Einen Monat nach der Tagung der Jugendsektion und der Sektion für Landwirtschaft zum Thema ‹Atmen mit der Klimakrise› schildern die Verantwortlichen ihre Erfahrungen mit dieser aus den Beschränkungen der Corona-Krise gewonnenen Form einer digitalen Großveranstaltung. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Wie sind eure Erfahrungen?

Constanza Kaliks Wir Verantwortlichen der Tagung saßen am Rand der Bühne und konnten so die gesamte Szene beobachten. Dabei war interessant, wie viele Schichten der Abstraktion zu sehen waren. Du sahst den Filmer, das, was der Kameramann gesehen hat, dann den Ausschnitt auf seinem Bildschirm, die Vortragende und dann auf einem Endgerät in Brasilien das Bild der Sprecherin und ihre Rückmeldung an uns: «Endlich bin ich einmal im Goetheanum!» Das war ein interessanter Widerspruch. Die vielschichtige Abstraktion und gleichzeitig die ganz reale Verbindung eines Menschen vom anderen Ende der Erde mit dem, was hier gerade jetzt geschieht, dieser Widerspruch war physisch greifbar.

Johannes Kronenberg Im Vorfeld hatten wir die Tagung zeitweise als hybride Veranstaltung geplant, bei der das Publikum sowohl im Saal wie auch weltweit an den Bildschirmen sitzt. Es war für dieses erste Mal gut das das nicht möglich war. Denn so war das Team der Tagung weitgehend anwesend und wir konnten alle Aufmerksamkeit auf die Substanz und deren Vermittlung konzentrieren. Das scheint mir gelungen zu sein. Gleich bei einer ersten Tagung den Spagat mit Publikum vor Ort und Publikum online zu bewältigen, das wäre schwierig geworden.

Wo warst du mit deinem Bewusstsein, als du Charles Eisenstein moderiert hast?

Kronenberg Größtenteils beim Publikum, denn ich habe versucht, mich in all die Menschen hineinzuversetzen, die ihn noch nicht kennen. Dann habe ich die Rückfragen im Chat verfolgt. Die haben allerdings eine Verzögerung, denn jemand hört Eisenstein zu, entwickelt dabei eine Frage, sucht nach einer Formulierung und bis er sie eingetippt hat, ist der Vortrag oder das Gespräch schon weiter. Es ist deshalb immer eine Frage, wie man diese ‹verspäteten› Voten dann doch noch integrieren kann.

Verena Wahl Dass die Tagung ‹läuft›, dass uns technisch alles gelingt, das habe ich mir vorstellen können, aber nicht, ob es sich tatsächlich wie eine Tagung anfühlen wird. Mein eigenes Gefühl und auch die vielen Rückmeldungen waren dann aber eindeutig: «Es ist eine Tagung!» Dabei hat mich deren Leichtigkeit überrascht.

