Ein Konzert des Dankes

Jochen Bockemühl studierte das Leben und hat dabei selbst ein naturwissenschaftliches Leben geschaffen von dem hier seine forschenden Gefährten ein Bild zeichnen.


Er entzündete in uns ein Feuer

Moon Maglana

Jochen hat uns tief berührt, inspiriert und herausgefordert. Wärme strahlte aus seinem Lächeln und sein Händedruck ließ keinen Zweifel offen, dass wir willkommen waren. Mit großer Verwunderung erlebten wir, dass er sich in derselben Art voller Aufmerksamkeit und Respekt jeder Pflanze zuwandte, die er uns zeigte. Unser erstes Treffen mit Jochen fand im August 2000 statt, als wir in Arlesheim am letzten IPMT-Seminar der Medizinischen Sektion teilnahmen. Wir: Liberty Santos, Paulita Baclig, Divina Hey Gonzales, Elizabeth Basosbas und ich, werden uns immer mit Freude an die Inspirationen erinnern, die es mit sich gebracht hat. Jochen hat unsere Sinne, unseren Geist und unser Herz geöffnet, um uns mit Pflanzen zu verbinden und den Standort, auf dem sie wachsen und gedeihen, umfassend mit einzubeziehen.

Jochen hat Divina ermuntert, Koffer voller einheimischer Heilpflanzen aus den Philippinen nach Dornach zu bringen, und er schenkte ihnen seine volle Aufmerksamkeit – eine Haltung, die uns mit großer Freude erfüllte.

Marian Alonzo und Cricket Chen kamen 2005 zum Natur- und Pflanzenstudium-Seminar dazu: «Jochens Naturbeobachtungen waren sehr aufregend. Jeden Tag tauchten wir tiefer in die Erdenkräfte und weiter in die Bildekräfte des Kosmos ein.» Auch Marian war begeistert: «Ich nahm bei der Jahreskonferenz der Medizinischen Sektion an einem Seminar über Herzglykoside teil und war fasziniert von den Wurzelgefäßen, in denen das Wachstum der Wurzeln unter der Erde so gut beobachtet werden kann.» Ich konnte bei Jochen eine drängende Not spüren, sein großes Wissen weiterzugeben und seine Beobachtungsmethoden zu teilen. Doch mehr als das, er wollte in uns eine Leidenschaft und ein Feuer entzünden, ein Verlangen, mit den Pflanzen in eine lebendige Beziehung einzutreten. Einmal ging es im Seminar um die Frage, wie man dieselben Fähigkeiten auch bei Landschaften anwenden könne. Zu unserem Erstaunen erzählte Jochen vom Vulkan Taal auf den Philippinen, der sozusagen mein Hausberg ist, weil er nahe bei meinem Arbeitsort liegt. Jochen muss ihn zwei- oder dreimal aufgesucht haben. Am Ende des Seminars stellten wir fest, dass wir alle unsere eigene Menschennatur tiefer kennengelernt hatten. Es war klar, dass wir dieses Ereignis dem Erkenntnisprozess verdankten, der uns zur Einsicht in die Phänomene der Pflanzenentwicklung geführt hatte. Er hatte uns geholfen, das Unsichtbare hinter den Phänomenen zu entdecken, wie Cricket sich mit Freude erinnert. Wir stellen fest, dass wir uns auf einer langen Reise zum Prozess des Lernens und Verlernens befinden. Und Jochen inspiriert uns mit seinem Leben, das von Leiden, Leidenschaft und Hingabe erzählt.


Der Weg nach Norden

Bente Pünther und Ola Aukrust

Norwegen – ‹der Weg nach Norden› – war für Jochen Bockemühl ein vertrauter Weg und stand im Zeichen einer langjährigen Zusammenarbeit. Sie begann mit Bente Pünther. Nach ihrem Naturwissenschaftlichen Studienjahr im Glashaus Anfang der 80-Jahre arbeitete sie auf einem Hof in Numedal, wo Tor Ditlefsen, auch ein Schüler aus dem Glashaus, tätig war. Tor hatte mit Albert de Vries aus Holland studiert, und Albert wurde eingeladen, um die Arbeit mit einem goetheanistischen Forschungsring in Gang zu bringen. Die eigenen Sinneserlebnisse und die dazugehörige Bildhaftigkeit der Natur standen im Vordergrund.

Mit mehr Mut und Erfahrung wurde dann Jochen Bockemühl eingeladen, der in den ersten Jahren die Seminare und die Arbeit mit dem Ring for Goethanistisk Landbruksforskning auf Sørum, Hedemarken begleitete. Ola Aukrust absolvierte das Studienjahr 1984/85. Zurück auf dem Hof, organisierte er mehrere Seminare mit Jochen in der norwegischen Bergwelt, wo von 1990 bis 1994 der Forschungsring auf dem großen biodynamischen Hof Fokhol zu Hause war.

