Farben und Formen des Lebens

Nachdem der Einsatz der Homosexuellenbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt zunehmende Akzeptanz und Gleichberechtigung für Lesben und Schwule erreicht hatte und damit die Vielfalt der Lebensformen diskutabel geworden war, treten in den letzten Jahren immer mehr Menschen an die Öffentlichkeit, die sich nicht oder nicht nur mit dem ihnen bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren können bzw. wollen. Begriffe wie transgender, transsexuell, nonbinär, genderfluid oder queer sind in der jüngeren Generation inzwischen geläufiger Sprachgebrauch, die Akzeptanz für in diesem Sinne andersdenkende und -empfindende Menschen ist selbstverständlicher geworden.


Stellung beziehen

In anthroposophischen Kreisen dauert es gewohnheitsmäßig immer ein bisschen länger, bis Themen, die sich unter anderem auf Körperlichkeit oder Sexualität des Menschen beziehen, rezipiert und diskutiert werden. Inzwischen sind jedoch auch dort erste Verlautbarungen wahrzunehmen. Die Vorhut bildete zunächst hauptsächlich die anthroposophische Anti-mainstream-Presse – häufig von einem kritischen bis polemischen, in vielen Punkten leider bestenfalls halbinformierten Standpunkt aus.(1) Hierbei traten gehäuft thematische Verknüpfungen mit dem sog. Gender Mainstreaming und dessen befürchteten oder realen problematischen Konsequenzen zutage. Oft wurde der Terminus in einem etwas eigenwilligen, jedenfalls negativ konnotierten Sinne verwendet. Menschen, die sich um ein sensibilisiertes gesellschaftliches Verhältnis zu Geschlechterfragen bemühen – sei es aus eigener biografischer Auseinandersetzung mit diesen Themen oder aus sonstigen Gründen –, wurden als generalverdächtig oder irregeleitet beurteilt.

Allmählich melden sich nun aber auch an der zugrundeliegenden menschlichen Thematik konstruktiv interessierte Autor_innen zu Wort. Annäherungen waren z. B. erst kürzlich in einem Themenheft von ‹Die Drei› zu lesen (2), auch die ‹Erziehungskunst› widmete vor zwei Jahren eine ganze Ausgabe dieser Fragestellung.(3) ‹Das Goetheanum› hatte bereits 2014 (4) eine Titelgeschichte zur «Identität des Geschlechts» veröffentlicht. Hauptbeitragender war damals der u. a. für seine embryologischen Arbeiten bekannte Bildhauer und Lehrer Christian Breme. Vom selben Autor ist nun eine eigenständige Arbeit erschienen, die sich in einer kreativen, künstlerisch und pädagogisch engagierten Form den Fragen der geschlechtlichen Identität widmet. In ‹Das Geheimnis der Matrioschka› hat Breme den Mut und Willen zu Ansätzen einer differenzierteren anthroposophisch-menschenkundlichen Untersuchung, den die bisherigen Publikationen oft haben vermissen lassen. Das Ergebnis mag in mancher Hinsicht kontrovers zu diskutieren sein, doch der charmante, warmherzige und unpolemische Grundton stimmt von vorneherein nachsichtig. Man nimmt es gerne zur Hand und taucht in die Geschichte ein.

Vielschichtigkeit

Das Werk tritt im Gewand eines Bilderbuches mit erklärtem didaktischem Anliegen auf. Es richtet sich sowohl an Kinder als auch an Jugendliche und Erwachsene und versteht sich als «Orientierungshilfe für Eltern und Erzieherinnen und Erzieher von Kindern, die ihre geschlechtliche Identität suchen». Es gliedert sich in vier Kapitel mit jeweils einem thematischen Schwerpunkt. Die Erzählung entwickelt sich um ein sympathisch-märchenhaftes Pärchen: Tanja ist eine russische Matrioschka-Malerin, Markus ein Schweizer Gärtner. Ortsansässige werden nicht lange brauchen, um der Inspiration des Autors durch Personen des wirklichen Lebens auf die Spur zu kommen. Das erste Kapitel umkreist in Begleitung der beiden Hauptfiguren spielerisch das Thema der Matrioschka als Bild der gegliederten, vielschichtigen menschlichen Wesenheit. So verpackt wird auch die geisteswissenschaftliche Anschauung von der jeweiligen Gegengeschlechtlichkeit des menschlichen Ätherleibes und der Geschlechtslosigkeit des Ich vermittelt.

So verpackt wird auch die geisteswissenschaftliche Anschauung von der jeweiligen Gegengeschlechtlichkeit des menschlichen Ätherleibes und der Geschlechtslosigkeit des Ich vermittelt.