Ueli Hurter Mir sind drei Dinge aufgefallen: Schluckt jetzt diese ahrimanische Technik all unser inneres Bemühen weg – das habe ich, haben wir uns ja gefragt. Wir wussten es nicht! Schon vor der Tagung haben wir in der Rudolf-Steiner-Halde die Beiträge zu den Michaelbriefen aufgezeichnet. Diese Arbeit an Rudolf Steiners stark kondensierten Texten gehört naturgemäß zu den innerlichsten Momenten unserer Tagung. Die drei Vortragenden hatten sich deshalb mit Recht gefragt, ob diese Beiträge, die ja fast gemeinschaftliche Meditationen sind, über Video aufgezeichnet werden sollen. Die Erfahrung hier: Es geht! Es gab nur sehr wenige Menschen, die das anders beurteilt haben. Interessanterweise war ja die Frage des Umgangs mit der Technik auch der Inhalt des Michaelbriefs ‹Von der Natur zur Unter-Natur›. Somit waren wir mit unserer Tagungssituation in der Corona-Zeit und dieser geisteswissenschaftlichen Betrachtung in voller Übereinstimmung. Das Zweite: Es gab von einigen die Idee, oder vielmehr die Inspiration, dass wir uns auf der Bühne des Goetheanum umdrehen, also nicht in den Saal sprechen, sondern den Saal im Rücken haben. So waren im Hintergrund der Vortragenden immer die farbigen Fenster, die Säulenmotive, zu sehen. Das war großartig! Das erinnerte mich an unsere Tagung vor zehn Jahren mit Nicanor Perlas und Klaus-Otto Scharmer, wo wir mit 300 Teilnehmenden auf der Bühne ein World-Café veranstalteten. Bei der Tagung 2011 erprobten wir eine ganze Reihe von neuen Formaten, die dann zur Kultur hier am Goetheanum wurden. Ich frage mich, ob diese Tagung zum Klima nun ebenfalls einen solchen Wendepunkt anzeigt. Ich vermute es. Und ich vermute, dass es da kein Zurück gibt. Das Dritte: Es war sehr wichtig, dass fast alle Vortragenden und Mitarbeitenden der Tagung vor Ort waren. So entstand hier ein Teamgeist, wie ich ihn selten, vielleicht noch nie erlebt habe. Zum Schluss hatten wir Sektionsverantwortlichen noch den paternalistischen Reflex, dass es jetzt eine Bedankung aller Mitarbeitenden geben müsse. In der Nachbesprechung kam uns dann entgegen: «Das hättet ihr gut sein lassen können, wir waren doch ein Team!» – Und das war so. Diese Dimension von Teamarbeit, das ist Neuland.

Foto: Xue Li

Kaliks Das hängt für mich damit zusammen, dass für beinahe alle, selbst den Filmer Philip Wilson, es in dieser Form etwas Neues war. Somit saßen alle im gleichen Boot des Nichtwissens, des Noch-nicht-wissens. Es ist so anders und wohl alle haben gespürt, dass es in gewissem Sinne ein Wagnis ist. Da rollte nicht etwas aus, was man schon kann, sondern alles entstand neu. Das war schön und verbindend.

Kronenberg So ursprünglich und neu das Format der Tagung war, so ausführlich haben sich die Beitragenden vorbereitet. So haben sich Anet Spengler und Ronja Eis für ihren dialogischen Vortrag Wochen vor der Tagung mehrere Male abgesprochen, um ihre Inhalte zusammenzubringen. Es galt wohl für alle Bereiche, dass die Vorbereitung aufwendiger war als bei einer klassischen Tagung. Der Lohn ist dann ein entspannter Tagungsablauf.

Wahl Die Vorbereitung war auch dichter, weil wir uns viel stärker in die vier Tage der Veranstaltung und in das Publikum am Bildschirm hineinversetzen mussten. Wenn die Tagung dann beginnt, fühlt man wohl: Wir haben gemacht, was wir konnten, und jetzt geht es los!

Kaliks Dieser neue Charakter der Tagung hatte ja viele Schichten: Die Mitarbeitenden der Sektionen kamen seit September beinahe wöchentlich zusammen. Da mussten wir uns finden. Das schaffte die besondere Zusammenarbeit.

Welche alten Tagungsformen und -gewohnheiten kommen dabei an ihr Ende?

Kaliks Eine Sprecherin oder ein Sprecher und alle anderen als Zuhörende, das darf sich wandeln. Wir waren jetzt an der Tagung beinahe immer zu zweit am Pult, das ist etwas völlig anderes.

Hurter Was bisher bei Tagungen am Empfang, im Hausdienst geleistet wurde, das haben wir jetzt im Team selbst getan. Es könnte also sein, dass die klassische Arbeitsteilung, bei der wir Teams für die Infrastruktur haben und andere Teams für den Inhalt, gar nicht sinnvoll ist. Es gehört zum inneren Gefühl für solch eine Tagung, dass man das Zelt selbst aufstellt, das geht sogar bis zur finanziellen Abwicklung der Tagung.

Kronenberg Das gilt auch für die Teilnehmenden. Deren Zahl war ja über 1000, also ziemlich hoch, und es haben Menschen aus unerwarteten Regionen teilgenommen. So gab es eine große Gruppe aus den Philippinen. Diese Menschen können wirtschaftlich niemals oder nur sehr selten physisch an einer Tagung am Goetheanum teilnehmen. Nicht nur räumlich, auch zeitlich schenkte uns die digitale Form neue Möglichkeiten. So wurde kurzfristig eine Arbeitsgruppe aufgestellt zur Frage der Kühe und ihrem klimaschädlichen Methanausstoß. Da stellt sich in der biodynamischen Landwirtschaft ja differenzierter dar. 140 Teilnehmende kamen ad hoc zusammen.