Die ‹Kerntruppe› des Goetheanistichen Rings bestand aus drei Frauen, alle ehemalige Glashausschülerinnen: Bente, Judith van Koesveld und Ingeborg Kjems Simonsen. Es wurden Pflanzen­entwicklungsstudien und Blattmetamorphosen gemacht, oft in Zusammenarbeit mit Bauern und Praktikanten. Diese Arbeit entwickelte sich weiter im Rahmen einer großen, öffentlich finanzierten Studie mit dem Ziel, Entwicklungsmöglichkeiten des ökologischen Landbaus zu erforschen. Es war eine Fallstudie mit 30 Höfen in unterschiedlichsten Landschaften in ganz Norwegen. Meistens wurden quantitative Parameter wie Ertrag und Leistung untersucht. Der Ring bekam den Auftrag, die qualitativen Aspekte zu beleuchten. Hierzu gehörten eine Hofbeschreibung und eine Zeichnung des Hofes. Von wildwachsenden Präparatepflanzen wurden typische Exemplare ausgesucht, gepresst und fotografiert. Ein Höhehpunkt der Zusammenarbeit mit Jochen und der Naturwissenschaftlichen Sektion war die Landschaftswoche in Lom, auf dem Berg-Hof von Ola, im August 1999, die von Hans-Christian Zehnter vorbereitet wurde. 75 Teilnehmende aus vielen Ländern kamen zusammen, um Landschaftwahrnehmung und Gestaltungsfähigkeit zu schulen. Mehrere Male kam Jochen zusammen mit seiner Frau Almut nach Norwegen, Almut als Märchenerzählerin liebte die norwegischen Märchen. Der letzte Besuch fand 2008 in Lom statt, in Rahmen eines Seminars von Petrarca, der europäischen Landschaftsakademie.

Motive für den Alltag

Wir beide, Bente und Ola, sind seit vielen Jahren als Landwirte und Gärtner tätig. Wenn man sagt, «Jeder Mensch ein Künstler» oder «jeder Mensch ein Forscher», geht es nicht um einen Beruf, sondern um eine Qualität. Für uns heißt das, dass die Inspiration von Jochen im Alltag sehr gegenwärtig ist, auch wenn wir nicht direkt als ‹Forscher› im herkömmlichen Sinne des Wortes tätig sind. Hier ein Versuch, einige produktive Motive kurz zu beschreiben:

Das genaue Hinschauen

Eine Essenz von Jochens Bestrebungen: die Vorstellungen in den Hintergrund schieben, damit die Sinneswahrnehmung unbeschattet geschehen kann. Das Phänomen sprechen, die Einzigartigkeit der Dinge aufleuchten lassen. Das, was gestern war, ist heute schon vorbei. Oder, wie Vaclav Havel es ausdrückt: der «Versuch, in der Wahrheit zu leben».

Illustration: Adrien Jutard, inspiriert von
den Blattreihen zur Metamorphose von Jochen Bockemühl, Monotypen, 2020

Die Bildhaftigkeit des Lebens

Leben ist immer ein Zusammenspiel von komplexen Faktoren. Das Entwickeln von inneren Bildern ist ein Versuch, der Lebendigkeit gerecht zu werden. Ein Bild kann Aussagekraft für das Handeln geben, wir nähern uns Imagination, Inspiration und Intuition. Ein Handeln aus dem Ergreifen der Gegenwart, aus einer günstigen Wetterlage oder einer Konstellation von Menschen. Claus Otto Scharmer hat diese Gegenwartsqualität «pre-sensing» genannt. Oft muss man als Bauer das Tageskonzept umkrempeln, wenn nach Trockenheit der gesegnete Regenschauer kommt oder die Ziegen im Garten des Nachbarn stehen.

Freude an Entwicklung

Entwicklung ist das Lebensprinzip, alles hat seine Zeit, und sie geht immer zu Ende. Etwas ist vorbei, und oft sind wir geneigt, diese Tatsache nicht ernst zu nehmen. Also entsteht ein Leben im Vergangenen, statt die Herausforderung zur Erneuerung zu ergreifen. Die Fähigkeit zur Metamorphose ist eng mit dem Begriff der Kreativität verwandt. Das irdische Leben von Jochen Bockemühl ist vorbei. Wir sind viele Menschen, deren Lebensquelle durch Jochen bereichert worden ist. Es liegt an uns, diesen Lebensfluss weiter fließen zu lassen.


Eine Begegnung wird zur Lebensbegegnung

Andrea D’Angelo

Meine Lebensaufgabe ist die Entwicklung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft in den Tropen Brasiliens und Südamerikas. Der Schwerpunkt meiner Forschungen sind der Anbau der Präparatepflanzen, ihre Verarbeitung und die Anwendung der Präparate. Zusätzlich bin ich verantwortlich in der biologisch-dynamischen Fortbildung.

Wesentliche Impulse aus der Zusammenarbeit mit Jochen Bockemühl ermöglichen mir Haltung und Arbeitsformen bei meinen Tätigkeiten in Brasilien.

• Einklang von Ganzheitlichkeit und Individualität: von sich aus das Ganze betrachten mit dem Bewusstsein, in den Wahrnehmungen Wesenhaftes zu erleben. Diese Erfahrungen auf die landwirtschaftliche Individualität übertragen.

• Einfach und nicht kompliziert: aus der Vielfalt der Wahrnehmungen das Wesentliche in der Einfachheit erfassen. Zum Aufbau von Land(wirt)schaftskulturen aus der unmittelbaren Wahrnehmung in die Tat übergehen.

• Die intime Wechselwirkung der Natur: Die Beziehung der Elemente ist wirksame Substanz in Wärme, Luft, Wasser und Erde. Sie soll erfasst werden als intime Wirkung der Lebens- und Gestaltungsformen der Erde, der Gewächse und im Bereich der Tiere. Der Beobachter ist Miterzeuger des Webens der Elemente und der Naturreiche durch die Herstellung und Anwendung der Präparate.

• Das Lebendige im Bereich dazwischen: Das Leben ist Offenbarung von Übergängen zwischen Elementen, Naturreichen, Formgestaltung und sinnlich Wahrnehmbarem. Im unhörbaren und unsichtbaren Dazwischen offenbart sich das Leben.

• Atmung der Jahreszeiten: Rhythmus und Bewegung sind Offenbarung vom Zeitlichen und Unvergänglichen der Natur und des Menschen.

