Zum ersten Mal stellen die Vereinten Nationen die psychische Gesundheit auf eine Stufe mit schweren chronischen Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
In der Resolution, die im Herbst 2025 der Generalversammlung vorgelegt wurde, fordert die UN die Mitgliedstaaten auf, psychische Gesundheit in die Grundversorgung aufzunehmen. Ziel ist es, bis 2030 weiteren 150 Millionen Menschen Zugang zu psychologischen Gesundheitsdiensten zu ermöglichen. Dieser Wandel ist eine historische Wende! Psychische Gesundheit wird nicht mehr als separater Bereich verstanden, sondern als organischer Bestandteil der körperlichen Gesundheit. Doch wie in jeder großen politischen Gleichung gibt es einen Punkt, an dem aus dem Blick gerät, was uns Menschen zu Menschen macht. Dort beginnt der Schatten dieser eigentlich begrüßenswerten Entwicklung.
Von der Seele als Symptom zur Seele als Parameter
Die neue international-politische Argumentation behandelt psychische Gesundheit jedoch als ‹Risikofaktor› für chronische Krankheiten. Depressionen, Angstzustände und Schlafstörungen werden in messbare Daten geronnen und als solches Zahlenwerk auf eine Stufe mit Blutdruck und Cholesterin gestellt. Die Absicht ist überaus wertvoll und hat eine menschlichere Medizin im Blick, und niemand stellt die Notwendigkeit einer umfassenderen Versorgung infrage. Hinter der Fürsorge zeichnet sich eine neue Art von Verwaltung der Seele ab. Das Innenleben von uns Menschen wird zum Feld regulatorischen Managements. Rudolf Steiner warnte bereits 1917: «Die menschliche Seele ist weder eine Maschine noch ein Organ – sie ist der Raum, in dem der Geist Erfahrungen in der Materie sammelt.» Wenn die Seele lediglich zu einem ‹Interventionsfeld› wird, verliert sie ihre Bedeutung als Trägerin von Sinn. Aus Fürsorge wird Überwachung, aus Heilung Sorge um die Seele, Standardisierung des Innenlebens.
Eine Psychologie ohne Geist!
Rudolf Steiner weist in seinen Vorträgen ‹Psychoanalyse im Lichte der Anthroposophie› auf etwas hin, das heute prophetisch klingt: «Wenn die Psychologie von ihrer Beziehung zum Geist losgelöst wird, hört sie auf, die Seele zu heilen, und beginnt, sie nach den Instinkten der Zeit zu formen.» Die Psychoanalyse, so sagte er, versuche, den Geist auf die Ebene des Unbewussten herabzuziehen. Heute bestehe die Gefahr, dass er noch tiefer sinke – auf die Ebene von Algorithmen und Verwaltungsprotokollen. Wenn die ‹psychische Gesundheitsversorgung› zu einer bürokratischen Pflicht der Staaten werde, drohe die Spiritualität jedes Menschen in der statistischen Uniformität der Systeme unterzugehen. Die anthroposophische Medizin betrachtet die psychische Gesundheit nicht nur als ein Gleichgewicht der Biochemie oder als messbare ‹emotionale Leistung›, sondern als einen Rhythmus zwischen den vier Mitgliedern der menschlichen Existenz. Wahre Heilung beginnt, wenn die Seele ihren Rhythmus zwischen Leben und Weisheit, zwischen Biologie und Bewusstsein wiederentdeckt. Es gibt kein Protokoll, das dies vorschreiben kann.
Von der Pflege zur Normalisierung
Die Integration der psychischen Gesundheit in die Grundversorgung wirft auch rechtliche und ethische Fragen auf. Wenn Hausarzt und Hausärztin verpflichtet werden, den psychischen Zustand einer Person zu ‹beurteilen›, was bedeutet das für die individuelle Freiheit? Wenn Daten zur psychischen Gesundheit in elektronische Patientenakten aufgenommen werden, wer hat Zugriff darauf? Wenn internationale Richtlinien einen ‹Standard für psychisches Gleichgewicht› definieren, wie lässt sich dann die Vielfalt der menschlichen Seele vor den normativen Ansprüchen der Gesundheitspolitik schützen?
Nach Rudolf Steiner lohnt es sich, uns Menschen weniger als ein zu beobachtendes Phänomen zu verstehen als vielmehr als ein zu begleitendes Wesen. Wenn wir versuchen, ihn zu ‹korrigieren›, verlieren wir ihn.» Die Seele im anthroposophischen Sinne braucht keine Kontrolle – sie braucht Verständnis. Psychische Erkrankungen sind keine ‹Systemfehler›, sondern ein Ruf nach tieferer Bedeutung, die verloren wurde. Eine Medizin, die menschlich bleiben will, sollte diesen Ruf erkennen, nicht nur die Symptome.
Aus der Perspektive der Anthroposophischen Medizin ist das wichtigste Thema, das durch die neue Politik der UN aufgeworfen wird, nicht der Zugang zu Heilung, sondern die Freiheit. Psychische Gesundheit kann weder zu einer Verpflichtung werden, noch kann sie gesetzlich geregelt werden. Jede Seele hat das Recht, ihren eigenen Rhythmus zwischen Krankheit und Transformation zu gehen. Die Politik kann Versorgungssysteme organisieren, aber sie kann nicht vorschreiben, was psychisches Gleichgewicht ist, ohne die Einzigartigkeit des Menschen zu verletzen.
Die Anthroposophische Medizin sieht in psychischem Leiden nicht nur Schmerz, sondern auch Potenzial – das Potenzial, im Bewusstsein einen Schritt zu machen. Diese Erneuerung, wie Steiner schreibt, «kann nicht von außen aufgezwungen werden, sondern nur von innen geweckt werden».
Das neue weltweite Narrativ über psychische Gesundheit ist in seiner Absicht, sich um das Wohlbefinden zu kümmern, zweifellos zu begrüßen. Doch wo der Geist fehlt, läuft jede gute Absicht Gefahr, zu einem Mechanismus zu werden. Die Herausforderung der kommenden Jahre wird nicht der Zugang sein, sondern die Urheberschaft. Wer definiert die Seele? Genau hier hat die Anthroposophische Medizin mit ihrem Verständnis des Menschen als dreigliedriges und viergliedriges Wesen Wesentliches zu erinnern: dass Gesundheit nicht Konformität, sondern Beziehung ist – und dass Freiheit kein Luxus der Seele, sondern die eigentliche Voraussetzung für Heilung ist.
Litarturhinweis
- Rudolf Steiner: GA115, GA 143, GA 178, GA 205.
- Matthias Girke, Es ist der Geist, der sich den Körper baut. Wirksamkeit der Ich-Organisation im menschlichen Leib. Goetheanum, Nr. 46, 2023.
Weltpolitiker zeigen starke Unterstützung für politische Erklärung zu nicht übertragbaren Krankheiten und psychischer Gesundheit. Vierte Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Prävention und Bekämpfung nicht übertragbarer Krankheiten und zur Förderung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens.
Bild Amedeo Modigliani, ‹Il ragazzo› (Ausschnitt), 1919, Foto: Wikimedia








