter in die Vergangenheit herab. Aber sie werden der gewöhnlichen Vorstellung erst bewusst, wenn sie sich ereignet haben, und daher erlebt diese die aus der Zukunft in die Vergangenheit strömende Zeit nicht und kennt sie nur als aus der Vergangenheit zur Zukunft fließend. Und Rudolf Steiner erwähnte den ‹Doppelstrom der Zeit› selten.

“Das ‹Schauspiel des breit auf uns zukommenden Flusses, der schöne, gleichsam fortwährend zukünftige Raum, in den wir uns eindrängten›, wird von Rilke umschrieben.”

Je mehr die Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe Gestalt annahm, wuchs in der Herausgeberin Hella Wiesberger eine wichtige Frage heran: «Gibt es nicht einen Schlüssel, einen Kompass, einen roten Faden», fragte sie, «mit dessen Hilfe die ja nicht nur äußerlich, sondern vor allem auch innerlich so überreiche Fülle des Werk-Ganzen aus seinen Entstehungsgesetzen heraus zu begreifen wäre?» (2) Eine Antwort fand sie im Metamorphose-Gedanken im Allgemeinen und speziell «in der ganz besonders gearteten Erkenntnis Rudolf Steiners vom Wesen der Zeit». Sie sagt, die Wurzelerkenntnis für das Werk-Ganze ist die des Doppelstroms der Zeit. (3)

Schon 1907 schrieb Rudolf Steiner, «dass es eine mit der vorwärtsgehenden interferierende rückwärtsgehende Evolution gibt – die okkult-astrale. Diese Erkenntnis ist die Bedingung für das geistige Schauen.» (4) Wer vom Buch ‹Die Geheimwissenschaft im Umriss› nähere Auskunft über diesen Doppelstrom allen Werdens erwartet, sucht sie da vergebens. In Bezug auf die menschliche Seele hat Rudolf Steiner aber einmal für Mitglieder ausführlich über den Doppelstrom der Zeit gesprochen. Das war im letzten der vier Vorträge zur Psychosophie von Herbst 1910. (5) Obwohl er nicht dabei war, erlebte Rainer Maria Rilke das dort Dargestellte einige Monate später auf einer Nilfahrt, die er 1912 einprägsam beschrieb. (6) Was Rudolf Steiner begrifflich entwickelte, wurde Rilke zum Bild.

In sich zusammengeschoben

Das «Schauspiel des breit auf uns zukommenden Flusses, der schöne, gleichsam fortwährend zukünftige Raum, in den wir uns eindrängten», so beschreibt Rilke seine Erlebnisse. Gleich hinter ihm saß der Alte, der das Schiff lenkte, im zerfetzten Kleid, das Gesicht «in sich zusammengeschoben wie die Stücke eines Fernrohrs». Ein schönes Bild für den Strom der Erinnerungsvorstellungen der Vergangenheit, den, psychosophisch gesprochen, der Ätherleib ständig herbeiträgt. Der Strom des Astralleibes verbindet uns mit der Zukunft, die dem fahrenden Rilke nicht nur in der Anschauung des auf ihn zuströmenden Wassers, sondern auch in den vielen vor ihm mit heißem Innern rudernden Burschen Gestalt annahm. Man kann in der Polarität des lenkenden Alten und der jungen Ruderer auch die von Kopf und Gliedern sehen. Den Ausgleich dazwischen schafft das rhythmische System. Schon Wiesberger schrieb, dass die «Anschauung vom Menschen als einem in dreigliedriger Metamorphose sich auslebenden Wesen» herauswuchs «aus der Erkenntnis der Zeit».(7) Auch bei der Segelbarke findet die Bewegung beider Ströme ihren Ausgleich im Rhythmus.