• Seelenkalender und Meditation: das Bewusstsein der Vielseitigkeit des Seelenkalenders im nördlichen und südlichen Teil der Erde. Die Wochensprüche als Impuls zur meditativen Arbeit mit den Präparaten, Rühren und Anwendung im Felde. Die meditative Stimmung bekommt dadurch eine zusätzliche Aufgabe in der sozialen Struktur der Zusammenarbeit auf dem Land. Die Meditation ermöglicht Begegnung und Gespräch zwischen Menschen und Naturreichen.

• Der Mensch beinhaltet in sich die Welt: Die Arbeit in der Landwirtschaft ist Mittel der realen Offenbarung des Zeitgeistes und ruft den Menschen auf zu Verantwortung und Selbsterkenntnis. In der Selbsterkenntnis begegnet sich Welt im Menschen.

Die Begegnung mit Jochen ist für mich eine Lebensbegegnung. Die dank Jochen erworbenen Seelenqualitäten unterstützen meine Tätigkeiten in der biodynamischen Landwirtschaft. Biodynamische Landwirtschaft ist ein Weg zur Anthroposophie im Tun und Tätigsein und offenbart die nachhaltigste Auswirkung menschlicher Arbeit.


Im Austausch verstand ich ihn am besten

Stefan Langhammer

Während meines Biologiestudiums war ich schon früh den Schriften von Jochen Bockemühl begegnet. Selbst sehr dem Goethe’schen Naturzugang zugeneigt, interessierten mich seine Ausführungen zur Gegenläufigkeit der Zeitströme in der pflanzlichen Blattbildung lebhaft. Erst viele Jahre später entwickelte sich ein lebendig-freundschaftlicher Kontakt zu dem inzwischen über 80-Jährigen und seiner Frau Almut. Meist ging es bei einer Tasse Tee recht schnell in medias Res – über Themen, die ihm am Herzen lagen: Wie lassen sich naturwissenschaftliches und geisteswissenschaftliches Erkennen unterscheiden, wie vorstellendes und anschauendes Denken? Wie kann Leben innerlich erfasst werden? Was ist ein geistgemäßer Wirklichkeitsbegriff? Von zahlreichen eng beschriebenen Rückseiten alter Karteikarten und Schmierpapieren las Jochen vor, was er sich aktuell notiert hatte und woran sich stets ein lebhaftes Gespräch entzündete. Dabei erlebte ich, dass ich ihn besser im direkten Austausch als vermittels des geschriebenen Wortes verstand. Das Niedergeschriebene hatte oft aphoristischen Charakter – viel Ausradiertes, immer wieder neu Formuliertes ließ erkennen, wie er um einen adäquaten Ausdruck seiner Gedanken rang. So war Jochen froh, wenn ich, indem ich seine Aufzeichnungen transkribierte, die Gedanken sprachlich überarbeitete. Ein spannender Prozess, der 2012 in die gemeinsame Abfassung eines Artikels für den ‹Merkurstab› mündete. – In der Folgezeit tauchten bei Jochen vermehrt Bilder aus seiner Kindheit und Jugend auf sowie sein Bedürfnis, das, was für ihn im Leben essenziell war, zusammenzuführen. Es entstand ein kurzer biografischer Abriss seines Lebens bis zu der Zeit, als er 1956 nach Dornach kam. Daran schloss sich als Grundmotiv all seiner folgenden Arbeiten die Umschreibung des Weges zu einem lebendigen, sich seiner selbst bewusst werdenden Denkens an als Basis einer geistgemäßen Wirklichkeitserkenntnis. Wesentliche Wegmarken seines Lebenswerkes konnte Jochen jedoch nur noch als Schema aufs Papier bringen, bevor sein körperlicher Zustand ihm kaum noch ein konzentriertes Arbeiten erlaubte. Auch als meine Besuche arbeitsbedingt seltener wurden, äußerte Jochen nie ein vorwurfsvolles Wort, sondern war stattdessen für jeden noch so kurzen Austausch dankbar. Bis zuletzt notierte er seine Gedanken auf den Rückseiten aufgeschnittener Arzneimittelschachteln und freute sich, wenn man diesen Worten Interesse schenkte und sie befragte.


Pflanzen sind vorzügliche Lehrer

Craig Holdrege

Als Student im Studienjahr der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum (1979/80) bearbeitete ich als Jahresprojekt die Frage der Vererbung. Ich war zunächst nicht sonderlich an Vererbung interessiert – wie viel spannender waren Metamorphose und Verwandlung! Jochen hatte das Thema vorgeschlagen, und ich konnte nicht nur Versuche machen, sondern auch eine Gedankenrichtung weiterentwickeln, die vielversprechend schien. Ich habe damals nicht geahnt, dass in den folgenden dreißig Jahren Vererbung für mich ein zentrales Forschungsgebiet bleiben würde.

Rückblickend finde ich es interessant, dass etwas Lebensthema werden kann, zu dem man sich zunächst nicht hingezogen fühlt. Auf die Anregung eines anderen Menschen hin begann die Arbeit und wurde wichtig. Wir haben damals nicht gewusst, wie stark sich Gentechnik entwickeln würde. Durch die im Dornacher Glashaus begonnene Arbeit, die auf jahrzehntelangen Bemühungen von Jochen beruhte, das Leben selbst differenzierter und wirklichkeitsgemäßer zu erfassen, konnte in Kursen, Vorträgen und Veröffentlichungen anderen Gesichtspunkten eine Stimme gegeben werden.

