Ein Zeuge

Die Liste der Morde von Oppositionellen mit Billigung oder im Auftrag des russischen Regimes reicht von Sergej Juschenkow (2003), Anna Politkowskaja und Alexander Litwinenko (2006) zu Boris Nemzow (2015) und nun Alexej Nawalny. Russlands Wandel in eine expansive Diktatur bekommt mit dem Tod des ‹einzigen echten russischen Politikers› ein erschütternd-tragisches Gesicht.


Der russische Menschenrechtsaktivist und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist tot. Ob er ermordet wurde oder an den Folgen seiner Haft zugrunde ging – diese Frage kreist um die Erde als Ruf nach Aufklärung des Geschehens. Es wird sie kaum geben, die faktische Wahrheit. Doch wir brauchen sie gar nicht, denn wir sind längst in ihrem Besitz. Nawalnys Sterben begann vor vier Jahren, als ihn der Kreml vergiften ließ. Sein physisches Überleben – vielleicht eher Überstehen – verdankte sich Gnade, Glück und der Geistesgegenwart der ihn umgebenden Menschen. Ein Mysteriendrama, wie es damals gelang, ihn herauszuschaffen und zur Rettung nach Berlin zu transportieren. Für einmal gab es kein Zögern und Zaudern der beteiligten staatlichen Westmächte – für einmal hörten sie ihn, den Ruf nach Hilfe, und handelten prompt. Danach aber kam das große Kopfschütteln der Weltöffentlichkeit – zwischen Bewunderung, Staunen und Kritik.

Kaum war der Schwerkranke halbwegs stabil, da verkündete er seinen Entschluss, so bald wie möglich nach Russland zurückzukehren. Das wurde von manchen als unvernünftig empfunden, von manchen gar als nicht nachvollziehbar. Angefangen vom Kalkül ökonomischer Machart: Was hat die russische Widerstandsbewegung davon, dass er sich freiwillig in die Fänge seiner potenziellen Mörder begibt – wäre es nicht viel sinnvoller, als einflussreicher Dissident die Opposition aus dem Exil zu unterstützen? Bis hin zum ebenso kalkulierenden Verdacht der Selbstüberschätzung: Ist er wirklich so naiv, zu glauben, dass die mediale Aufmerksamkeit ihn tatsächlich schützt? Wer so fragt, versteht nichts von dem, was aktuell als Zündstoff die Welt durchzieht und sie an ständig neuen Stellen auflodern lässt.

Wenden wir den Blick nach Westen. 2010 veröffentlichte der Gründer der Enthüllungsplattform Wiki­leaks, Julian Paul Assange, Dokumente, welche Kriegsverbrechen des US-Militärs im Regierungsauftrag belegen. Seitdem herrscht die absurde Situation, dass Assange für seine Tat von der Weltöffentlichkeit gefeiert und ausgezeichnet wird – u. a. Global Exchange Human Rights Award 2013, Stuttgarter Friedenspreis 2020 – und zugleich verfolgt, eingesperrt und bedroht wird. Sieben Jahre lebte er als politischer Flüchtling in London in der Botschaft von Ecuador, bis ihm im April 2019 der neue ecuadorianische Präsident das Asyl und die angenommene Staatsbürgerschaft entzog. Alles was gegen ihn vorgebracht wurde, hat sich als haltloser Vorwand herausgestellt. Die USA bestehen dennoch auf Auslieferung, um ihm den Prozess zu machen. Laut Anklage drohen 175 Jahre Haft! Während dieses Verfahren seit Jahren läuft, ist Julian Assange in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis ‹eingekerkert›. Er verbringt 22 Stunden pro Tag in einer drei mal zwei Meter großen Einzelzelle in Isolationshaft, ohne Internet oder sonstigen Weltzugang. Anderthalb Stunden pro Woche ist ihm Besuch gestattet – er hat eine Frau und zwei Kinder. 2022 beschloss die britische Regierung, ihn in die USA auszuliefern. Seine letzte Berufung wurde vom obersten Gerichtshof abgewiesen. Nun kam es zu einer letzten Anhörung im Februar 2024. Der Ausgang ist offen. Als allerletzte Rettung bliebe nur noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Wir stehen in einem Feuerofen weltweit, politisch, atmosphärisch, klimatisch, zwischenmenschlich. Es gibt keinen Ort, keine Verfasstheit, an deren Horizont nicht jederzeit etwas droht. Man kann es auf drei Begriffe bringen: Überhitzung – Spaltung – Erstarrung.