Hurter Ja, wir hatten mit 10 oder 20 Interessierten gerechnet und dann waren es so viele. Und alle bekannten Fachleute auf diesem Gebiet, die seit 40 Jahren weltweit herumreisen, um über Kühe zu sprechen, waren dabei.

Wahl Was sich aus diesen Gründen auch ändert, das sind die Sprachen: Wir haben die Gespräche und Vorträge nun in Englisch, Spanisch, Französisch und Italienisch übersetzt. Französisch und Italienisch betraf jeweils nur 20 Teilnehmende, da wäre es besser gewesen, eine Übersetzung in Hindi zu haben. Dazu gehört auch die Frage der Zeitzonen. Wir haben das zwar bei den Hauptvorträgen schon berücksichtigt – sie fanden am Nachmittag statt, sodass sowohl Interessierte in Asien wie auch in Süd- und Nordamerika an den Vorträgen teilnehmen konnten. Da ist weltweit die größte ‹Wachheit›. Wir hatten aber zu wenig bedacht, dass das Tagungsleben dann, wenn wir schlafen gehen, weiterläuft. Da haben dann Teilnehmende aus dem pazifischen Raum nachts den Support übernommen und die Chats moderiert. Ist das nicht cool? Da wird sich viel ändern müssen, wir waren hier noch nicht genügend vorbereitet.

So gab es eine große Gruppe aus den Philippinen. Diese Menschen können wirtschaftlich kaum physisch an einer Tagung am Goetheanum teilnehmen.

Wo müssen wir in diesem Sinne umgraben, neu pflügen?

Hurter Die zwei Teams sind hier vorausgeeilt. Es wäre gut, wenn das und all die Erfahrungen, die wir gemacht haben, dem gesamten Goetheanum zugutekommen und zum Lernprozess für die ganze Organisation werden.

Kronenberg Bisher waren wir als Haus so eingerichtet, dass die Grenze bei 1000 Teilnehmenden lag. Bei digitalen Veranstaltungen kann das andere Formen annehmen. Dabei sollen die Onlinetagungen die bestehenden Veranstaltungen nicht verdrängen. Wir haben auch damit experimentiert, wie sich auf einer Tagung vor Ort schnell einzelne Arbeitskreise bilden können. Da werden wir weitere Experimente brauchen. Was ist, wenn wir bei einer Tagung in drei Jahren 10 000 Teilnehmende haben? Wie können wir das tragen und halten? Das ist eine Frage, denn auch hier gibt es ein Maß, eine Obergrenze.

Kaliks Rückblickend sind mir Dinge aufgefallen, auf die wir achten sollten: Der erste Vortrag hätte auf Englisch stattfinden können, das ist die Sprache die für die meisten Teilnehmenden ohne Übersetzung verständlich war. Wir haben mit dieser Tagung Menschen ans Goetheanum geholt, die noch nie hier waren. Daraus entsteht eine Verpflichtung, eine Verantwortung. Jetzt haben wir neue Freunde! Zu ihnen sollten wir weiter den Kontakt pflegen. Die neuen Freunde, die jetzt vom Goetheanum als von ‹ihrem› Goetheanum sprechen, die erwarten etwas. Wir müssen jetzt deshalb im Haus an viel mehr denken, als zuvor.

Ähnlich wie 2011 mit den World-Cafés war es wieder die Sektion für Landwirtschaft, die hier zur Pionierin für das Goetheanum wurde – oder?

Hurter Die Landwirtschaft ist mit dem Boden verbunden und in seinem ewigen Jahreskreislauf verleiht er diesen Berufen einen sprichwörtlich sicheren Grund, von dem aus man Zukunft kommen lassen kann. Vielleicht fällt es uns deshalb manchmal zu, diesmal gemeinsam mit der Jugendsektion, für das Goetheanum als Ganzes einen solchen Sprung in die Zukunft zu machen.

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