Nach dem Studium am Glashaus – eines der bildungsreichsten Jahre meines Lebens – wurde ich Waldorflehrer. Jochen hatte eine besondere Art, immer tiefer die Erscheinungen des Lebens zu durchleuchten. Er hatte eine feine Wahrnehmung, wie das Denken sich betätigt, wenn wir Dinge und Prozesse beobachten – bescheiden und klar. Ich wollte diese «zarte Empirie» (Goethe) erüben. Jochen griff den Vorschlag auf, eine jährliche Biologentagung zu beginnen. Für mich und andere waren diese Tagungen Höhepunkte im Jahr. So kam ich öfters nach Dornach, und meine eigene Forschungsweise nahm Gestalt an, angeregt durch eine forschende Gemeinschaft.

Schon bevor ich Jochen und die Arbeit am Glashaus kannte, hatte ich die Idee, in den USA (von wo ich herkomme) eines Tages ein Zentrum für goetheanistische Arbeit aufzubauen. Als ich im Jahre 1992 in die USA zurückkehrte, begann ich diese Idee umzusetzen. Ich hatte die verschiedenen Arbeitsweisen am Glashaus vor Augen. Es ging mir nicht um ein Kopieren dessen, was ich da erlebt hatte. Aber eine Art von Vorbild war es doch. The Nature Institute existiert im Staat New York nun seit 1998 als Ort für goetheanistische Forschung, Erwachsenenbildung und die weltweite Verbreitung dieses Ansatzes im englischsprachigen Raum.

In unseren Kursen geht es darum, in konkrete Erfahrungen an der Sinneswelt einzutauchen. Ich nehme Pflanzen oft als Fokus für diese Arbeit und weiß, wie stark die Bemühungen wurzeln in dem, was ich von Jochen gelernt habe über Metamorphose und die Plastizität der Pflanzen, sich gemäß verschiendenen Umgebungsbedingungen zu gestalten. Pflanzen sind vorzügliche Lehrer des lebendigen Schauens und Denkens. Das habe ich in meinem Buch ‹Thinking Like a Plant: A Living Science for Life› dargestellt.

Jochen hat immer an seinen Grenzen gearbeitet; er wollte weiter und tiefer. Dies war für mich anregend, weil man reges, keimhaftes Leben spürte und nicht ein fertiges Produkt. Ich denke auch an die Liebe zu den Erscheinungen und die Disziplin, nicht mehr zu sagen, als man selbst zu sagen in der Lage ist. Georg Maier, Jochens langjähriger Kollege, hat öfters eine Fußnote Rudolf Steiners zu Goethes Sprüchen in Prosa zitiert: «Esoterisch ist ein Begriff, wenn er im Zusammenhang mit den Erscheinungen betrachtet wird, aus denen er gewonnen wird. Exoterisch, wenn er als Abstraktion abgesondert für sich betrachtet wird.» Wie oft hat Jochen von der Bedeutung von ‹Zusammenhang› und ‹Erscheinung› gesprochen! Die Nähe zu den Erscheinungen zu behalten, Sorgfalt in der Begriffsbildung zu pflegen, ein zunehmend feines Gespür für Abstraktionen zu entwickeln und eine Sprache zu sprechen, die einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sein kann, sind Hauptanliegen des Nature Institute.

Mehr: Nature Institute

Jede sinnliche Wahrnehmung ist eine Begegnung, ein Dialog mit der Natur und den anderen Menschen, den wir aktiv mitgestalten!


Ein schmaler Streifen Himmel

Friedrich Edelhäuser, befragt durch Ruth Richter

Wie hast du Jochen kennengelernt?

2003 habe ich mit Diethard Tauschel und Christian Scheffer das Begleitstudium Anthroposophische Medizin an der Uni Witten/Herdecke begonnen. Eine Heilpflanzenexkursion im Sommer sollte Bestandteil des Studiums sein. Wolfgang Schad empfahl uns, Jochen Bockemühl anzufragen. Nach Lektüre einiger Artikel und Bücher wollte ich Jochen schon lange kennenlernen und griff den Vorschlag gerne auf. Wir planten gemeinsam eine zweiteilige Exkursion: zuerst in Dornach, dann in den Alpen.

Was erschien dir an Jochens Art, Pflanzenkunde zu betreiben, so wertvoll, dass du diese Exkursionen für deine Studenten beibehalten hast?

Die von ihm vorgeschlagenen Tagesausflüge erwiesen sich in ihrer Abfolge als geniale Komposition. Anstelle von theoretischen Inhalten wurden Erlebnisse für Leib, Seele und Geist vermittelt. Ein Beispiel: An einem heißen Sommertag unternahmen wir eine Wanderung durch das Kaltbrunnental. Auf dem Weg wurde es zunehmend feuchter, dunkler und kühler. Nur ein schmaler Streifen Himmel über der Schlucht ließ Licht einfallen. Am nächsten Tag erklommen wir den Gempen. Jochen wies uns auf eine exponierte Steinkante am Felsrand hin, ringsum lichtdurchfluteter Himmel, wo wir eine winzige Glockenblume vorfanden – unter anderen leuchtendfarbigen Blühern. Alle waren sie winzig, auf kurzen Stielen mit kaum ausgedehnten Blättern. Im Rückblick sollten die Teilnehmer ihre Eindrücke schildern. Sie waren es, die beschrieben, wie im Feuchtdunkeln Grün-Vegetatives, riesig Blattartiges dominierte, wie im Urwald. Nur wenige Farben, keine Blüten. Wie dagegen auf dem Felsband im gleißenden Licht die Pflanzen nahe dem Absterben blühten, auf eine Blütengeste reduziert. Jochen hatte die Fähigkeit, darauf zu verzichten, selbst die Theorie darzustellen. Was an Inhalt von den Studierenden erfasst und vorgebracht wurde, bestimmte das Weiterkommen.