Eurythmiefigur I, Edith Maryon / Rudolf Steiner, Nachlass Ilona Schubert; Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach

Eurythmiefigur I, Edith Maryon / Rudolf Steiner, Nachlass Ilona Schubert; Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach

Vertikaler Gesang

Und im Gesang. Senkrecht auf dem horizontalen Doppelstrom der Zeit steht in der Psychosophie die Linie des aus Geistesgründen urteilenden Ich bis hinunter zum ihm seine Sinneswahrnehmungen vermittelnden physischen Leib. Die Seele grenzt im Kreuz der Wesensglieder oben an die geistige und unten an die physische Welt. Das Physische droht ständig aus der schöpferischen Wirklichkeit der Zeit herauszufallen. Fällt der Leib heraus, kann Krankheit entstehen. Sein Emporheben schließt den Leib wieder an den Strom der Heilkräfte an. Auf Rilkes Nilbarke wurde die Vertikale nicht nur repräsentiert von Mast, Kiel und Steuerruder, sondern auch vom Sänger, der vorne rechts saß. «Was auf ihn Einfluss zu haben schien», schreibt Rilke, «war die reine Bewegung, die in seinem Gefühl mit der offenen Ferne zusammentraf, an die er, halb entschlossen, halb melancholisch, hingegeben war. In ihm kam der Antrieb unseres Fahrzeugs und die Gewalt dessen, was uns entgegenging, fortwährend zum Ausgleich – von Zeit zu Zeit sammelte sich ein Überschuss: dann sang er.» (8)

Aus der Hingabe an das Zusammenspiel von Bewegung, Gefühl und Charakter erklingt der Laut. Gibt es eine treffendere literarische Beschreibung vom Zusammenwirken dieser Dreiheit? Durch Laut und Geste kann der Mensch sprechen. Wie sie aus den unterschiedlichen Farben von Bewegung, Gefühl und Charakter hervorgehen, zeigen sehr schön Rudolf Steiners Eurythmiefiguren.

Erzeugen

Indem er die Aufmerksamkeit auf Erwartung und Erinnerung lenkte, begriff Aurelius Augustinus etwas vom Wesensgefüge der Zeit.(9) Aber dass er sie damit in die Seele des Menschen verlegte, war falsch. Die Verlegung der Welt in den Menschen ist eine Kinderkrankheit der Bewusstseinsseele, die sich inmitten der vorangehenden Epoche in Augustinus schon Bahn brach. Die Bewusstseinsseele muss lernen, dass sie des Wahren nur habhaft werden kann, wenn sie die Wahrheit selbst erzeugt, aber dass diese auch unerkannt gilt. Das Erkennen führt den Menschen über sich hinaus. Es handelt sich um den Unterschied von Seele und Geist. Das Ergreifen des Objektiven im Subjektiven ist eine Voraussetzung für das imaginative Gewahren des Ätherischen.

Vom Sänger sagt Rilke: «Während seine Umgebung sich immer wieder mit dem greifbaren Nächsten einließ und es überwand, unterhielt seine Stimme die Beziehung zum Weitesten, knüpfte uns daran an, bis es uns zog.» (10) Zum Schluss schreibt er: «Ich weiß nicht, wie es geschah, aber plötzlich begriff ich in dieser Erscheinung die Lage des Dichters, seinen Platz und seine Wirkung innerhalb der Zeit.» (11) Ähnliches könnte man vom Eurythmisten sagen. Eurythmie kann uns den Doppelstrom der Zeit erlebbar machen und die Lautentstehung stets erneut vollziehen.


(1) Rudolf Steiner, Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1921–1925 aus der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›. GA 36, Dornach 2014.
(2) Hella Wiesberger, Rudolf Steiners Lebenswerk in seiner Wirklichkeit ist sein Lebensgang, in: Beiträge zur Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe Nr. 49/50, Dornach 1975.
(3) Ebenda, S. 32.
(4) Rudolf Steiner – Marie Steiner-von Sivers: Briefwechsel und Dokumente 1901–1925. GA 262, Dornach 2002.
(5) Rudolf Steiner, Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie. GA 115, Dornach 2001.
(6) Rainer Maria Rilke, Über den Dichter, in: Rainer Maria Rilke, Der Brief des jungen Arbeiters. Frankfurt am Main 1974. Und in: Ausgewählte Werke, Zweiter Band, Leipzig 1948.
(7) Hella Wiesberger, a. a. O.
(8) Rainer Maria Rilke, Über den Dichter, in: Ausgewählte Werke, Zweiter Band, Leipzig 1948.
(9) Augustinus, Bekenntnisse. Buch 11, München 1955.
(10) Rainer Maria Rilke, Über den Dichter, in: Ausgewählte Werke, a. a. O.
(11) Ebenda.

Titelbild: Eurythmiefigur B, Edith Maryon / Rudolf Steiner, Nachlass Ilona Schubert; Rudolf-Steiner-Archiv, Dornach

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