Im Dokumentarfilm ‹Navalny›, der 2022 veröffentlicht wurde, fragt der Regisseur Daniel Roher den Kremlkritiker, welche Botschaft er im Falle seiner Ermordung gerne übermitteln würde: Darauf antwortet Navalny erst auf Englisch und dann auf Bitten des Filmers auf Russisch: «My message for the situation when I am killed is very simple: Don’t give up!»

Kein Held, ein Bote

Doch das, was uns damit umgehen lässt, das ist eine Stimmung, die herrscht und die uns alle beherrscht – es ist Angst. Kein Mensch ist frei davon. Ob ich mich fürchte, sagen wir vor der Machtübernahme durch eine rechtsradikale Partei, oder ob eben diese Partei die Furcht der anderen, sagen wir vor Überfremdung, sich auf die Fahne schreibt: Solange wir uns fürchten, sind wir beinahe gleich. Im Grunde ist dies ja das einzige Programm extremistischer Ideologie: Es ist die instrumentalisierte Angst der Menschen, die bespielt und bedient wird. Aber davon frei zu werden, ist nicht so einfach, wie es scheint – es sei an Faust erinnert. Was den Namen Furcht, Angst, Sorge trägt, ist ein machtvolles Eigenwesen, das in der Menschenseele lebt. Nun trat Nawalny nach seiner Rückkehr nach Russland weniger als Held, vielmehr als Bote auf. Und seine Botschaft lautete: Fürchtet euch nicht! Was immer geschehen mag, habt keine Angst, lasst euch keine machen, denn das ist es, was das Regime will.

Aber wie gesagt, wir zweifeln daran, ob wir mit unserer Angst tatsächlich fertigwerden. Bearbeiten ja, und konditionieren oder sie psychologisch einhegen – aber sie besiegen? Wie soll das gehen? Es gibt nur einen Weg, der dazu führt, und das ist Liebe, bedingungslose Hingabe als einzig wirklichkeitsgemäßes Heilmittel. Vielleicht ist dies eine der Stellen, wo die Ost-West-Haltung der Seelen deutlich wird. Ein Mensch des Ostens, erst recht, wenn er in totalitären Machtstrukturen gelebt hat, der um die Tatsache des radikal Guten weiß und fühlt. Ob er sich diesem nun zuwendet oder nicht. Wie immer man dieses Wesen nennen mag, das einzig von sich sagen kann: Ich bin das Leben und zu sonst nichts in der Welt da, als da zu sein für dich.

Was uns die Angst nimmt

Keine Sekunde hat Alexej Nawalny gezögert, die geschenkte Lebenskraft und -zeit hinzugeben. Als Russe war ihm klar, dass er seine Landsleute nur auf diesem Weg davon überzeugen kann, wie ernst und ehrlich er es meint. Das ist kein Kalkül, sondern einfache Tatsache. Wer inmitten korrupter Verhältnisse, pervertierter Strukturen und in der Undurchschaubarkeit anonymer Machtvorgänge behaupten will, dass er es ehrlich meint, der kann nicht anders, als sein Leben zu geben und nicht einen Millimeter abzuweichen vom Ausdruck des guten Willens. Jetzt sind sie wieder unterwegs: das kleine Häuflein der Getreuen, der Freunde, die Blumen niederlegen und seiner gedenken – und natürlich ebenso die Schergen, die abschleppen, verhaften, foltern und töten, um der Bevölkerung beizubringen: Fürchtet uns und fürchtet euch!

Was tun wir im Gedenken an Alexej Nawalny? Wir sollten uns um Gottes willen hüten, seine Gestalt in den Grabenkampf der Pro- und Kontra-Debatte hineinzuziehen – nach dem Motto: Jetzt wird ja wohl der letzte Russlandversteher … einsehen müssen … Alexej Nawalny war und ist, was das Johannesevangelium beschreibt: ein Zeuge des Lichtes. Denn das heißt Märtyrer im griechischen Ursinn: Zeuge. Das Licht, in dem das Leben ist: Wir müssen neu lernen, uns dorthin zu wenden. Das wird uns die Angst nehmen.


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(Die Redaktion, 05.03.2024)


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