Allein durch Almuts und Jochens Anwesenheit stellte sich eine seelisch aufgeräumte Atmosphäre ein, in der sich die Teilnehmenden ermutigt fühlten, persönliche Fragen im Einzelgespräch vorzubringen. So kam es, dass wir auf die Alpenexkursion auch dann nicht verzichteten, als Jochen bereits im Rollstuhl zu den Standorten der Pflanzen gefahren werden musste – mit Courage und zwei Seilen ließen sich die meisten Wege auch auf diese Weise bewältigen.

Wie würdest du Jochens methodischen Ansatz beschreiben?

Jochens Methode zielte auf ein zunehmendes Gewahrwerden dessen, was in der Wahrnehmung passiert. Er hat Angebote gemacht, um in die Anschauung zu gehen und sich dann zu vergegenwärtigen, was man dabei tut. Gefordert war, an der Beobachtung so lange dranzubleiben, bis die Sache sich selbst im Inneren aussprechen kann.

Erstaunlich ist auch, in welche Schichten man vorstößt, indem man Jochens Methode des Malens und Zeichnens aus der Erinnerung aufgreift. Wenn man etwa eine Pflanze malt und merkt, dass etwas nicht stimmt. Woher kommt dieses ‹Wissen›? Es zeigt, dass wir hinter allen bildhaften Vorstellungen in uns eine Instanz haben, die die innere Geste der Pflanze kennt.

Wie verhält sich Jochens Heilpflanzenerkenntnis zur Anthroposophie?

Die Frage, wie man Menschen mit einem modernen Wissenszugang anthroposophische Inhalte zugänglich machen kann, ist im Begleitstudium für das zweite und dritte Semester brisant. Faszinierend an Jochens Arbeit war für mich, dass er in der äußeren Anschauung den Weg nach innen gegangen ist und versucht hat, andere daran teilhaben zu lassen. Indem jede und jeder gefragt wurde, was in ihm selbst lebt von dem, was wir in der Welt draußen suchen, blieb Jochen ganz nah am Bewusstsein der Studierenden. Der Schritt von der Außenseite der gegenständlichen Welt zu der Stufe, auf der die Gegenstandswelt im Entstehen begriffen ist, ist für den anthroposophischen Weg ebenso zentral wie für die Überwindung der Subjekt/Objekt-Trennung. Seine Arbeit war menschenbildend und wissenschaftlich nahrhaft.

Im Brückenbauen vom menschlichen Innenleben zur Natur hat Jochen Pionierarbeit geleistet, indem er mit der Frage: Was suchst du, wenn du fragst ? vielen Menschen ihre eigene Beziehung zur Welt zugänglich gemacht hat.


Die Kultur der Landschaft als Schulungsweg

Sonja Schürger, Laurens Bockemühl und Thomas van Elsen

Vom Menschen verursachte Naturkatastrophen wie das Waldsterben, Dürren, Überschwemmungen sowie der drastische Rückgang der Artenvielfalt treten immer deutlicher ins Bewusstsein. Gleichzeitig löst sich unser Leben und Denken aus den Zusammenhängen der Natur, verstärkt durch Verstädterung und virtuelle Wirklichkeiten.

Viele Menschen spüren ihre Mitverantwortung, die Natur zu schützen. Doch vor wem soll sie geschützt werden? Hilflos sehen wir der Entfremdung zu. Wunsch und Wirklichkeit lassen sich nicht ohne Weiteres mit unserem Leben verbinden. Einzelne Maßnahmen können den Zerfall der Naturzusammenhänge als Ganzes nicht verhindern – wir haben den Bezug zum Ganzen verloren. Wie entsteht auf neue Weise eine persönliche Beziehung, eine Vertrautheit mit den Lebenszusammenhängen einer Landschaft? Aus dem Impuls, dafür neue Wege zu eröffnen, initiierte Jochen Bockemühl zusammen mit Hermann Seiberth die Übungswochen zur Landschaftswahrnehmung und -gestaltung. Diese fanden ab 1986 jährlich zunächst in Dornach, dann in Berlin, Dresden, Ungarn, Russland, aber auch in Norwegen, Schottland, den Niederlanden, Frankreich und Portugal statt.

Ein Höhepunkt war die Tagung ‹Die Kultur der Landschaft als Aufgabe› 2000 in Dornach, mit Vertretern aus Behörden und Institutionen, wie den Initiatoren der Europäischen Landschaftskonvention im Europarat. Die Fragen lauteten: Wie lassen sich der Charakter, die Individualität, der Wert einer Landschaft nachvollziehbar beschreiben? Wie hängt das ganzheitliche Erleben der Landschaft mit der Beobachtung der Einzelheiten zusammen? Jochen Bockemühl wies immer wieder darauf hin, dass wir jeder Wahrnehmung bestimmte Empfindungen und Begriffe entgegenbringen, ohne die wir nichts erkennen könnten. Unsere Blickrichtung und innere Empfänglichkeit bestimmen mit, wie das Andere durch uns zur Erscheinung kommen kann. Betrachten wir einen Baum, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass er eine Rückseite hat, die aber gar nicht sichtbar ist. Durch unsere innere Zuwendung schaffen wir im sinnlichen Anschauen den lebensgemäßen Zusammenhang als innere Ergänzung. Erst beides zusammen, die äußere und die innere Seite des Wahrnehmungsvorgangs, ergeben die Wirklichkeit als Ganzheit. Jede sinnliche Wahrnehmung ist eine Begegnung, ein Dialog mit der Natur und den anderen Menschen, den wir aktiv mitgestalten!