Das zweite Kapitel entführt anhand der Basler Fasnacht in die Welt der Masken und stellt damit die Frage nach Hülle und Kern, Schein und Sein der menschlichen Individualität. Im dritten Kapitel betritt eine weitere Hauptfigur die Bühne: Nikolas, der «gerne mit Puppen und farbigen Tüchern spielt» und «lieber ein Mädchen» wäre (wohlgemerkt nicht «eigentlich ein Mädchen ist», wie Transmädchen es im wirklichen Leben von sich aus häufig beschreiben). Tanja und Markus nehmen sich seiner an. Sie begeben sich für ihn auf Erkundung, um der Frage auf die Spur zu kommen, wie diese besondere Veranlagung des Knaben zu erklären und wie ihm, der unter dem sozialen Druck der Gleichaltrigen leidet, zu helfen ist. An dieser Stelle wirkt das Werk sehr gewollt didaktisch. Tanja und Markus suchen den Antiquar Herrn Strakosch auf und werden von ihm über verschiedene Anschauungen von Geschlechtlichkeit und Geschlechtervarianz unterrichtet. In einer etwas abenteuerlichen Abfolge kommen C. G. Jung, Rudolf Steiner, antike und indigene Völker zu Wort. Man fragt sich, an wen dieser Exkurs adressiert ist – für Kinder im Bilderbuchalter ist er kaum geeignet; ob Jugendliche sich zu Bildungszwecken ein Bilderbuch anschauen, fragt man sich; Erwachsene erfahren aus ihm nicht viel Neues. Die Moral von der Geschicht’ ist jedenfalls die Ansicht, dass Nikolas’ Besonderheit – und folglich auch diejenige anderer transidenter Kinder – mit einem gesteigerten Empfinden des eigenen (gegengeschlechtlichen) Ätherleibes zusammenhängt. In erster Näherung ist dieser Gedanke sicherlich hilfreich und für den Rahmen eines Bilderbuches ein mindestens ausreichend komplexer Erklärungsansatz. Bei einer weiterführenden menschenkundlichen Auseinandersetzung wird man allerdings nicht umhinkommen, zu fragen, ob diese Annahme allein genügt, das vielschichtige und in seinen individuellen Ausprägungen vielfältige Phänomen der Transsexualität/Transidentität zu erhellen. Zudem wird man sich damit konfrontieren müssen, dass verschiedene Autoren diese Hypothese bereits auf die doch recht anders gelagerte Situation homosexueller Menschen bezogen haben. (5)

Männliches und Weibliches integrieren

Die Geschichte endet damit, dass Nikolas, der ‹Puppenspieler›, von Tanja und Markus eine Matrioschka geschenkt bekommt, die seine Züge trägt, und dazu ein Lied, das von der freien Handhabe des männlichen und weiblichen Elements im Menschen durch das Ich erzählt. Diese Gaben sollen seine Begleiter auf dem Weg des Heranwachsens zum Menschen werden, der Männliches und Weibliches in sich integrieren kann.

Die Illustrationen im Buch sind von einem feinen Humor durchzogen und begleiten die Geschichte mit schönen Stimmungsnuancen. Durch eine interessante Zwiesprache zwischen Linie und Farbfläche tritt eine thematisch passende Polarität von verschwimmender Kontur und klar gegriffenem Umriss auf. Auch das musikalische Element kommt in dem Werk zu seinem Recht: Es enthält mehrere Lieder mit Melodien von Wolfgang Wünsch. Diese sowie weiteres Zusatzmaterial, ein Begleitheft zum Buch, Anregungen für den pädagogischen Gebrauch und die Möglichkeit, viergliedrige Matrioschkas zu erwerben, werden auf einer zum Buch gehörenden Website zur Verfügung gestellt. Das Begleitheft geht weiter auf die Hintergründe des Matrioschka- und Maskenmotivs ein und leuchtet die bei Antiquar Strakosch angerissenen Themenfelder etwas näher aus. Auf einen Wermutstropfen stößt man hier insofern, als der Autor sich seiner persönlichen Ansicht zum Thema Hormonsubstitution bei Trans*-Menschen an dieser Stelle leider nicht enthalten hat. Die Verbreitung des pauschalen Urteils, dass es am besten ohne Hormone gehen und Betroffene in die Lage kommen sollten, «sich mit ihrem biologischen Geschlecht zu versöhnen», erscheint mindestens problematisch. Der Verweis, dass «viele Menschen» «nachträglich […] froh [waren], auf eine Hormontherapie verzichtet zu haben», müsste mindestens ausführlicher diskutiert anstatt beiläufig, aber apodiktisch platziert zu werden. Zudem ließe er sich durch den Gegenverweis konterkarieren, dass es genauso gut zahlreiche Menschen gibt, für die die Möglichkeit einer Hormonsubstitution und weiterer medizinischer Maßnahmen im eigentlichen Sinne lebensrettend war.

Zeitgenössischer Austausch

Das Buch erscheint letztlich als Kern­element eines ganzen Projektes, mit dem Christian Breme das Thema Trans­identität vor allem für Pädagogen und Eltern zugänglich machen und Hilfestellungen für die Begleitung im konkreten individuellen Fall bieten möchte.

Auf das Buch bezogen fragt man sich ein wenig, ob weniger vielleicht mehr gewesen wäre. Es will vieles zugleich sein – imaginative Erzählung, begriffliche Reflexion, didaktisches Material, Kunstwerk … Möglicherweise hätte das Projekt dadurch gewonnen, dass diese verschiedenen Bereiche etwas klarer getrennt und dafür ausführlicher und eigenständiger zu ihrem Recht gekommen wären. Insgesamt jedoch freut der Enthusiasmus, mit dem Breme sich dieser wichtigen zeitgenössischen Fragestellung widmet, sodass man dem Buch viele Leser_innen und dem Projekt rege Aufmerksamkeit wünscht. Auf dass der intendierte Austausch zustande komme und zu weiterführenden Forschungsergebnissen in diesem Bereich führe.


(1) Siehe z. B. ‹Agora› 1–2/2018 und 3–4/2018, ‹Kernpunkte› 12/2019.
(2) Ausgabe 4/2020.
(3) Ausgabe 06/2017.
(4) Ausgabe 11/2014.
(5) Vgl. z. B. Bernard Lievegoed, Der Mensch an der Schwelle. Verlag Freies Geistesleben, 5. Auflage, Stuttgart 2012.

Buch Christian Breme, Das Geheimnis der Matrioschka, Ikaros Verlag Basel, 2020, ISBN 978-3-9524921-4-7

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