Unsere Blickrichtung und innere Empfänglichkeit bestimmen mit, wie das Andere durch uns zur Erscheinung kommen kann. Betrachten wir einen Baum, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass er eine Rückseite hat, die aber gar nicht sichtbar ist.

Einer Landschaft stehen wir nicht gegenüber wie einem Baum, sondern wir gehen in sie hinein und erleben das Einheitliche als Atmosphäre, mit der wir innerlich eins werden. Im Durchwandern verändert sich die Stimmung; wir entdecken eine Fülle verschiedener Einzelheiten, in die sich die anfänglich erlebte Ganzheit aufzulösen scheint. Doch durch alle Veränderungen hindurch bildet sich – als eine Art Hintergrund – etwas Durchgehendes, Wiedererkennbares, das diese Landschaft einzigartig macht. Im Rückblick lassen sich die Erfahrungen im Austausch mit anderen verdichten zu einer beweglichen inneren Anschauung des Charakters, des Wesens einer Landschaft. Wichtig ist dabei, die Bilder und Erinnerungen aktiv nachschaffend gegenwärtig zu erleben.

Diese ganzheitliche Erfahrung ist nicht vorstellbar, aber ebenso real. Sie kann durch jede neue sinnliche Wahrnehmung bereichert und deutlicher konturiert werden. Indem ich mich in einem nächsten Schritt mit dieser inneren Anschauung identifiziere, entwickelt sich daraus ein Wahrnehmungsorgan für das besondere Geistige dieser Landschaft, d. h. eine Begegnung mit dem Genius Loci auf eine zeitgemäße Weise!

Jochen Bockemühl wurde nicht müde, zu zeigen, wie das Bewusstwerden der eigenen Blickrichtung in der liebevollen Zuwendung zur Sinneserfahrung die Brücke bildet zum Geistigen in der Natur: «Erkenntnis beruht darauf, die Empfänglichkeit zu entwickeln für das, was durch die Erscheinungen zu uns spricht, und damit fähig zu werden, die innere Ergänzung im eigenen Innern entstehen zu lassen. Mit dieser Fähigkeit, die Erscheinungsvielfalt der Landschaft wahrnehmend in sich aufzunehmen, wächst der Reichtum des eigenen Wesens.» (1)

Indem jede und jeder Einzelne die Eigen-Art einer Landschaft in sich lebendig macht, kann sie gewürdigt und entwickelt werden. Petrarca, die Europäische Akademie für Landschaftskultur, bemüht sich, diesen Impuls weiter zu pflegen in Seminaren und Kursen zur Landschaftswahrnehmung und -gestaltung sowie in Forschungs- und Praxisprojekten.

(1) Jochen Bockemühl: Wege zu einer neuen Landschaftserkenntnis und Landschaftsgestaltung. Unveröffentlichtes Manuskript vom 20.8.2000

Mehr: Petrarca


A Feeling for the Organism

Ruth Richter

«Alle Wahrnehmungen führen auf etwas hin, das in mir lebt. Die Pflanze hat einen Bezug zu meinem Innenleben. Um die Pflanze wahrzunehmen, betätige ich bestimmte Kräfte in meiner Organisation. Je bewusster meine Erfahrungen und Bezüge sind, desto deutlicher kann ich an der Pflanze etwas ablesen. Ich kann eine Einzelbeobachtung als Eigenschaft der Pflanze sehen – ich kann sie aber auch als bildhafte Äußerung auffassen, die mit anderen Bildern zusammen dazu führt, dass die Pflanze in mir entsteht. Ich sehe nie die Pflanze selbst, sondern nur ihre Äußerungen; die Pflanze entsteht in mir.» Wenn ich meine Notizen zu Jochen Bockemühls Ausführungen im Studienjahr, in den Hochschulwochen oder in Kursen lese, fühlt es sich an wie der Anblick der Tapete über meinem Kinderbett: so vertraut, dass es ein Teil von mir ist – diese Worte und Bilder haben mich geformt. Jochen war mein Lehrer auf dem Gang in die Verwandlung der Welt von einer festgefügten Trennung von Innen- und Außenwelt in ein Reich von sich ständig wandelnden Beziehungen.

Jahrelanges Üben im Beobachten meiner stetig an der Pflanze draußen korrigierten Vorstellungstätigkeit hat mir ein Gefühl für den Organismus Pflanze gegeben. Das wende ich heute an, wenn es darum geht, wilden Heilpflanzen die Kultivierung durch den Menschen schmackhaft zu machen oder in der Züchtung aus Populationen geeignete Heilpflanzentypen zu selektieren.

«Wenn ich bemerke, dass Wahrnehmungsinhalt Tätigkeit ist, dann taste ich in meinem Denken durch Bewegung die Beziehung der Dinge untereinander ab. Die Denktätigkeit, die ich aufbringe, gehört zur Wirklichkeit des betrachteten Organismus. Wir sind das bewegte Medium. Mit jedem Schritt, den ich tue, mit jedem Gedanken wird die Welt verändert.» Solche Sätze haben Mut gemacht. Die Botschaft war: Es kommt auf uns an.

Im Studienjahr nahm Jochen uns Studierende täglich mit auf Denkausflüge oder Sinnesexkursionen. «Wenn ich bemerke, dass Wahrnehmungsinhalt immer Tätigkeit ist, dann bin ich nicht mehr außen, dem Gegenstand gegenüber, sondern taste in meinem Denken durch Bewegung die Beziehung der Dinge untereinander ab. Die Denktätigkeit, die ich aufbringe, gehört zur Wirklichkeit des betrachteten wachsenden Organismus. Wir sind das bewegte Medium. Mit jedem Schritt, den ich tue, mit jedem Gedanken wird die Welt verändert.» Solche Sätze haben Mut gemacht, auch wenn wir sie nicht unbedingt verstanden haben. Die Botschaft war: Es kommt auf uns an.

Jochen regte zu Beweglichkeit im Sehen an: zu Blickrichtungen unter Einbezug von vielen Verhältnissen anstelle von Vereinfachung. So wenig eindeutig und so schwebend, wie die Inhalte waren, war auch seine Art zu lehren. Man hatte nichts Festes in der Hand, aber man konnte mit ihm schwimmen lernen. Dieses Gefühl ist mir viele Jahre später bei der Lektüre von Merleau-Ponty wieder begegnet.

Als auf die Frage ‹Was ist Licht?› Schweigen herrschte, ließ Jochen kurzerhand den Raum durch Jalousien in Dunkelheit tauchen. Das Dunkel wurde schrittweise gelichtet – dabei konnten wir unsere Erlebnisse beschreiben: von verschwommenen Umrissen zu Form und Farbe, Differenziertheit und klaren Verhältnissen. Was hat das mit dem Erkennen der Pflanze zu tun? Auch die Pflanze äußert sich differenzierter, je mehr sie dem Licht ausgesetzt ist. Licht kann Zurückgehaltensein bedeuten, aber auch Förderung.

Begriffe dienten Jochen als Sprungbrett, um zu neuen Grenzen zu kommen. «Jeder Begriff ist nur ein Instrument, um die Wirklichkeit wahrzunehmen. Er ist nicht identisch mit der Wirklichkeit.»


Was zum Züchterblick wurde

Peter Kunz, Fonds für Kulturpflanzen-Entwicklung

Zu Beginn der 1980er-Jahre, in der Zeit meiner ersten Begegnung mit Jochen Bockemühl, fragte kaum jemand nach Sorten, die mit nachhaltiger Landwirtschaft übereinstimmen. Auch Jochens damals bereits bewährte Blattreihenmethode gab bei den gras­artigen Pflanzen nicht viel her. Hingegen wurde der sorgfältige Vergleich von Wurzel-, Spross- und Bestandesbildung bei verschiedenen Anbaubedingungen und Sorten, zu dem Jochen Bockemühl mich über Jahre unermüdlich anregte und ermutigte, bald zum Züchterblick-Kapital. Heute fruchtet es schon in über zwei Dutzend Weizen-, Dinkel-, Triticale-, Emmer- und Hartweizen-, Mais- und Erbsensorten. In der Schweiz und in gewissen Regionen Süddeutschlands wächst heute ein bedeutender Teil des ökologisch erzeugten Qualitätsweizens aus GZPK-Sorten zur Zufriedenheit der Landwirte, Bäcker und Konsumenten. Aus der Initiative vor 40 Jahren hat sich ein Züchtungsbetrieb mit zwölf Mitarbeitenden, die gemeinnützig anerkannte Getreidezüchtung Peter Kunz, entwickelt. Er wird jetzt von der zweiten ZüchterInnengeneration geführt und bringt jährlich neue Sorten für die Praxis hervor.

Alle Kulturpflanzen benötigen Entfaltungsspielraum für ihre Vitalität, für die Ertrags- und Qualitätsbildung im Reifungsprozess. Diese konstitutionelle Eigenschaft ist weit wichtiger als Fragen nach alten, regionalen oder sogenannten Hofsorten, nach der (Epi-)Genetik oder nach spezifischen Umweltkonstellationswirkungen. Die Beharrlichkeit, mit der Jochen Bockemühl immer wieder nach Phänomenen, eigenen Beobachtungen und Begriffsbildungen beim Verhältnis der Pflanzen zu ihrer konkreten Umwelt und zur Vererbung sowie zum Menschen gefragt hat, brachte ein reiches Entwicklungspotenzial an die Oberfläche, das noch längst nicht ausgeschöpft ist. Eine gesunde Pflanzenphysiologie und Architektur, die robuste und umweltstabile Sorten in ihrem Wachstumsverlauf heranbildet, führt zu hohen Ertragsleistungen und bester Nahrungsqualität. Das ist beschreibbar und kann als universelles Werkzeug erlernt und in der Praxis direkt verwendet werden. Das Instrument lässt sich weiterentwickeln und an neue Regionen und sich klimabedingt verändernde Anbaubedingungen anpassen. So entfaltete sich die Dinkelzüchtung eigenständig mit Catherine Cuendet und der Getreidezüchtung Peter Kunz Deutschland. Und in den nächsten Jahren wird auch die Hart- und Weichweizenzüchtung mit Federica Bigongiali und der neu gegründeten Stiftung Seminare il Futuro (SiF) in Italien heranwachsen.

Links: GZPK, Seminare il Futuro, p2k, Kulturpflanze


Was ist Unkraut, was Wildkraut?

Marianne Schubert / Hansjörg Palm

Sonnenauf- und -untergang am Ost- und Westhimmel, Pflan­zengesellschaften an Nord- und Südhängen, das waren legendäre Exkursionen im Naturwissenschaftlichen Studienjahr der 1980er-Jahre am Goetheanum. Nicht nur Naturwissenschaftler, Gärtnerinnen und Landwirte aus aller Welt zog das an, sondern auch Kunstschaffende wie uns. Jochen Bockemühl und Georg Maier mit ihrem Team wurden in der Art ihres Vermittelns als Naturwissenschaftler und Künstler zugleich erlebt. Insofern waren sie auch engagiert und verantwortlich für die Geländegestaltung um den Goetheanumbau. Wir studierten die Vegetation an den unterschiedlichen Standorten, die Wegeführungen als Kunstwerk und die Geländegestaltungen des ersten Baus. Als Anfang der 1990er-Jahre der Vorstand beschloss, die wild parkenden Autos direkt um den Bau durch Pflanzbeete, Lampen, Bänke und Vorplätze zu ersetzen, wurden wir gefragt, als Landschaftsarchitektin und als Bildhauer Vorschläge dafür zu erarbeiten. So kam es zu einer Zusammenarbeit mit Jochen, Georg und den Gärtnern des Goetheanumparks.

Jochen hatte schon einige Jahre zuvor einen neuen Pflanz- und Pflegestil für das Gelände entwickelt. Er wollte den Besuchern aus aller Welt das Erlebnis vermitteln, dass der ‹Dornacher Hügel› Teil der Schweizer Juralandschaft ist. Er prägte den Begriff der ‹gelenkten Pflanzengesellschaft› und verband standortgerechte Kulturpflanzen mit Wildpflanzen aus der Region zu neuen Pflan­zengemeinschaften. Von den Gärtnern am Goetheanum erfordert dies große Pflanzenkenntnisse. Ständig stellt sich die Frage: Was ist Unkraut (oder besser Kraut am falschen Standort) und muss bei den Pflegegängen entfernt werden und was sind Wildkräuter, die sich ausbreiten dürfen? So sind in einem Wildstaudenbeet die Pflanzen immer wieder neu in ihrer Wachstumsentwicklung zu lenken.

Die Staudenbeete rund um das Goetheanum sind Zeugnisse dafür. Hier wachsen auch nach über 20 Jahren noch Ziestrosen, heimische Wildrosen, Lein, Küchenschelle, Adonisröschen und Schwertlilien. Am Südaufgang ist im Frühjahr ein Blütenmeer zu bestaunen: schmalblättrige gelbe Weinbergtulpen, Steinsamen und darüber die weiß leuchtenden Blüten der Graslilie. Jochen war ein Pionier der Naturgartenbewegung. Damals gab es Wildstauden nicht in Gärtnereien zu kaufen, man musste sie in der freien Natur ausgraben, um sie am Hügel anzusiedeln. Seine Liebe zur Natur und seine tiefe Einsicht in ihre lebendigen Zusammenhänge wird uns in Erinnerung gerufen, wenn wir jedes Jahr wieder aufs Neue die Blütenpracht der Natur auf dem Gelände um das Goetheanum bewundern.


Auf paulinischem Weg

Jan Albert Rispens

Jochen Bockemühl ist vor allem bekannt geworden durch seine goetheanistische Forschung. Viel weniger kennt man seine pädagogisch-didaktische Lebensleistung. Forschung und Lehre sind die Säulen der modernen Wissenschaft und in dem Sinne auch das kulturschaffende Fundament der von Rudolf Steiner gegründeten Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, die das pulsierende Herz der anthroposophischen Bewegung bildet.

Jochen hat durch seine Kurse unzähligen Menschen ‹das Handwerk› der goetheanistisch-naturwissenschaftlichen Arbeitsweise, aber vor allem ‹die Liebe zur Sinneswahrnehmung› beigebracht. Wer in den 80er- und 90er-Jahren das Glück hatte, an einem von Jochen Bockemühl und Georg Maier geleiteten Naturwissenschaftlichen Studienjahr am Goetheanum teilnehmen zu können, wurde befähigt, ein vollständig neues wissenschaftliches Verhältnis zur Natur zu entwickeln. Das entscheidend ‹Neue› an dem ‹im Glashaus› gepflegten Ansatz kann als Ernstnehmen der Phänomene bezeichnet werden. Ein gesteigertes Interesse für das sinnlich Wahrgenommene – das längere Verweilen bei ihm – macht auf die Erlebnisqualitäten aufmerksam und führt so in die Tiefen der eigenen Seele. Dabei lernt man allmählich zu unterscheiden, was vom ‹Gegenüber› kommt und was von den eigenen Vorlieben oder Abneigungen in dieses Gegenüber getragen wird. Das führt zu einer Selbstlosigkeit, zu einer seelischen Katharsis. Die – natürlich weiter entwicklungsfähige – Klarheit und Transparenz der sinnlich erlebten Erscheinung zeigt so immer deutlicher die Innenseite der Welt und bildet in dieser neuen Qualität den Ausgangspunkt meines individuellen, freien und verantwortungsbewussten Handelns, die sprudelnde Quelle zukunftsweisender menschlicher Kultur. Der von Jochen Bockemühl und Georg Maier gepflegte und gelebte Umgang mit der Sinneswelt im Studienjahr führt zur Überwindung von ‹Maya› und kann als ‹paulinischer Schulungsweg› charakterisiert werden. Paulus weist darauf hin, dass die Sinneswelt durch den Sündenfall des Menschen erst ‹Maya› geworden ist und er den Auftrag auf sich genommen hat, diese in einer weiterführenden Art wieder ‹rückgängig› zu machen. Diese Seite des Goetheanismus wird vielleicht auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung noch zu wenig gesehen. Es war das Herzensanliegen Jochen Bockemühls – und zugleich Quelle unendlichen persönlichen Leides –, den Goethe’schen naturwissenschaftlichen Ansatz ‹unter die Menschen› zu bringen und – als ‹Januskopf› der anthroposophischen Geisteswissenschaft – zur tragenden Säule der Freien Hochschule zu entwickeln. Seine Anregungen sind wertvolle Perlen, auf diesem Weg kraftvoll weitermachen zu können.

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare